- Lexikon
- Kunst
- 2 Kunstgeschichte
- 2.5 Das 19. Jahrhundert
- 2.5.3 Malerei
- Schiffbruch: Ein Bildvergleich
Die Marinemalerei hatte sich besonders in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhundert entwickelt, als die Handelsschifffahrt der jungen Republik blühte und das Land sich zu einer bedeutenden Seemacht entwickelt hatte. Schon damals zeigten die Bilder ganz unterschiedliche Motive,
mitunter verbunden mit Anspielungen auf den Themenkreis der „navigatio vitae“ (lat.=Lebensreise) mit ihren Gefahren. Dieses Existenzielle interessierte den französischen Maler THÉODORE GÉRICAULT (1791–1814) ebenso wie den Deutschen CASPAR DAVID FRIEDRICH (1774–1840).
GÉRICAULTS Gemälde „Das Floß der Medusa“ bezieht sich auf einen tatsächlichen Schiffbruch und seine Folgen. Er hatte sich wenige Jahre zuvor auf dem Antlantik nahe der afrikanischen Küste zugetragen.
Der historische Fakt: Am 17. Juni 1816 legten vier französische Regierungsschiffe von ihrem Hafen im Mittelmeer ab und segelten Richtung Senegal, die dortige Kolonie zu besiedeln, um die Frankreich sich mit England stritt. Eins der Schiffe war die Fregatte „Meduse“, ein anderes die Brigg „Argus“. An Bord waren insgesamt rund 550 Personen, ein bunt zusammengewürfelter Haufen, auch einige Frauen. Bei schönstem Wetter querte man den Wendekreis des Krebses und feierte das tüchtig. Der Kapitän der „Meduse“ übergab das Kommando einem unerfahrenen Offizier, und der setzte das Schiff am 2. Juli, um drei Uhr nachmittags, in der Bucht von Arguin auf Grund: „L’effroi est sur toute les figures“, wie zwei Augenzeugen, der Schiffsingenieur und ein Arzt, später berichteten: Entsetzen auf allen Gesichtern.
Der mitgereiste Gouverneur setzte sich zusammen mit Frau, Tochter und Offizieren vom sinkenden Schiff in einer großen Schaluppe mit 42 Personen zuerst ab. Anschließend ließ der Kapitän pflichtvergessen Schiff und Passagiere im Stich (darauf stand die Todesstrafe), zusammen mit 27 Matrosen. Der Rest wurde auf vier Rettungsboote verteilt. 150 flüchteten sich auf ein rasch zusammengezimmertes Floß. 17 blieben auf dem Schiff.
Die Boote sollten das Floß zur etwa ein Dutzend Meilen entfernten Küste schleppen. Aber man hielt nicht Wort und kappte die Taue. Einsetzende Ebbe trieb das Floß auf die offene See. In der Nacht kam Sturm auf.
150 Menschen auf dem Floß, alle bis zu den Hüften im Wasser, von hohen Wellen bedroht, von Haien umkreist. Nichts zu essen, nichts zu trinken, nur ein Fass mit Wein. Unbeschreibliches spielte sich ab in den folgenden Tagen. Man ging mit Säbeln und Messern aufeinander los. Die beiden Augenzeugen berichteten sogar von Kannibalismus:
„Die Unglücklichen, die der Tod noch verschont hatte, stürzten sich auf die Leichen, mit denen das Floß bedeckt war, schnitten sie in Stücke, und einige verschlangen sie im selben Augenblick.“
Nach 15 fürchterlichen Tagen und Nächen, am 17. Juli, rettete die „Argus“ die Schiffbrüchigen, es lebten nur noch 15. Vier von ihnen starben in den folgenden Tagen.
Anfang 1817 wurde der Kapitän von einem Marinegericht in geheimer Verhandlung degradiert und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt – eine äußerst milde Strafe. Über Prozess und Urteil durfte nicht berichtet werden.
Im November 1817 aber kam in Paris das Buch der beiden Augenzeugen: ALEXANDRE CORRÉARD (Schiffsingenieur) und J.B. HENRI SAVIGNY (Arzt) heraus: „Naufrage de la frégate la Méduse, faisant partie de l’expedition du Sénégal en 1816“, Paris (dt. Berlin 2005: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa. Ein dokumentarischer Bericht).
Für die Zeitgenossen war diese Katastrophe ein anschauliches Beispiel für die Inkompetenz und Korruptheit der nach dem Sturz NAPOLEONs seit 1814 in Frankreich mit LUDWIG XVIII. wieder regierenden Bourbonen. Die Autoren des Berichts wurden aus ihren Ämtern entfernt.
Stoff: Aber der Stoff elektrisierte den ehrgeizigen jungen THÉODORE GÉRICAULT. Drei Jahre, von 1817–1819, beschäftigte er sich intensiv mit dem Thema, interviewte Überlebende und porträtierte sie, machte zahllose Skizzen, ließ sich sogar ein Modell des Floßes zimmern und erprobte es an der Nordsee, studierte in der Morgue (Leichenschauhaus) und in Krankenhäusern, skizzierte in seinem Atelier nach Leichenteilen. Er überlegte lange, welche Szene er malen könnte, dachte etwa an eine Darstellung der Meuterei und des Kannibalismus auf dem Floß und wählte als fruchtbaren Augenblick schließlich denjenigen Moment, in dem die den Naturgewalten hilflos Ausgesetzten von einer letzten Welle von Hoffnung erfasst werden: Fern am Horizont und winzig verheißt die herbeisegelnde „Argus“ Rettung.
Das Bild: Unter einem düsteren Himmel (in Wirklichkeit war er an diesem Tag strahlend blau) treibt schräg und auf den Wellen schwankend das Floß. Es war ca. 20 Meter lang und 8,50 breit, auf dem Bild erscheint es kleiner. Auf seinen Balken die Hoffnungslosen, die Sterbenden, die Toten, die Verzweifelten, aber auch die von neuer Zuversicht Erfüllten – eine spannungsgeladene Skala extremer psychischer und physischer Befindlichkeiten.
Mit dem kunstvollen Mittel eines strengen Aufbaus ist der Eindruck eines chaotischen Desasters erzeugt. Nackte und Bekleidete sind in die von den Floßkanten gerahmten Diagonalen in teils gleichgerichteten, teils sich kreuzenden Schiebungen eingefügt. Dabei ist diejenige Figurenkette hervorgehoben, die sich als dynamisch steigende Diagonale von unten links nach oben rechts zu einer grandiosen pyramidalen Gruppe türmt und in der Gestalt des das Tuch schwenkenden Farbigen zu einem Finale aufgipfelt. Die seitlichen Floßkanten gehen unten von der Bildmitte aus und bilden eine Spitze, auf der die geschickt verschränkte Komposition höchst unsicher steht.
Ein sickerndes Licht flackert unruhig über der Szene, heftige Hell-Dunkel-Kontraste rhythmisieren das Ganze und vermitteln höchste Erregung und Dramatik.
Den düsteren Grundton von Hoffnungslosigkeit einerseits und die helle Zuversicht auf Rettung andererseits illustrieren auch die Farben: bräunliche, graue und grünliche Töne für die Verzagtheit, gelbliche und rötliche wie ein Lichtblick.
Das Gemälde ist ein gewaltiges Querformat von fast fünf Metern Höhe und über sieben Metern Breite, rund 36 Quadratmeter. Als GÉRICAULT es im Salon ausstellte, durfte er das nur unter dem neutralen Titel „Schiffbruchszene“ tun. Aber es kam in Paris weder beim Publikum, noch bei der Kritik an. Zu wenig heroisch, historisch zu wenig bedeutsam und darum nicht kunstwürdig war den Schaulustigen, die natürlich Bescheid wussten, diese Darstellung eines Ereignisses aus dem aktuellen Zeitgeschehen – zu sehr erschien ihnen das Bild als bloße Reportage und leere Effekthascherei. Überdies waren nur lauter Namenlose zu sehen, keine Helden.
Besonnenere Betrachter sahen hier allerdings mehr als nur Sensationsmache. Der Schriftsteller LOUIS BATISSIER verstand das Gemälde als Allegorie auf die Zustände in Frankreich: „Der Streit um das ohnmächtige Vaterland, die Verwirrung der steuerlosen Generation.“ (1824). Ähnlich der Historiker JULES MICHELET (1798–1874): „Frankreich, ja unsere ganze Gesellschaft hat er auf diesem Floß der Medusa dargestellt.“ (Histoire de France, 17 Bde, 1833–1867)
Vom Misserfolg enttäuscht, wandte sich der Künstler nach England, zeigte das Bild dort in mehreren Städten gegen Eintritt und fand regen Zulauf. Reproduktionsstiche nach dem Gemälde wurden reißend abgesetzt. Nach zwei Jahren kehrte GÉRICAULT nach Frankreich zurück. Hier starb er schon 1824 an den Folgen eines Reitunfalls.
Auch CASPAR DAVID FRIEDRICHs „Eismeer“ von 1824 zeigt ein Schiffsunglück, wenn auch, im Vergleich mit GÉRICAULT, in bescheidenerem Format: 96,7 x 126,9 cm – allerdings gehört es zu FRIEDRICHs größten Gemälden. Auf den ersten Blick erscheint es mit seiner pyramidalen Komposition aus sich übereinander schiebenden Eisschollen wie eine spiegelbildliche Darstellung von GÉRICAULTs „Floß der Medusa“ im Winter.
Aber FRIEDRICHs Gemälde ist kein Bildbericht über eine tatsächliche Katastrophe, sondern reine Imagination. Auch zeigt es keine momentane Handlung, sondern einen erstarrten Zustand, das Scheitern eines Segelschiffs, das im Polareis festgefroren ist. Abgebrochene Masten und Rahen zeigen die zermalmende Macht des Eises. Von der Besatzung ist keine Seele zu sehen – sind alle bereits umgekommen? Jedenfalls gibt es hier keine Aussicht auf Rettung, es herrscht Erstarrung in Hoffnungslosigkeit.
Bildaufbau: Treppenartig getürmte Schollen im Vordergrund führen wie auf breiten Steinstufen in die Bildmitte hinauf, wo gewaltige scharfzackig zum Himmel zeigende Eisblöcke das Schiff unter sich begraben haben. Die spiralförmige Sehbewegung von unten nach oben wird von den beiden keilförmig pfeilenden Eisbrocken unten in der Bildmitte in Gang gesetzt. Sie mündet oben in die nach links geneigten und den Horizont überragenden Eisspitzen. In dieser Zone, dem ganz Nahen, auf das wir hinabblicken, und dem Mittelgrund, zu dem wir hinaufschauen, herrschen bräunlich-grüne und ockrige, also erdige Töne – wir scheinen noch in einer nahen, einer bekannten Welt.
Jenseits aber, im Hintergrund, setzt sich die Polarwüste ins Unendliche fort. Einzelne spitze Felsen stehen auf dieser eisigen Ebene, die flach geduckt unter einem von leichtem Gewölk überzogenem Himmel liegt. Diese Zone wird beherrscht von einem eisgrauen Blau. Am oberen Bildrand ein helleres Fleckchen Blau – doch ein Hoffnungsschimmer? Von hier kommt das Gegenlicht, das die Szene überspült und mit seinen heftigen Hell-Dunkel-Gegensätzen die gefährlich scharfen Kanten der Eisschollen sichtbar macht.
Gleichnishaftigkeit: Die Inspiration zu dieser Darstellung kam FRIEDRICH wohl beim Anblick des Eisgangs auf der Elbe bei Dresden im Winter 1820/21 (hier lebte der Künstler seit 1798) und aus einigen unspezifischen Berichten über gescheiterte Polarexpeditionen. Diese Seh- und Leseerfahrungen deutete er ins Gleichnishafte um. Bezeichnenderweise führte das Bild eine Zeit lang den Titel „Die gescheiterte Hoffnung“, denn man nahm an, das sei der Name des Schiffs. Damit ging man auf die offensichtliche Intention des Malers ein, ein realistisches Motiv symbolisch zu vertiefen und zum Gleichnis für die Existenz des Menschen in einer von allem Leben verlassenen Natur zu machen.
Gleichnishaftigkeit ist das besondere Charakteristikum der Gemälde des 1774 in Greifswald geborenen und in Kopenhagen ausgebildeten Künstlers. Er sah in der Welt etwas anderes als nur das, was obenauf sichtbar ist. Er sah die Natur nicht als ein Ensemble interessanter Bildmotive, sondern als ein großes Panorama und auch Drama, dessen sinnvollen Zusammenhang der Künstler zu sehen, zu begreifen und im Bild zur Anschauung zu bringen hatte.
Sein Anspruch war:
„Ich fordere vom Maler Erhebung des Geistes und wenn auch nicht allein und ausschließlich religiösen Aufschwung. Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch das, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“
Um das aber darstellen zu können, musste FRIEDRICH die Regeln der traditionellen Landschaftsmalerei ignorieren und seine Bilder ganz anders organisieren. Zwar ging er von genauester Naturbeobachtung aus, doch überführte er diese Beobachtungen in eine seltsame Irrealität:
Zwar fand FRIEDRICH eine Reihe von Bewunderern, aber allgemein geachtet wurde er nicht – das Los des avantgardistischen Künstlers der Moderne. Zwar erhielt er eine (schlecht bezahlte) Professur an der Dresdner Kunstakademie, trotzdem lebte und starb er in Armut. Nach seinem Tod, 1840 in Dresden, geriet er in völlige Vergessenheit. Erst am Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der abstrakten Malerei, wurde er wiederentdeckt.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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