- Lexikon
- Kunst
- 3 Malerei
- 3.3 Grundlagen der Gestaltung
- 3.3.1 Die Form
- Linienformen und ihre Wirkung
Die Linie erfüllt in der Malerei verschiedene Funktionen. Mit ihr kann man Formen kennzeichnen und so Objekte definieren. Sie kann als eigenständiges Element in einem Bild erscheinen, aber auch als Form für einen bestimmten Gegenstand selbst stehen (z.B. einen Pfahl, Speiche, Sonnenstrahl). Ebenso ist es möglich, dass sie die Umrissform einer Fläche, eines Körpers oder eines Raumes kennzeichnet. Durch den Hell-Dunkel-Kontrast zwischen Objekt und Hintergrund kann eine linienhafte Kontur (Umriss) erscheinen.
Linienhafte Kontur durch Hell-Dunkel-Kontrast:RAFFAEL: Porträt einer Dame („Die Stumme“);1507, Öl auf Holz, 64 × 48 cm;Urbino, Galleria Nazionale delle Marche.
Mit dem Umriss wird ein Gegenstand gezeichnet, wobei die Umrisslinie den Gegenstand gegen die Umgebung (Fläche) abgrenzt.
Linien kennzeichnen Umrissformen:AUGUST MACKE: „Marienkirche mit Häusern und Schornstein“;1911, Öl auf Leinwand; Bonn, Kunstmuseum.
Zu Lebzeiten DÜRERs (1471–1528) bereits wurden Zeichner, die in den Werkstätten der Künstler Entwürfe zeichneten (die Umrisse) Reißer genannt. Dieser Wortstamm findet sich heute noch in den Begriffen Reißbrett, Reißzeug, Reißnadel.
Viele feine, kurze Linien, Striche genannt, die dicht beieinander stehen, können die Oberflächenbeschaffenheit eines Körpers oder eine Struktur widerspiegeln.
Mit Linien lassen sich Bewegungen, Richtungen und Geschwindigkeiten darstellen. Linien, die Flächen dekorativ gliedern, drücken eine schmückende, ornamentale Funktion aus.
Dekorativ wirkende Linien:GUSTAV KLIMT: „Die Jungfrau“;1912–1913, Öl auf Leinwand, 190 × 200 cm;Prag, Národni Galerie.
Die Linie, ein Punkt in mehr oder weniger bewusster, gezielter Bewegung, birgt also vielfältige Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten. Das Aufbringen von Punkten bzw. Linien auf Papier lässt immer Flächen, Hell-Dunkel-Differenzierung, Schraffuren, Strukturen durch Verdichtung und Streuung entstehen.
In der Op-Art, einer seit Ende der 1950er-Jahre bekannten Kunstrichtung, die vor allem optische Täuschungen des menschlichen Auges erreichen will, werden mittels Überlagerungen von Linien charakteristische Effekte erzeugt.
WASSILY KANDINSKY (1866–1944) unterrichtet von 1922 bis 1933 am Bauhaus. Die Lehrtätigkeit zwang ihn, sich theoretisch mit den Grundlagen der Malerei zu beschäftigen. Die moderne Malerei hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Linie von der Dynamik ihrer Hervorbringung nicht zu trennen ist.
KANDINSKY und KLEE begreifen die Linie als dynamischen Punkt, der aus sich heraustritt. „Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis“, sagte KANDINSKY in Punkt und Linie zur Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente (1926).
PAUL KLEE (1879–1940) beschreibt das Zeichnen und Malen als Reise des dynamischen Punktes:
„Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüber treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien).
Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).
Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes. Ganz kühl bin ich auch nicht mehr; über neuer Flußgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer. Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat). Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll.“
PAUL KLEE (1920), zitiert nach WERNER HOFMANN,
„Die Grundlagen der modernen Kunst“, S. 419 f.
In dem 1926 veröffentlichten Buch „Punkt und Linie zur Fläche“ und in der früheren Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst“ legte KANDINSKY Gedanken zur Wechselwirkungen der Form und den musikalischen und emotionalen Entsprechungen der Farben in der Malerei dar.
Linien können:
Primärform (Grundform) | Sekundärform (Zweitform) |
gerade | stumpfwinklig |
gebogen | spitzbogig |
spitzwinklig | flachbogig |
Weitere Kombinationen ergeben sich durch Addition und Variation, so dass komplexere Formen entstehen können.
Aus den Formen der Natur lassen sich sowohl organische als auch freie Linienformen herleiten.
Freie Linienformen
Schon einfachste Linien rufen bei ihrer Betrachtung unterschiedliche Wirkungen hervor, die aus Stimmungen und Gefühlen und aus menschlichen Raumerfahrungen resultieren.
Grundform | Charakteristik | Grundform | Charakteristik |
senkrecht (vertikal) | stehend, fest, stabil | waagerecht (horizontal) | liegend, ruhig, statisch |
schräg | unruhig, dynamisch, richtung- weisend | diagonal | aufsteigend, fallend |
rund, gebogen | aufnehmend, offen bzw. beschützend, geschlossen | rechtwinklig | konstruktiv, exakt |
winklig | technisch, konstruiert | organisch, frei | natürlich, lebendig |
wellenförmig | bewegt, unruhig | dünn | zart |
breit | fest, hart, stabil | auslaufend | lebendig, unruhig |
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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