Kunst des 19. Jahrhundert

Ursachen für das „entzweite Jahrhundert“

Im Gegensatz zur Kunst der vorangehenden Epochen mit ihrer relativen Einheitlichkeit über längere Zeit hin, ist die Kunst des 19. Jahrhunderts widersprüchlich, schnelllebig und vielgestaltig wie nie zuvor. Das ist Folge der Aufklärung, der Französischen Revolution, der Entmachtung von Königen, Fürsten, Adel, Klerus, des Anspruchs jedes Einzelnen auf Bürger- und Menschenrechte, auf Freiheit. Es ist Folge von Einsichten, Erfindungen, Verfahrensweisen in der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, der Geistesgeschichte, im Sozialen, wie es sie in solcher Fülle nie gegeben hat.

Erfindungskraft in Wissenschaft und Kunst

Das 19. Jahrhundert entwickelte allein auf technischem Gebiet eine nie dagewesene Dynamik: Die natürlichen und animalischen Antriebskräfte werden ersetzt durch die Dampfmaschine. In der Wirtschaft vollzieht sich der Übergang von der einfachen Warenproduktion in der Manufaktur zur Massenproduktion in Fabriken (Kapitalismus). Die meisten technischen Erfindungen dienten der Beschleunigung

  • von Reise und Transport (Eisenbahn, Dampfschiff, Straßen- und Untergrundbahn, Automobil, Flugzeug – aber auch Fahrrad),
  • der Nachrichtenübermittlung (Telegrafie, Telefon) und
  • der Bildherstellung (Fotografie und Film).

Mutig wagte man im Bau Neuerungen, wie

  • den Bau von Wolkenkratzern,
  • den Bau von Brücken mit enormen Spannbreiten oder
  • die stützenlose Überwölbung riesiger Hallen.

Die Erkenntnisse, das Wissen in den verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen wachsen enorm, sodass die zahlreich gedruckten Wissensspeicher, die Conversations-Lexika die Masse der Fakten kaum noch erfassen können.

Eine ähnliche Erfindungskraft und ähnliche Beschleunigungen wie in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zeigen sich auch in den Künsten. In den Jahren vor Ausbruch der Französischen Revolution ging es vor allem um die Abgrenzung gegenüber Barock und Rokoko, also um die Unterscheidung von höfisch-adliger Propagandakunst. Diese Tendenz wird vom bürgerlichen Publikum unterstützt.

In den anschließenden Jahrzehnten und bis um 1900 arbeiten z.B. die Maler zunehmend daran, eine persönliche Weltsicht und -auslegung zu erarbeiten und zu demonstrieren. Am Ende, also um 1900, steht das Publikum den Neues zeigenden Künstlern jedoch überwiegend verständnislos gegenüber.

Die Balance zwischen Bedürfnis nach Fortschritt und dem nach Aufhalten der stürmischen Entwicklung ist prekär und hat eine eigene Dynamik.

Kunstausstellungen – Ersatz für traditionelle Auftraggeber

Mit der Entmachtung von Adel und Klerus verloren die Künstler traditionelle Auftraggeber. Sie fanden Ersatz in den jetzt wichtiger werdenden regelmäßigen Kunstausstellungen. Diese waren für die Künstler unverzichtbar, denn allein sie boten die Chance zum Erfolg, zu öffentlicher Anerkennung, Verkauf, Auftrag und Ruhm.

Das Kunstwerk wurde zur Ware auf dem freien Markt, der von Angebot und Nachfrage, von Gefallen und Nichtgefallen reguliert wurde – also von unberechenbaren Kriterien.

Die ersten Kunstausstellungen fanden in Paris bereits im 17. Jahrhundert statt und wurden von den Königlichen Kunstakademien organisiert. Es waren aber auch Atelierausstellungen üblich. Kunstgalerien, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit dem späten 19. Jahrhundert.

Die Kunstwerke wurden immer individueller und subjektiver. Dem konnte das Publikum oft nicht mehr folgen. Es spaltete sich in die Anhänger der offiziellen (akademischen) Kunst und die Avantgardisten. Aus dieser Differenz entstanden die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts so typischen Kunstskandale.

So wurden die Impressionisten als „wild gewordene Kleckser“ beschimpft. Ein Skandal ging besonders in die Geschichte ein: Das Gemälde „L'absinthe“ von DEGAS. Dieses Bild, 1876 fertig gestellt, zeigt einen Mann und eine Frau in einem Café mit einer Karaffe und Gläsern Absinth. Ihre Augen sind glasig, ihre Gesichter geistesabwesend.

EDGAR DEGAS „L'absinthe“, 1876

EDGAR DEGAS „L'absinthe“, 1876

Kunst des 19. Jahrhunderts - L'absinthe

Auf der Ausstellung 1893 in Grafton-Gallery in London rief das Bild heftige Diskussionen hervor und führte zur Verschlechterung der englisch-französischen diplomatischen Beziehungen. DEGAS wurde mit Salonverbot bestraft und stellte seine Werke ebenso wie MANET in den Pariser Cafés aus. Dieser und ähnliche Skandale hatten aber auch ein Gutes, sie verhalfen den Malern und ihrer impressionistischen Bewegung zu hoher Popularität.

Parallel zu den Ausstellungen entwickelte sich eine professionelle Kunstkritik. Sie setzte öffentliche Debatten in Gang, die auf die Entwicklung der Kunst zurückwirkten und sie antrieben.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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