Der röhrende Hirsch

Quergestellt im Gras, Gebirge, Wasser oder Wald, Hauchfahne vorm Maul – fast immer werden die röhrenden Hirsche auf diese einfache Weise in Seitenansicht dargestellt.

Diese Bilder fanden massenhafte Verbreitung, nicht nur als Gemälde, sondern auch als Holzschnitte oder Kupferstiche, als Holzstich-Illustrationen von Jagdgeschichten (zum Beispiel in der viel gelesenen Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“, die von 1853–1943 erschien) oder als Farbreproduktionen. Ebenso findet man sie als Dekoration auf Gläsern, Bechern, Näpfen, Tassen, Krawatten, Manschettenknöpfen usw. Noch bis in die 1960er-Jahre hinein stieß man auf sie in den Kaufhäusern, hergestellt in Fließbandarbeit auch als Porzellanfiguren und von Malmanufakturen und darum billig. Die Bilder waren meist schmissig signiert und damit scheinbar künstlerisch wertvoll.

Doch seither trifft man sie nur noch auf dem Flohmarkt, beim Trödler, in der Rumpelkammer oder auf dem Dachboden – sie sind aus der Mode.

Woher rührte die Beliebtheit für dieses Motiv?

Wie kann man sich die einstige Beliebtheit und das zähe Leben dieses Bildmotivs erklären? Auf den ersten Blick zeigt es doch etwas ganz Natürliches, das ungebundene Leben der Hirsche in der freien Landschaft. So bieten sie einfache Gegenbilder zum Leben in den großen Städten, zur alltäglichen Arbeit in den Kontoren und Fabriken.

Aber es tritt noch etwas hinzu:
Die röhrenden Hirsche wurden zu Lieblingsbildern, weil es sich um Liebesbilder handelt. Denn die Hirsche röhren nur im Herbst, in der Paarungszeit.

So steht es in „Grzimeks Tierleben“:

„Der männliche Hirsch sucht die Weibchen auf; umgekehrt ziehen die Weibchen zu den Plätzen, die ein starker männlicher Hirsch besetzt hat. Ein solcher ‚Platzhirsch‘ gibt sich durch seinen Brunftschrei zu erkennen und zeigt sich nun keineswegs mehr weiberfeindlich. Von diesem laut brummenden Schrei des Platzhirsches ist übrigens der Jägerausdruck ‚Brunft‘ abgeleitet, mit dem man beim Rotwild die Paarungszeit und Paarungsbereitschaft bezeichnet.“

Also zeigen die Bilder mit den röhrenden Hirschen Momente aus dem Tierleben, in denen es um die Vorbereitung zur Artvermehrung geht, kurz gesagt, um das Vorspiel zum Liebesakt und also um Sexualität.

Zwar wird der Akt selbst nicht gezeigt, aber er wird poetisch umschrieben. Man kann das den vielen Geschichten entnehmen, welche die Jäger erzählen. In ihnen wird geradezu hemmungslos geschwärmt von der Liebeslust der Hirsche.

So malte der populäre Schriftsteller LUDWIG GANGHOFER (1855–1920) in der „Gartenlaube“ von 1888 den Auftritt eines Hirsches:

„Und da kam er nun – durch einen tiefen Groner [lautmalerisch für Brunftschrei] meldete er sich an, kreischend schwirrte ein Tannenhäher aus den Lärchenwipfeln, Aeste knackten – jetzt sahen wir ihn zwischen den untersten Bäumen stehen, vom dunklen Abendschatten des Waldes überschleiert – eine kurze Weile zögerte er noch, dann zog er majestätischen Ganges einem vorspringenden Grashügel zu. In scharfen Umrissen hob sich sein wuchtiger Körper mit dem herrlichen Kronengeweih vom fahl gelben Himmel ab. Langsam streckte er seinen Grind [Jägerausdruck für Kopf], daß der Hals sich blähte, und während ihm der heiße Atem von Aeser [Maul] rauchte, hallte sein dumpfer, langgezogener Orgelton in die Lüfte.“

Das ist von GANGHOFER so eingängig beschrieben, wie die Bilder gemalt sind. Doch oft, wenn es um das Liebesleben geht, haben solche Beschreibungen einen unbewussten doppelten Boden, eben Sexualität.

Der Begründer der Psychoanalyse, SIGMUND FREUD (1856–1939), hat das in seiner Traumdeutung (1900) aufgedeckt. Er stellt dort fest,

„daß sich die sexuelle Symbolik hinter dem Alltäglichen und Unauffälligen als seinem besten Versteck verbergen kann.“

Liest man GANGHOFERs Text aus dieser Perspektive, dann entschlüsseln sich seine Sprachbilder als eindeutig sexuelle: Der vorspringende Grashügel wird dann zum behaarten Venushügel, der langsam vorgestreckte Kopf mit dem sich blähenden Hals deutet die Erektion an und der vom Aeser rauchende heiße Atem ist die Beschreibung von Orgasmus und Ejakulation.

Betrachtet man aus dieser Einsicht heraus die Bilder mit den röhrenden Hirschen und macht sich die Mühe, mit einem Bleistift die Konturen des Tieres nachzuziehen, dann kommt man zu einem eindeutigen Bild: Der länglich-runde Leib, hinten auf kräftigen Keulen, der dickliche Schwellkörper des Halses und das heiße Ejakulat vorne raus als Atemhauch – der Hirsch als Ganzes bietet das Bild eines eregierten Penisses.

Zu diesem grob Sexuellen treten aber noch zwei weitere Bedeutungen hinzu: Diese Bilder sind Verherrlichungen des Mannes und seiner sowohl gesellschaftlichen wie familiären Vorherrschaft über die Frau. Und sie illustrieren den im Kapitalismus herrschenden Konkurrenzkampf in Produktion und Verkauf.

Verherrlichung des Mannes und Konkurrenzkampf

Dazu zwei Belege: CHARLES DARWIN (1809–1882) schreibt in seinem Buch über „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (1859) unter anderem:

„... und wenn er [der Mensch] noch höher schreiten soll, so muß er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben. Im andern Falle würde er in Indolenz [Gleichgültigkeit] versinken und die höher begabten Menschen würden im Kampfe um das Leben nicht erfolgreicher sein als die weniger begabten. ... Es muss für alle Menschen offene Concurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch die Gesetze und Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben.“

1886 lieferte LUDWIG PIETSCH die Beschreibung und Interpretation eines Bildes des Tiermalers CHRISTIAN KRÖNER (1838–1911): „Besiegt. Motiv vom Brocken“:

„Auch in des edlen Hirsches Brust, so gut wie in der des Menschen, kann aus heißer Liebe glühender Hass geboren werden; der tödtliche, erbarmungslose Hass auf Jeden, welcher sich dieser Liebe entgegenstellt, auf jeden Mitbewerber um die Gunst und den Besitz ihres Gegenstandes. Nur scheint dieser aus der Liebe erwachsene Hass, d. h. die Eifersucht, bei den Hirschen ausschließlich im Herzen der männlichen Thiere seinen Nährboden zu finden. Vielleicht freilich nehmen wir das nur irrthümlicher Weise an; vielleicht kann unser Blick die Aeußerungen dieser Leidenschaft nur bei den Männchen erkennen, und verborgen bleibt ihm, was sich im zarteren Busen der frommen Hirschkuh vollzieht. Jene aber lassen uns keinen Zweifel darüber, wie stark, wild und ungebändigt in ihnen des Hasses Kraft ist. Die Natur hat ihnen eine furchtbare Waffe zwar nicht in die Hand gegeben, so doch aufs Haupt gesetzt, deren sie sich mit so tödtlicher Gewalt zu bedienen wissen, um jenem Hass Genüge zu thun. KRÖNER’s prächtiges Bild schildert den Ausgang einer solchen Tragödie aus dem Hirschleben, der Eifersucht auf einen Nebenbuhler, mit unübertrefflicher Kunst und voller Gewalt der Wahrheit des Ausdrucks. Zu den Füssen des Siegers, welcher ihn mit den Zacken seines Geweihs durchbohrt hat, liegt auf blutüberströmtem Waldboden der überwundene Gegner. Jener aber, das Haupt weit vorstreckend, lässt einen Schrei erschallen, der wie eine Fanfare des Triumphes weit über die Haide hinschmettert. Die Hindinnen und die anderen Thiere des Rudels vernehmen ihn, und halb scheu, halb neugierig lauschen sie dem Ton und blicken auf den Kampfplatz, auf den Sieger und den verendenden Besiegten. Dem Starken aber sind die Schönen hold und das etwaige Mitleid mit dem Getödteten wird rasch genug der Zärtlichkeit für den Mörder weichen.“

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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