- Lexikon
- Geschichte
- 9 Aufstieg und Untergang des preußisch-deutschen Kaiserreichs
- 9.2 Die Gründung des Deutschen Reiches
- 9.2.4 Außenpolitik Bismarcks Bündnissystem
- Ursachen des Scheiterns der deutschen Bündnisstrategie
Nach 1871 hatte sich die europäische Politik trotz der mitteleuropäischen Nationalstaatsgründungen im Wesentlichen nicht geändert. Es gab eine führende Staatengruppe von fünf, mit Italien sechs, großen Mächten. Jedoch hatten sich die Gewichte innerhalb dieser Gruppe verschoben. Frankreich verlor die führende Rolle, die es zwischen 1856 und 1866 gespielt hatte, war aber weiterhin ein bedeutender Faktor für die kontinentale Politik. Russland begann, sich wieder Europa zuzuwenden und damit insbesondere dem Balkan. Österreich-Ungarn musste sich mit der veränderten Situation in Mitteleuropa abfinden und verlagerte seine Aktivitäten auf den Balkanraum.
Das Deutsche Reich brauchte ein Jahrzehnt, um von den anderen europäischen Mächten akzeptiert zu werden und deren Misstrauen abzubauen. Großbritannien war mehr denn je an einem Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent interessiert.
Bündnisverträge zwischen einzelnen Staaten sollten nach 1871 in einem verwickelten System politisches und militärisches Gleichgewicht herstellen, um Kriege zu vermeiden. BISMARCK brachte dies auf eine gleichsam mathematische Formel: Solange dieses unsichere Mächtegleichgewicht bestehe, gelte die Regel, dass man immer versuchen müsse, einer von drei Partnern gegenüber den zwei anderen zu sein. Wichtigstes Ziel bei allen Bündnisüberlegungen war für BISMARCK die politsche und militärische Isolierung Frankreichs.
Der dritte russisch-türkische Krieg auf dem Balkan endete mit einem totalen russischen Sieg bei San Stefano im März 1878. Auf einer europäischen Konferenz sollte der Versuch unternommen werden, den entstandenen Konflikt zwischen den europäischen Flügelmächten Russland und England sowie den kontinentalen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Russland durch einen Interessensausgleich zu verhindern. Konferenzort sollte Berlin sein.
Dies war die Chance für die deutsche Regierung, sich endgültig vom Verdacht des Friedensstörers zu befreien. Da das Deutsche Reich keine direkten Interessen auf dem Balkan hatte, bot der Berliner Kongress 1878 BISMARCK die Möglichkeit, als Vermittler zwischen den Mächten aufzutreten. Der Kongress wurde ein voller Erfolg für die Politik BISMARCKS. Er schuf von sich das Bild eines „ehrlichen Maklers“, der auf gerechten Ausgleich der unterschiedlichen Interessen bedacht war. Dadurch konnte er das noch vorhandene Misstrauen bei den anderen europäischen Mächten gegenüber dem jungen deutschen Nationalstaat zerstreuen.
Die Ergebnisse des Berliner Kongresses waren Ausgangspunkt für die weiteren politischen Entwicklungen. Als Folge der Entscheidungen von Berlin entstanden nun Bündnisse und Bündnissysteme, die traditionelle gleichgewichtspolitische Ziele verfolgten. Ideologische Elemente spielten hierbei keine Rolle. Hauptakteur bei den Bündnisabschlüssen war das Deutsche Reich.
In den folgenden Jahren schuf BISMARCK ein Bündnissystem, das das Zentrum der europäischen Mächteordnung bildete. Im Mittelpunkt stand der am 7. Oktober 1879 abgeschlossene Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn, der Zweibund. Um ihn gruppierten sich der Drei-Kaiser-Vertrag vom 18. Juni 1881 zwischen Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn sowie der 1882 geschlossene Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland.
Zu Beginn der 80er-Jahre hatte dieses System der Bündnisse seinen Höhepunkt erreicht. Es war Ausdrucksweise einer in den traditionellen Vorstellungen des 19. Jh. denkenden Diplomatie, die auf Ausgleich der Mächteverhältnisse zielte. Europa wurde dabei als Mächte-Europa verstanden und nicht als eine sich gegenseitig unterstützende Rechtsgemeinschaft.
Der gesellschaftliche Wandel in den europäischen Nationen blieb dabei unberücksichtigt. Gerade diese Veränderungen schufen aber neue Interessen, die berücksichtigt werden wollten. Dies erforderte auch Veränderungen im politischen Denken.
BISMARCK hatte ein äußerst kompliziertes Bündnissystem geschaffen, das schon durch die zeitliche Befristung der Verträge nicht auf Dauer angelegt war. Es handelte sich eigentlich nur um ein völlig unzureichendes System mit dem Ziel, den allgemeinen Krieg zu vermeiden. Das System hatte zwei Grundsätze:
Der seit 1882 einsetzende Wettlauf um die Beherrschung der außereuropäischen Welt bot hier neue Chancen und vergrößerte zunächst den Spielraum der Diplomatie. Solange die Mächte in offene Räume ausweichen konnten, ließen sich kontinentale Konflikte ohne Krieg austragen.
Mit Ausbruch des serbisch-bulgarischen Krieges auf dem Balkan im September 1885 zog aber eine neue schwere Krise herauf, die das von BISMARCK so sorgfältig konstruierte Bündnisgeflecht fast zum Einsturz brachte. Serbien war der Schützling Österreichs einerseits und Bulgarien der Russlands andererseits. Jedoch konnten beide Mächte die nationalen Bewegungen ihrer Verbündeten nicht mehr kontrollieren und näherten sich einer offenen Konfrontation. Beide Mächte waren aber Bündnispartner Deutschlands im Drei-Kaiser-Vertrag, und durch den Zweibund mit Österreich-Ungarn wäre das Deutsche Reich bei einem russischen Angriff auf die Donaumonarchie zum Beistand auf Seiten Österreichs verpflichtet gewesen. Ein Beispiel, das aufzeigt, wie kompliziert das von BISMARCK geschaffene Bündnissystem war und auch wie anfällig, wenn Deutschland die Kontrolle über die Partner verlor.
Die Krise beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Balkan, sondern brach an mehreren Stellen zugleich aus: mit Frankreich, als der französische Revanchismus wieder auflebte; in Europas Südwesten zwischen Italien und Frankreich, die einen erbitterten Wirtschaftskrieg führten. Die Krise konnte erst 1887 endgültig beigelegt werden dank dem gemeinsamen Interesse der Führungskreise in den europäischen Staaten an der Aufrechterhaltung des Friedens und einem wahren Balanceakt der Diplomatie.
Diesen Balanceakt setzte BISMARCK auch in vertragsmäßige Form um, wobei ihm zugutekam, dass der Drei-Kaiser-Vertrag und der Dreibund 1887 ausliefen. Da eine Verlängerung des Drei-Kaiser-Vertrags unmöglich erschien, rückte nun der Dreibund in den Vordergrund. Dabei gelang es BISMARCK, England näher an den Dreibund heranzuziehen. Er erreichte sogar die Bildung eines sogenannten Mittelmeer-Dreibundes zwischen Italien, England und Österreich. Darin garantierten diese Mächte die Unabhängigkeit der Türkei und den Schutz der Meerengen. Damit hatte BISMARCK über einen Umweg das Gleichgewicht zwischen den beiden Flügelmächten Europas, England und Russland, mit dem kontinentalen Gleichgewicht verknüpft.
Dies war jedoch ein künstliches System abstrakten Machtdenkens. Einziges Ziel hierbei war die Kriegsvermeidung. In dieses System wurde nun durch den sogenannten Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887 Russland mit eingefügt. BISMARCK wandte hierbei die wesentlichen Bestimmungen des abgelaufenen Drei-Kaiser-Vertrags einfach auf Deutschland und Russland an. Die Neutralitätsverpflichtung blieb erhalten, solange nicht Deutschland oder Russland die Angreifer waren. Damit war das Deutsche Reich gegen die russische Unterstützung bei einem französischen Angriff geschützt. Seine Verpflichtungen Österreich-Ungarn gegenüber durch den Zweibund waren formell unberührt.
Die realen Wirkungen des Rückversicherungsvertrags waren von vornherein begrenzt. Er muss wohl als ein unzulänglicher Notbehelf betrachtet werden, der noch einmal das bereits bröckelnde Grundverständnis der gesamten Politik BISMARCKS verdeutlicht: die Verhinderung eines Bündnisses zwischen den beiden Nachbarländern des Reiches im Osten und Westen.
Durch diesen Vertrag konnte die Entfremdung zwischen Russland und Deutschland nicht aufgehalten werden. Sie war vielmehr zu diesem Zeitpunkt schon in vollem Gange und hatte vor allem wirtschaftspolitsche Gründe. Die Nichtverlängerung des Vertrags 1890 durch die deutsche Reichsregierung war nur Ausdruck hierfür.
Das oft gebrauchte Bild BISMARCKS als Jongleur mit den fünf Kugeln der Mächte zeigt sehr deutlich auch die Gefahren für dieses System auf. Sollte ihm auch nur eine Kugel seiner Kontrolle und damit seinen Händen entgleiten, fielen auch alle anderen Kugeln zu Boden. Dies bedeutete, dass das ganze Bündnissystem BISMARCKS zusammenbrechen musste, wenn ein Stück daraus herausgetrennt wurde. Genau dies geschah dann in den folgenden Jahren auch, sodass letztendlich dem Deutschen Reich als Bündnispartner nur Österreich-Ungarn blieb.
Mit dem Rücktritt BISMARCKS brach das von ihm geschaffene Bündnissystem nicht automatisch zusammen. Aber die Änderung in der Außenpolitik nach 1890, die auf eine weltpolitische Teilhabe an der Macht, einen „Platz an der Sonne“, abzielte, beschleunigte den Zusammenbruch.
BISMARCKS Bündnisgeometrie
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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