Die Stellung der Juden im Mittelalter

Erste jüdische Siedlungen in Europa

Die ersten in Europa lebenden Juden waren mit den Phöniziern nach Spanien gelangt. Durch die Ausdehnung des Römischen Reiches enstanden jüdische Siedlungen auch in weiteren Teilen Europas. Urkunden aus dem 1. und 3. Jh. belegen ihre Anwesenheit im Süden des heutigen Frankreich. Ihr Siedlungsgebiet umfasste die Regionen rund um das Mittelmeer. Außer in Gallien und auf der Iberischen Halbinsel ließen sie sich auf dem Balkan und in Italien nieder, wo sie als Schiffer, Bäcker, Olivenpflanzer oder Händler tätig waren. Aus der von Kaiser KONSTANTIN im Jahr 321 erlassenen gesetzlichen Regelung zum Umgang mit Juden geht hervor, dass es in Köln ebenfalls schon früh eine jüdische Gemeinde gab.

Anfänge der christlichen Judenfeindschaft

Als Bürger Roms unterstanden die Juden dem römischen Recht, das dem jüdischen Glauben den Status einer religio licita, einer staatlich zugelassenen Religion einräumte. Dies änderte sich auch nicht, als 391 das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt wurde. Mit dem gewachsenen Einfluss des Christentums erhöhte sich allerdings der Druck auf die Juden, sich bekehren zu lassen. Zur Bekehrung der Andersgläubigen sahen sich die Christen aufgrund des Missionsbefehls im Matthäus-Evangelium (Matthäus, 28, 19) berufen. Judenfeindliche Predigten aus dem 4. Jh. beschuldigten die Juden des Christusmordes und bezeichneten ihre Zerstreuung (Diaspora) als göttliche Strafe. Die Schriften „gegen die Juden“ bildeten unter der Rubrik „Adversus iudaeos“ einen festen Bestandteil der christlichen Tradition.
Die Anfeindungen, die das Leben der Juden in ihrer christlich bestimmten Umwelt prägten, wirkten sich auch auf ihre rechtliche Stellung aus. So durften sie seit 1215 keine öffentlichen Ämter bekleiden, keine neuen Synagogen bauen und keine christlichen Sklaven halten. Rechtlich geschützt waren dagegen die bestehenden Synagogen und der jüdische Ritus. Bis in die Karolingerzeit galten die Juden als Fremde, waren aber frei und konnten wie andere Bevölkerungsgruppen ungehindert Handel und Handwerk betreiben. Der Kontakt mit Christen beschränkte sich jedoch auf Geschäftsbeziehungen. Dazu trug die kirchliche Politik der Ausgrenzung bei. Auf dem Konzil von Toledo wurden 589 unter anderem das Heiratsverbot zwischen Christen und Juden sowie das Verbot der Rechtsprechung von Juden über Christen beschlossen. Immerhin untersagte es die Kirche, Juden gewaltsam durch Zwangstaufen zu bekehren.

Aufblühen des jüdischen Gemeindelebens

Eine erste Blütezeit erlebten die europäischen Juden zwischen dem 8. und 11. Jh.
Die Eroberung Spaniens (Conquista) durch die Mauren im Jahr 711 veränderte das gesellschaftliche Klima auf der iberischen Halbinsel. Weil der Islam die Achtung der Andersgläubigen gebot, konnte sich unter seiner Herrschaft das spanische Judentum (die Sefardim) entfalten. Während der kulturell und wirtschaftlich fruchtbarsten Phase des Kalifats von Córdoba im 9. und 10. Jh. gehörten die Juden der Oberschicht zur höfischen Gesellschaft. Ihre Kenntnisse machten sie in der Verwaltung, den Wissenschaften, der Heilkunde und Dichtung zu angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft. Außerdem besaßen sie das Recht, Grundbesitz zu erwerben. Mit SAMUEL HA–NAGID gab es sogar einen jüdischen General. Die jüdische Mittelschicht lebte vom Handwerk und dem Textilhandel.
(Diese Phase der Toleranz und gesellschaftlichen Integration beendete die Reconquista, die Wiedereroberung Spaniens durch das christliche Heer, die 1492 durch die Einnahme Granadas zum Abschluss kam).
Auch in anderen Teilen Europas gewannen die Juden an Achtung. Unter der Ägide KARLS DES GROSSEN, der im Jahr 800 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde, kam es zur Gründung zahlreicher jüdischer Gemeinden, unter anderem in Metz, Trier, Magdeburg und Prag. Er sicherte den Juden Schutz vor Zwangstaufen und freie Religionsausübung zu. Da die Juden als Minderheit zu ihrem Schutz einen engen gemeinschaftlichen Zusammenhalt pflegten, entstanden in den Städten Judenviertel, in kleineren Ortschaften sogenannte Judengassen.
Als Ärzte, Seefahrer und Fernhändler stellten sie einen wichtigen Faktor der mittelalterlichen Ordnung dar. Ihre Bildung in einer kaum alphabetisierten Umwelt und ihre weitreichenden Handelsbeziehungen machten sie zu gefragten Lieferanten und Beratern an den Fürstenhöfen.

Ein spektakuläres Beispiel dafür ist der Kaufmann ISAAK VON NARBONNE, den KARL DER GROSSE 797 mit der Leitung einer christlichen Gesandtschaft nach Bagdad betraut. ISAAK kehrt als einziger zurück und überreicht als Geschenk des Kalifen einen Elefanten.

Auch die 965 von OTTO DEM GROSSEN verfertigte Urkunde unterstrich die Bedeutung der Juden für das Wirtschaftsleben. Sie garantierte in dieser Reihenfolge „Juden und anderen Händlern“ den freien Handel ohne Zollgebühren.

Sefardim und Aschkenasim

Aufgrund der weit verstreuten Siedlungsgebiete haben sich zwei unterschiedliche Kultur- und Traditionslinien des europäischen Judentums herausgebildet.

  • Die Sefardim bewohnten die Iberische Halbinsel, die seit dem Mittelalter mit dem biblischen Aufenthaltsort der „Verbannten Jerusalems“ (Sefarad) gleichgesetzt wurde.
  • Als Aschkenasim titulierten sich die in den Gebieten des heutigen Deutschland und Nordfrankreich lebenden Juden. Dieser Ausdruck wurde vom biblischen Namen Aschkenas, einem Nachkommen des Stammvaters NOAH, abgeleitet und mit der Region „Germania“ gleichgesetzt.

Die „Drei Heiligen Gemeinden“

Ab dem 10. Jh. entwickelte sich, ausgehend von den jüdischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz, eine eigenständige Religionsrichtung. Ihre Bedeutung als Geburtsstätten der aschkenasischen Tradition trug ihnen den Titel der „Drei Heiligen Gemeinden“ ein. Sie wurden, nach den hebräischen Anfangsbuchstaben der Stadtnamen, auch als Schum-Gemeinden bezeichnet. Da „Schum“ zugleich der hebräische Ausdruck für Knoblauch ist, symbolisiert die Knoblauchknolle auf zeitgenössischen Abbildungen von Juden deren Zugehörigkeit zu einer dieser drei Gemeinden. Im Fall Speyers hatte der Bischof selbst die Ansiedlung von Juden in einem geschützten eigenen Stadtviertel veranlasst. Er berichtete:

„Als ich den Weiler Speyer in eine Stadt verwandelte, glaubte ich die Ehre unseres Ortes noch zu vergrößern, wenn ich die Juden zusammenführte ... Innerhalb ihres Wohnviertels und außerhalb bis zum Schiffshafen selbst gab ich ihnen das Recht, Gold und Silber frei zu wechseln und alles Beliebige zu kaufen und zu verkaufen; und dieselbe Freiheit gab ich ihnen im ganzen Stadtgebiet“.

Als geistige Zentren des mitteleuropäischen Judentums unterhielten Speyer, Worms und Mainz bedeutende Talmudschulen (Jeschiwas), deren Aufgaben in der Ausbildung jüdischer Gelehrter und Rabbiner und der Interpretation der jüdischen Glaubenslehre bestanden.
In Worms lehrte für einige Jahre der Rabbi SALOMO BEN ISAAK, kurz RASCHI genannt, der im 11. Jh. fast die gesamte Bibel und den Talmud kommentierte. Erhalten geblieben sind aus dieser Gründungszeit des aschkenasischen Judentums der Friedhof und die (1961 wiederaufgebaute) Synagoge in Worms.

Der „Judenschutz“ als jüdisches Sonderrecht

Ende des 11. Jh. kam es zu einem gravierenden Einschnitt für die jüdischen Gemeinden in Mitteleuropa. Noch 1090 hatte HEINRICH IV. in einer Urkunde die den Juden Speyers und Worms gewährten Privilegien bestätigt. Er unterstellte sie als zur kaiserlichen Kammer gehörig seinem persönlichen Schutz.
Als Papst URBAN II. die Christen fünf Jahre später zum ersten Kreuzzug nach Jerusalem aufrief, bildeten sich schon vor dem Auszug des regulären Heeres zahlreiche Truppen aus Freiwilligen. Viele von ihnen scheuten den weiten Weg nach Jerusalem und bekämpften die Ungläubigen im eigenen Land. Dabei begingen sie regelrechte Massaker an den Juden und vernichteten fast alle nennenswerten Gemeinden, darunter Worms, Mainz, Köln, Metz und Speyer. Obschon die Kurie den Judenmord verurteilte, wurden die Täter von der Strafe (Exkommunikation) verschont.
Die Konsequenz aus den gegen die Juden verübten Gewalttaten zog HEINRICH IV. Sofort nach seiner Rückkehr 1097 erneuerte er die Schutzrechte und gestattete den zwangsgetauften Juden, wieder ihre angestammte Religion anzunehmen. Im Mainzer Reichslandfrieden von 1103 erklärte er dann alle Juden des Reiches zu „homines minus potentes“, besonders schutzbedürftigen Personen. Sie unterstanden nun dem Schutz des Monarchen und durften deshalb (wie Frauen, Kleriker und Kaufleute) keine Waffen mehr tragen.
Aus dem Königsschutz entwickelte sich im 13. Jh. die jüdische Kammerknechtschaft: das sogenannte Judenregal. Damit wurde den Juden die Übernahme öffentlicher Ämter untersagt.
Die christliche Kirche beschloss 1215 auf dem 4. Laterankonzil eine Reihe antijüdischer Maßnahmen:

  • eine Kennzeichnungspflicht (der gelbe Judenhut oder Fleck),
  • das Verbot vermeintlicher Wucherzinsen,
  • die ewige Knechtschaft der Juden.

Dieser letzte Punkt diente als religiöse Grundlage für den neuen, 1236 von FRIEDRICH II. eingeführten Rechtstitel. Er machte die Juden als „servi camerae nostri“ (Kammerdiener) persönlich und wirtschaftlich vom Monarchen abhängig. Unter RUDOLF VON HABSBURG wurde aus der jüdischen Kammerknechtschaft die Unfreiheit der Juden hergeleitet. Der korporative Judenschutz musste von den jüdischen Gemeinden durch Schutzgelder und eine wachsende Zahl von Sondersteuern bezahlt werden. Er wurde zu einem einträglichen Handelsgut, das die Krone bei Geldmangel an Fürsten und andere Landesherren verpachtete.

Das Judenrecht sah im Fall von Konkurs, Betrug und einigen anderen Vergehen die Haftung der ganzen Gemeinde vor. Um Konflikte mit Christen möglichst zu vermeiden, überwachten die jüdischen Gemeinden das Verhalten ihrer Mitglieder und versuchten den Zuzug zu begrenzen. Sie verfügten im Inneren über eine weitgehende Selbstständigkeit, angefangen von Kultusfragen, über die Wohlfahrt und Schulbildung bis zur rabbinischen Gerichtsbarkeit bei innerjüdischen Streitfällen.

Die Vertreibung der Juden

In der Spätphase des Mittelalters wurden die Juden aus den meisten Ländern Mittel- und Südeuropas vertrieben. Den Anfang machte 1290 England, wo es zu diesem Zeitpunkt nur etwa 25 000 Juden gab. Die Vertreibung aus Frankreich setzte 1306 ein und erstreckte sich bis 1394 auf fast alle französischen Regionen mit Ausnahme der päpstlichen Besitztümer in Avignon. Durch die Gründung eines christlichen Königreichs Spanien verloren die Juden 1492 auch dort das Aufenthaltsrecht. Bereits während der mehrere Jahrhunderte dauernden Reconquista sahen sich viele Juden in den von Christen wiedereroberten Gebieten zur Taufe gezwungen. Dies schützte sie jedoch nicht vor dem Verdacht, im Geheimen den jüdischen Geboten und Riten treu zu bleiben. Von den Christen wurden diese conversos auch als „marranos“ (Schweine) beschimpft und nicht selten denunziert. So gerieten sie ins Visier der spanischen Inquisition, die seit 1478 die Verfolgung von Ketzern betrieb. Auf Veranlassung des Großinquisitors mussten 1492 alle Juden, sofern sie nicht zum Christentum übertraten, das Land verlassen. Die Mehrzahl floh ins angrenzende Portugal, das sie 1496 vertrieb.
(Nachkommen der aus Portugal geflohenen conversos, sogenannte „Portugiesen“, schufen im 17. Jh. die große sefardische Gemeinde Amsterdams. Kleine Gruppen von „Portugiesen“ lebten als wohlhabende Händler auch in Hamburg und Emden, wo sie das volle Bürgerrecht besaßen).

In Krisenzeiten wurde die jüdische Minderheit oft zum Sündenbock gemacht. Judenfeindliche Gerüchte wie das der Hostienschändung und des Ritualmordes führten in Franken und Schwaben zu grausamen Übergriffen. Diese Verleumdungen beschuldigten die Juden, Hostien (den „Leib Christi“) zu martern bzw. kleine Christenkinder zu töten, um mit deren Blut Matze (Brot) backen. Mit der Pest 1348/49 kam das Gerücht der Brunnenvergiftung auf, das den Juden die Schuld an der Epidemie zuschob. Daraufhin wurden in der Pestzeit Juden verfolgt, ermordet und ca. 350 jüdische Gemeinden ausgelöscht.
Nach der Pest wurden die Juden in Gettos gedrängt, wo sie von der übrigen Stadt isoliert, unter strenger Kontrolle und vielen aufgezwungenen Einschränkungen leben mussten.
Das erstarkte christliche Stadtbürgertum wollte die Juden als wirtschaftliche Konkurrenz ausschalten und drängte sie in der Folgezeit aus fast allen Städten. In dem von den christlichen Zünften und Gilden beherrschten städtischen Wirtschaftsleben gab es für Juden fast keine zugelassenen Berufe mehr. Weil Juden wegen der damit verbundenen feudalen Gerichtsbarkeit auch keinen Grundbesitz erwerben durften, blieben als Tätigkeitsfelder Geldverleih und Pfandleihe, der ambulante Warenhandel (Hausieren) und einige zunftfreie Gewerke vor allem im Schmuckhandwerk übrig.
Vertrieben wurden sie zuerst 1418 aus Trier. Es schlossen sich Köln, Augsburg, Magdeburg, Berlin und viele weitere Städte an, bis Anfang des 16. Jh. nur noch in Prag, Frankfurt am Main, Worms und Friedberg jüdische Gemeinden existierten.
Die ausgewiesenen Juden zogen entweder nach Osteuropa, insbesondere Polen, oder in ländliche Gebiete des Reiches. Einige Landesherren gewährten ihnen aus wirtschaftlichen Interessen Aufenthalt; das heißt, sie stellten gegen Bezahlung zeitlich befristete Schutzbriefe aus.
Gegen Ende des Mittelalters waren die Juden also aus England, Frankreich, Spanien, Portugal sowie vielen Gebieten und fast allen Städten Deutschlands vertrieben worden. Auf dem Land war ihre rechtliche Lage höchst unsicher, denn sie hing vom Wohlwollen des Landesherrn und einem ausreichenden Verdienst zur Bezahlung der Schutzbriefe und Sonderabgaben ab.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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