Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989

Pressekonferenz am 09. November 1989 in Ostberlin

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden.“

Das sagte am 9. November 1989 um 19.07 Uhr der SED-Chef von Ostberlin GÜNTER SCHABOWSKI in einer Pressekonferenz. Dieser Text wurde – vermutlich unbeabsichtigt – zur Sterbeurkunde für die Mauer, die seit dem 13. August 1961 Berlin trennte und die beiden deutschen Staaten nahezu hermetisch voneinander abgrenzte. Nach Verlesen des vorbereiteten Textes stellten Journalisten ergänzende Fragen:

„Wann?“
SCHABOWSKI: „Nach meiner Kenntnis, sofort, unverzüglich.“
Frage: „Sie hatten auch BRD gesagt.“
SCHABOWSKI nach flüchtigem Überfliegen seines Zettels: „...hat der Ministerrat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt...“
Frage: „Gilt das auch für Berlin-West?“
SCHABOWSKI: „Ja, alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und zu Berlin West...“

SCHABOWSKI hatte in der Eile den Sperrvermerk auf seinem Zettel übersehen. Erst am nächsten Tag sollte die Pressemitteilung bekannt gegeben werden. „Ab sofort“, das bedeutete ab 10. November, das heißt, ab diesem Tag hätte jeder DDR-Bürger bei der Polizei ein „Ausreisevisum“ beantragen und erhalten können.
Schabowskis Versehen gab der ganzen Geschichte einen anderen Verlauf. Zunächst geschah aber noch nichts. Die DDR-Bürger hatten ihre Erfahrungen mit politischen Verlautbarungen der SED-Führung. Sie reagierten abwartend und eher skeptisch. Lieber schalteten sie erst einmal auf den Fernsehkanal der anderen Seite um. Auch hier vollzog sich zunächst ein Rätselraten, und dann aber doch die Gewissheit, dass sich unter dem Staatsratsvorsitzenden EGON KRENZ offenbar doch eine grundlegende Änderung der Reiseregelung für die DDR-Bürger abzeichnete.
Die „Tagesschau“ der ARD platzierte um 20 Uhr die neue Reiseregelung als Topmeldung an erster Stelle. Als Schlagzeile wurde eingeblendet: „DDR öffnet Grenze.“ Den abschließenden Filmbericht über die Pressekonferenz von SCHABOWSKI krönte der Kommentator mit der Feststellung:

„Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.“

Nun nützte es nichts mehr, dass das DDR-Fernsehen in seiner Nachrichtensendung „AK ZWO“ gegen 22.28 Uhr beschwörend verlauten ließ: „Also: die Reisen müssen beantragt werden.“ Die Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizei hätten morgen um die gewohnte Zeit geöffnet. Die Ausreisen könnten erfolgen, „nachdem sie beantragt und genehmigt worden sind.“Mittlerweile hatten sich schon Karawanen von Ostberlinern und Brandenburgern in Bewegung gesetzt. Gegen 20.34 Uhr waren die ersten Ostberliner, etwa sechzig Männer und Frauen, an die Chausseestraße – zwischen Wedding (West) und Mitte (Ost) – gekommen. Gegen 21.24 Uhr überschritt ein junges Paar weinend den Grenzübergang Bornholmer Straße. Es folgten die ersten Trabis, Wartburgs und Ladas, die den weißen Streifen zwischen Ost und West überfuhren. Ein Trabi-Fahrer rief: „Ick fass' mir pausenlos an' Kopp.“ Unbeschreibliches Getrappel, Gehupe und Gesang: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Die Mauer hatte ein Loch.

Nationalhymne im Bundestag

Der am 9. November tagende Bundestag unterbrach von 20.22 Uhr bis 20.46 Uhr seine Sitzung, nachdem der CSU-Schatzmeister SPILKER dem Parlament mitgeteilt hatte:

„Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ausreisen.“

Nach der Pause ergriff der Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister SEITERS (CDU), das Wort:

„Die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen aus der DDR ist ein Schritt von überragender Bedeutung. Damit wird praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt.“

Seiters erinnerte an die Regierungserklärung von Bundeskanzler HELMUT KOHL vom Vortage. Dieser hatte gegenüber der neuen DDR-Regierung die Bereitschaft erklärt, einen Weg des Wandels zu unterstützen. Die SED müsse auf ihr Machtmonopol verzichten, unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusagen. Auch der SPD-Vorsitzende VOGEL, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, der Grünen-Sprecher LIPPELT und der FDP-Fraktionsvorsitzende MISCHNICK ergriffen das Wort.
Immer wieder wurden die Redner vom Beifall aller Fraktionen unterbrochen. Nachdem MISCHNIK mit dem Aufruf an die DDR-Bürger: „Alle diejenigen, die jetzt noch schwanken, bitte ich herzlich: bleibt daheim!“ geendet hatte, stimmten die Unionsabgeordneten UNLAND und HINSKEN das Deutschlandlied an. Nach und nach standen fast alle Abgeordneten auf und sangen mit. Einige Grüne gingen hinaus. Bundestagsvizepräsidentin RENGER schloss um 21.10 Uhr die Beratung mit dem Satz:

„Mit diesem großen Ereignis ist die Sitzung heute geschlossen.“

Öffnung der Schlagbäume

Die Grenzkontrolleure in Berlin waren von der Ereignissen völlig überrollt worden. Sie handelten ohne spezielle Anweisungen der Regierung. Lediglich ein provisorisches Management in der Befehlshierarchie der Grenztruppen half mehr schlecht als recht, mit der unerwarteten Situation umzugehen.
Die ersten Berliner, die an diesem Abend ohne Ausreisevisum durch die Grenzkontrolle gingen, erhielten in ihren Pass einen Kontrollstempel über das Lichtbild. Die Absicht, die die Kontrollorgane damit verfolgten, bestand darin, ein „Ventil zu öffnen“. MFS(Ministerium für Staatssicherheit)-Oberst ZIEGENHORN äußerte zu diesem Vorgehen:

„Wir verfahren folgendermaßen: Die am aufsässigsten sind ... und die provokativ in Erscheinung treten, die lass raus. Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht wieder rein.“

Aber diese Absicht einer Ventillösung durch Ausbürgerung geriet schneller als erwartet ins Hintertreffen. Gegen 22 Uhr setzten sich in einer Sternfahrt ganze Kolonnen von Trabis in Richtung Grenzkontrollstellen in Bewegung. An den Grenzübergangsstellen in der Invalidenstrasse und der Bornholmer Strasse bildeten sich die ersten Menschenschlangen. Einzelkontrollen wurden unmöglich. Die hilflosen Grenzposten, die noch immer auf verbindliche Anweisungen von ganz oben warteten, resignierten.
Nach lautstarken „Tor auf, Tor auf!“-Rufen von Zehntausenden Menschen öffneten schließlich die Soldaten die Schlagbäume.
Tausende stürmten ohne jede Passkontrolle in den Westen. „Wahnsinn, ein wunderschöner Wahnsinn“, überschlug sich eine Frauenstimme an der soeben geöffneten Berliner Mauer. Dichte Menschentrauben ergossen sich wie ein Wildbach in die unbekannte Welt. Nur einen Mantel über dem Trainingsanzug erzählte ein Mann:

„Wir woh'n Bornholmer Straße, im Osten, wa. Ick war schon inne Heia, die Alte jeht noch mit'n Hund runter, kommt ruff und sagt: ‚Mensch, du, die jehn alle nach'n Westen.' Ick nischt wie anjezogen und rüber.“

Von Westberlin kamen ebenso Hunderte und Tausende an die Grenze, um die Gäste zu begrüßen. Sektkorken knallten. Es regnete Konfetti. „Wahnsinn“ hieß das am meisten gebrauchte Wort. Auch an den anderen Grenzübergänge n, am Checkpoint Charlie, in der Invalidenstraße, in der Sonnenallee und am Brandenburger Tor wiederholten sich zwischen 22 Uhr und Mitternacht diese Szenen. Westberlin erlebte seine wohl chaotischste Nacht. Auf der Kreuzung vor dem Cafe Kranzler tanzten die Menschen. Wildfremde fielen sich in die Arme: „Das tollste Ding seit hundert Jahren.“ Bier wurde feilgeboten, und zwanzig Mark für eine Runde Buletten gaben die Westberliner gern. Es war die Nacht der spontanen deutschen Einheit. Nach 10 315 Tagen Mauer war das Überwältigende des Ereignisses nur allzu verständlich. Vor allem für die Generation, die erst nach dem Mauerbau geboren war, was für zwei von drei DDR-Bürgern zutraf, brach sich eine lang angestaute Sehnsucht Bahn – der natürliche Drang des Menschen nach freier Bewegung.

Mit dem Fall der Mauer begann ein neuer Abschnitt der DDR-Geschichte und der deutsch-deutschen Beziehungen. Die Chance zur Herstellung der deutschen Einheit rückte in greifbare Nähe. In den folgenden Tagen wurden in Berlin noch mehr Grenzübergänge eingerichtet. Nur das Brandenburger Tor blieb vorerst noch geschlossen. Für Besuchsreisen geöffnet wurden auch die Übergangsstellen an der Grenze zur Bundesrepublik.
Bruchstücke der Mauer – von den sogenannten Mauerspechten herausgeschlagen – erwiesen sich schnell als Verkaufsschlager. Verschiedene Institutionen erwarben einzelne, mit Graffitis oder Malerei verzierte Mauersegmente zur Erinnerung an den Mauerfall. Ein Abschnitt der Berliner Mauer, der nach dem 9. November 1989 künstlerisch gestaltet wurde, trägt heute den Namen Eastside-Gallery (Bild 1) und befindet sich zwischen Oberbaumbrücke und Ostbahnhof.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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