- Lexikon
- Geschichte
- 7 Von der Reformation bis zum Absolutismus
- 7.7 Aufgeklärter Absolutismus
- 7.7.4 Der Absolutismus in Russland
- Die Inspektionsreise Katharinas II. von 1787
Nachdem POTEMKIN nur wenige Jahre sein gewaltiges Kolonisationsziel hatte verfolgen können, bat er KATHARINA, dieses Neurussland zu besuchen. Es ging nicht allein darum, ihr zu zeigen, was er geleistet hatte. KATHARINAS Reise in den Süden – so war es von POTEMKIN gedacht – sollte der ganzen Welt den Reichtum der russischen Kaiserin und zugleich den ungeheuren Aufbauwillen Russlands beweisen. Der Mann sorgte für die gesamte Reiseorganisation und baute Holzpaläste als Unterkünfte für KATHARINA.
Vom Januar 1787 an war die Zarin über Kiew und den Dnjepr unterwegs. Den größten Eindruck machte auf alle Teilnehmer die Krim, wo schon sommerliche Hitze herrschte und alles in prächtiger Blüte stand. Hier, in der alten Stadt Baklitschiassaray, hatte noch vor kurzem der Khan residiert. In seinem märchenhaften Palast wohnten nun KATHARINA und der Kaiser JOSEPH II.
Dann ging es weiter nach Inkerman, wo POTEMKIN ein herrliches Schloss erbaut hatte, von dem aus seine Gäste aufs Schwarze Meer und auf vierzig neue Kriegsschiffe blickten. Ende und Höhepunkt der Reise war die Besichtigung von Sewastopol. Erst drei Jahre zuvor hatte POTEMKIN mit dessen Aufbau begonnen.
Als die Teilnehmer der monatelangen Inspektionsreise nun im Hafen eine Flotte von vierzig Kriegsschiffen mit Ehrensalut erlebten und die Befestigungsanlagen sahen, die Werften, Schiffsanlegeplätze, Schuppen und in der Stadt Kirchen, Krankenhäuser und sogar Schulen, waren sie voller Lob und Anerkennung. Joseph, der inkognito und etwas mürrisch an der Inspektionsreise teilnahm und – wie seine Notizen zeigen – sehr nüchtern und kritisch blieb, zeigte sich über diese aus dem Boden gestampfte russische Flottenbasis geradezu erschrocken. Andererseits nannte er Sewastopol die schönste Hafenstadt, die er je gesehen habe. Nicht nur KATHARINA war von POTEMKINs Leistungen zutiefst beeindruckt, sondern auch der französische Gesandte GRAF SEGUR, der nach der Besichtigung Sewastopols notierte:
„Es schien uns unfaßlich, daß Fürst POTEMKIN es möglich gemacht hatte, in einem achthundert Meilen von der Hauptstadt entfernten und erst kürzlich eroberten Land in zwei Jahren so vieles zu erreichen, eine Stadt zu bauen, eine Flotte zu schaffen, Festungen anzulegen und eine so große Bevölkerung zusammenzubringen: es war dies ein wahres Wunder an Schaffenskraft.“
Dabei war Sewastopol nur eine von POTEMKINs vielen beachtlichen Leistungen und erfolgreichen Städtegründungen. Über die ukrainische Stadt Cherson schrieb KATHARINA:
„Die Bemühungen des Fürsten POTEMKIN haben aus diesem Gebiet ein wirklich blühendes Land und eine blühende Stadt gemacht, wo vor dem Frieden nicht eine einzige Hütte stand ...“ (Vor 1774, dem Ende des ersten Russisch-Türkischen Krieges. In jenem Frieden erhielt Russland einen schmalen Zugang zum Schwarzen Meer, und neun Jahre später verleibte es sich die Krim ein, die dann von POTEMKIN kolonisiert wurde.)
Nach Sewastopol begann POTEMKIN mit dem Bau einer anderen Stadt. Zu Ehren KATHARINAS nannte er sie Jekaterinoslaw, das heißt „Katharinas Ruhm“. Sie sollte etwas ganz Besonderes sein: Industriezentrum und Universitätsstadt mit Konservatorium und Musikakademie. Jekaterinoslaw am Dnjepr, das heute Dnjepropetrowsk heißt, sollte Gerichtshöfe haben, Theater, ein Einkaufszentrum und eine Kathedrale, die – so schrieb POTEMKIN an KATHARINA – „in ihrem Bau der Peterskirche in Rom gleichen soll“. Für die Universität und die Musikakademie verpflichtete POTEMKIN bereits eine Reihe von Professoren, die schon ihre Gehälter bezogen, obgleich die Gebäude noch nicht errichtet waren.
Gebaut wurde zunächst eine Fabrik für die Herstellung von Seidenstrümpfen, in kurzer Zeit entstand eine ganze Seidenindustrie, mit Seidenraupenzucht, Spinnerei, Färberei. Im Überschwang erster Anfangserfolge schrieb POTEMKIN der Kaiserin, als er ihr die erste in Jekaterinoslaw entstandene Seide schickte:
„Ihr habt den Würmern den Befehl gegeben, daß sie für die Menschen arbeiten. Das Ergebnis Eurer Bemühungen reicht für ein Kleid. Wenn Gebete erhört werden, wird Gott Euch ein langes Leben schenken, so daß, gnädige Mutter, wenn Ihr die Gebiete besuchen werdet, die ich beaufsichtige, Euer Pfad mit Seide ausgeschlagen sein wird.“
POTEMKIN hatte sein Ziel erreicht. Er hatte Europa gezeigt, dass Russland eine Macht war. Um das zu unterstreichen und in eine historische Beziehung zu setzen, führte er die Reisegesellschaft auf dem Rückweg über Poltawa, wo PETER DER GROSSE im Jahre 1709 den nach Russland eingefallenen KARL XII. von Schweden vernichtend geschlagen hatte. Von 50 000 Soldaten ließ POTEMKIN vor KATHARINA und ihren Begleitern diese Schlacht noch einmal ausführen.
„Dieses großartige Schauspiel“, schrieb SEGUR, „krönte würdig die Reise, die so romantisch wie historisch bedeutsam war.“
Nicht nur den Europäern hatte POTEMKIN, dem KATHARINA jetzt den Titel „Fürst von Taurida“ verlieh, mit der Demonstration auf der Krim imponieren wollen, sondern ebenso den Türken. Die Türken aber sahen darin eine Herausforderung, und schon im Oktober 1787, nur wenige Monate nach KATHARINAS Inspektionsreise, kam es wieder zu Feindseligkeiten. In diesem zweiten Russisch-Türkischen Krieg, den die Türken 1792 verloren, bewährten sich POTEMKINs Befestigungsanlagen und seine Schwarzmeerflotte.
Natürlich ist von POTEMKINs vielen Projekten nicht alles realisiert worden. Dafür waren sie zu gewaltig. Aber sehr vieles von dem, das er anfing, hatte Bestand und entwickelte sich weiter.
Aber weniger POTEMKINs Erfolge blieben in Erinnerung, als vielmehr das Wort „Potemkinsche Dörfer“. Dabei ging es gar nicht mehr so sehr um POTEMKIN, sondern um Russland. Man glaubte an die „Potemkinschen Dörfer“, weil man nicht wahrhaben wollte, dass Russland eine Weltmacht geworden war.
Jenes Wort, mit dem zunächst nur ein Mann verleumdet wurde, entwickelte sich zu einer Klischee-Vorstellung für ein ganzes Land. Es trug entscheidend dazu bei, dass der Westen Russland immer von Neuem unterschätzt hat. Der erste, der dafür zahlen musste, war NAPOLEON. Vergebens hatte der von POTEMKINs Erfolgen so tief beeindruckt gewesene GRAF SEGUR seinen Kaiser beschworen, von einem Krieg gegen Russland abzusehen.
KATHARINA II. mit POTEMKIN im Wachsfigurenkabinett
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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