Am 2. Oktober 1918 gestand die Oberste Heeresleitung, an ihrer Spitze Generalfeldmarschall VON HINDENBURG, erstmals öffentlich die militärische Niederlage des Deutschen Reiches im 1. Weltkrieg ein. Zwei Tage später sandte die deutsche Reichsregierung ein Gesuch um Waffenstillstand an den damaligen amerikanischen Präsidenten WOODROW WILSON.
Bei der Mehrheit der deutsche Bevölkerung bewirkte dieses Eingeständnis einen furchtbaren Schock. Bisher waren nur Siegesmeldungen von den Kriegsschauplätzen an ihre Ohren gedrungen. Selbst noch in den letzten Kriegsmonaten hatte es die Oberste Heeresleitung verstanden, den sich abzeichnenden Zusammenbruch der deutschen Fronten zu verschleiern.
Als nach Abschluss des Waffenstillstandes am 11. November 1918 das Frontheer in die Heimat zurückgeführt wurde, wollten breite Kreise der Deutschen die Niederlage nicht zur Kenntnis nehmen. Schon bei der Begrüßung der heimkehrenden Frontsoldaten tauchte die Wendung „im Felde unbesiegt“ auf.
In Berlin begrüßte z. B. der Vorsitzende des Rats der Volksbeauftragten und spätere Reichspräsident FRIEDRICH EBERT die heimkehrenden Truppen bei ihrem Zug durch das Brandenburger Tor. Besonders bezeichnend war dabei folgende Begrüßungsformel:
„Kein Feind hat euch überwunden! Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben.“
Das Unverständnis und die Bestürzung vieler Deutscher über den Ausgang des Ersten Weltkrieges wurde noch durch den Versailler Vertrag verstärkt.
Das im Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz im Mai 1919 verabschiedete Vertragswerk diktierte Deutschland äußerst harte Friedensbedingungen, u. a. die folgenden:
Die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages stießen in Deutschland über alle Parteien hinweg auf einhellige und entschiedene Ablehnung. Ihre Bekanntgabe nach der Unterzeichnung des Vertrages am 28. Juni 1919 rief in der Bevölkerung helle Empörung hervor.
In diesem und im Zusammenhang mit der nicht zur Kenntnis genommenen militärischen Niederlage der Truppen an den Fronten des Ersten Weltkrieges erhob sich für viele Deutsche die Frage nach den Schuldigen.
Die Geburtsstunde der Dolchstoßlegende hatte geschlagen.
Das Wort „Dolchstoß“ erschien zum Kriegsende zuerst in der rechts gerichteten deutschen Presse. Es war Teil der These, dass der unselige Ausgang des Ersten Weltkriegs nicht auf Fehler der Heeresleitung bei der Kriegführung zurückzuführen sei; auch nicht auf die Überlegenheit der militärischen Gegner.
Vielmehr sei die Heimat der kämpfenden Front in den Rücken gefallen. Vor allem die zersetzende Haltung der Sozialisten, die zur Novemberrevolution 1918 geführt habe, habe „der im Feld unbesiegten Truppe hinterrücks den Dolch in den Rücken gestoßen“.
Trotz ihrer sachlichen Unhaltbarkeit erfüllte die Dolchstoßlegende in den politischen Auseinandersetzungen nach Kriegsende zwei wichtige Funktionen:
FRIEDRICH EBERT (1871–1925)
So unterstützte natürlich auch HINDENBURG aus nachvollziehbaren Gründen diese Deutung des Zusammenbruchs. Vor einem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung brachte er schon im November 1919 ganz bewusst die Aussage eines englischen Generals ins Gespräch. Auch der habe festgestellt, erklärte er, die deutsche Armee sei vor allem deshalb unterlegen, weil sie von hinten erdolcht wurde.
Das unverändert hohe Ansehen, das der ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung noch immer bei vielen Deutschen genoss, sorgte dafür, dass die Dolchstoßlegende rasch eine außerordentlich große Verbreitung unter der Bevölkerung erfuhr. Außerdem wurde ihre Wirkung auf die Menschen verstärkt.
Im Unterschied zu vielen anderen Lügen, hatte die Dolchstoßlegende „lange Beine“. Sie trug viele Jahre zur Vergiftung des politischen Klimas in Deutschland bei:
In der Zeit der Weimarer Republik diente sie der politischen Rechten und ihren „Rechtsaußen“ als Waffe im innenpolitischen Kampf gegen die demokratischen Parteien der Republik.
Die nationalsozialistische Propaganda nutzte sie später schließlich dazu, der Weimarer Republik selbst den „Dolchstoß“ zu versetzen und das nationalsozialistische Regime zu errichten.
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