- Lexikon
- Geschichte
- 11 Von der Teilung zur Wiedervereinigung
- 11.2 Konsolidierung der beiden deutschen Staaten
- 11.2.3 Die neue Ostpolitik
- Der Grundlagenvertrag von 1972
Der manchmal auch Grundvertrag genannte Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD wurde am 21. Dezember 1972 in Ost-Berlin unterzeichnet.
Sein wesentlicher Zweck und Inhalt erschließt sich schon aus seinem vollständigen Namen: „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“.
In ihm erkannten sich die beiden deutschen Staaten gegenseitig als unterschiedliche Staaten an.
Sie verpflichteten sich, auf der Grundlage ihrer Gleichberechtigung, gutnachbarliche und normale Beziehungen zueinander aufzubauen und zu pflegen. Diese Beziehungen sollten sich an den Prinzipien ausrichten, die in der Charta der Vereinten Nationen (UNO) festgelegt sind. Das hieß zum Beispiel, dass man gegenseitig auf die Androhung von Gewalt verzichten wollte, ein Formulierung, die sich ähnlich auch in den anderen Anfang der 70er-Jahre geschlossenen Ostverträgen befand. Das gilt auch für die im Grundlagenvertrag festgestellte Unverletzlichkeit der Grenzen. Weiterhin betonte man die Beschränkung der Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten auf sein eigenes Staatsgebiet. Sie wollten ferner ihre jeweilige Unabhängigkeit und Selbstständigkeit in den inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren. Auf Einmischung in die Belange der anderen Seite sollte also verzichtet werden.
Darüber hinaus war man sich nach den im Vertrag niedergelegten Grundsätzen einig im Ziel der Förderung der friedlichen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten insgesamt sowie in der Förderung internationaler Rüstungsbegrenzung und Abrüstung.
Was die konkrete Ausgestaltung ihrer Beziehungen betrifft, wollten beide Seiten in der Folge dieses Vertrages durch eine Reihe von Abkommen und weiteren Verträgen praktische und humanitäre Fragen klären, die sich zwischen ihnen ergaben.
Daneben überreichte die Regierung der Bundesrepublik einen Brief zur Deutschen Einheit, der von den Vertretern der DDR förmlich angenommen und quittiert wurde. In ihm bekräftigte die Bundesrepublik ihre Auffassung, dass der Grundlagenvertrag nicht im Widerspruch zu einer zukünftigen Herstellung der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes stehe.
Man hat von westdeutscher Seite aus also am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten. Mit dem Grundlagenvertrag sollte allerdings eine prinzipielle und haltbare Regelung der Beziehungen der beiden nun einmal existierenden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung geregelt werden.
Dieser Brief machte ebenso wie das gesamte Vertragswerk deutlich, dass das gegenseitige Verhältnis so einfach doch nicht war. Die beiden deutschen Staaten wollten einerseits gleichberechtigte und normale Beziehungen als voneinander unabhängige Staaten führen; andererseits erklärte aber die westdeutsche Bundesregierung, dass in der Zukunft wieder ein die ganze deutsche Nation repräsentierender Staat aus ihnen werden sollte.
Dieses Festhalten an der Wiedervereinigung Deutschlands, wie es schon durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vorgegeben war, wurde durch den Grundlagenvertrag dennoch einem bemerkenswerten Wandel hinsichtlich des politischen Ansatzes, mit dem dieses Ziel erreicht werden sollte, unterzogen.
Der damalige Bundeskanzler WILLY BRANDT hatte diese Politik schon bei seinem Amtsantritt mit der Formel „zwei Staaten, eine Nation“ umschrieben.
Eine Anerkennung der Realität zweier deutscher Staaten war in den Jahrzehnten vorher undenkbar gewesen.
Man hatte in der Bundesrepublik aus der Prämisse der Einheit der deutschen Nation eine sogenannte Alleinvertretungspolitik abgeleitet, die zudem auf der Behauptung der Unrechtmäßigkeit der Existenz der DDR beruhte, die sich nie einer freien Wahl gestellt habe.
Bis zum Ende der 60er-Jahre ignorierten die verschiedenen Bundesregierungen mal mehr oder weniger weitgehend die Existenz der DDR. Aufgrund dessen gab es auch keine offiziellen Kontakte zwischen den Regierungen im Osten und im Westen Deutschlands. Diese Politik baute zudem darauf, dass sich die DDR als Staat aufgrund der Unzufriedenheit ihrer Bürger nicht lange würde halten können. Man ging davon aus, dass die Bundesrepublik politisch und wirtschaftlich der DDR überlegen sei und für deren Bevölkerung daher sehr viel anziehender sein würde. Das musste, so meinte man, nahezu automatisch zur Wiedervereinigung führen.
Das aber ließ sich spätestens nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 nicht mehr halten, bedeutete sie doch die Abschottung der Bevölkerung der DDR in einem eigenständigen Staat, der zudem fest in den Ostblock eingebunden war. Es wurde nun also allzu deutlich, dass die Wiedervereinigung auf kurze oder auch mittlere Sicht nicht erreichbar sein würde. Wollte man am Ziel der Einheit festhalten, stellte sich die Frage nach dessen politischer Umsetzung.
Im Umkreis des damaligen Berliner Bürgermeisters WILLY BRANDT entwickelte man nun ein neues Konzept, das einer seiner Vordenker, EGON BAHR, mit dem Motto „Wandel durch Annäherung" zusammenfasste.
Die schon vor dem Bau der Mauer starren Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten sollten demnach gerade durch die Anerkennung dieser Grenzen aufgelockert werden. Es wurde also letztlich die Existenz zweier Staaten anerkannt. Dennoch hielt man aber an der Vorstellung einer einheitlichen deutschen Nation fest.
Auf der Basis der Annäherung an den anderen Staat wollte man in Verhandlungen mit der DDR konkrete Erleichterungen für die durch die Teilung betroffenen Menschen, zum Beispiel Besuchsmöglichkeiten, erreichen. Dadurch erhoffte man sich auch, dass im Bewusstsein der Deutschen die Einheit wachgehalten werden würde.
Die Einheit war mit anderen Worten nicht mehr nur als ein großes, aber zur Zeit nicht umsetzbares Ziel zu denken; sie sollte in den vielen kleinen Möglichkeiten der Begegnung und Kontaktaufnahme für die Menschen konkret erfahrbar sein.
Mit dem Bonner Regierungswechsel 1969 wurde dieses Konzept dann zur offiziellen Politik sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt. Es war wesentlicher Bestandteil der neuen Ostpolitik. Durch den Abschluss der Ostverträge und eine allgemeine Politik der Entspannung zwischen den durch den Ost-West-Konflikt getrennten osteuropäischen und westeuropäischen Staaten sollte ein Klima des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa geschaffen werden. Dadurch hoffte man langfristig die Möglichkeit einer Wiedervereinigung zu schaffen. Denn die Teilung Deutschlands war ja wesentlich eine Folge dieses Ost-West-Konflikts gewesen. Der sogenannte Eiserne Vorhang, der den westlichen und den östlichen Staatenblock trennte, ging mitten durch Deutschland. Deutschland stand im Zentrum des Ost-West-Konflikts. Seine Einheit hatte also ein Ende dieses Konflikts zur Voraussetzung.
Entsprechend dieses Konzeptes, das einerseits die DDR anerkannte, andererseits aber am Ziel der Wiedervereinigung festhielt, war konkrete Deutschlandpolitik der BRD sehr kompliziert. So war für sie der Grundlagenvertrag zwar einerseits ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Art und Weise des Verhältnisses der beiden Staaten bis zu ihrer Wiedervereinigung prinzipiell bestimmen sollte. Man erkannte, nicht zuletzt, um Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland zu erreichen, die Existenz des Staates DDR an und nahm Beziehungen zu ihr auf. Andererseits aber sollte der Vertrag zwischen beiden Staaten kein normales völkerrechtliches Verhältnis begründen, denn dieses hätte die Vorstellung einer endgültigen Teilung der deutschen Nation nahegelegt.
Die Deutschlandpolitik der DDR und ihrer Regierung hingegen verband mit dem Grundlagenvertrag ein ganz anderes Ziel. Sie pochte vor und nach seinem Abschluss auf die Anerkennung eigenständiger staatlicher Souveränität. Die DDR und die BRD seien zwei unterschiedliche Staaten im Sinne des Völkerrechts, also des in den internationalen Beziehungen zwischen Staaten gültigen Rechts.
Wenn man so will, sollte also aus Sicht der Führung der DDR mit dem Grundlagenvertrag gerade die Teilung in zwei unterschiedliche deutsche Staaten zementiert werden.
Das entsprach letztlich einer seit dem Bau der Berliner Mauer immer deutlicher vertretenen Linie, mit der die DDR als ein eigenständiger sozialistischer deutscher Staat etabliert wurde. Ein Ausdruck dieser Politik war zum Beispiel, dass die neue DDR-Verfassung von 1968 in der Präambel von einem „Volk der Deutschen Demokratischen Republik“ sprach.
Letztlich vertraten die beiden Seiten in der Frage der Einheit der deutschen Nation unterschiedliche Standpunkte. Sie akzeptierten das jedoch und wollten gemeinsame Beziehungen entwickeln. So war es denn auch ausdrücklich in einer den einzelnen Artikeln des Grundlagenvertrages vorangestellten Präambel formuliert.
Die Unterschiedlichkeit der Streitpunkte führte allerdings zu einigen Besonderheiten.
So nannten die beiden Staaten ihre Botschaften im jeweilig anderen Staat zum Beispiel nicht Botschaft, sondern Ständige Vertretung. Die Botschafter waren dementsprechend Ständige Vertreter.
Solche Kompromisse ging man nicht zuletzt auch darum ein, damit für die Menschen im geteilten Deutschland konkrete humanitäre Erleichterungen erzielt werden konnten.
Es wurden in mehreren dem Grundlagenvertrag beigefügten Protokollen, Briefen und anderen Dokumenten zum Beispiel Regelungen für Reisen und Familienzusammenführungen ebenso erwähnt wie auch Verbesserungen der Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten.
Und auch schon während der Verhandlungen ergaben sich erste Verbesserungen, die sich insbesondere auf die Möglichkeiten von Reisen in den anderen Teil Deutschlands bezogen. So enthielt ein im Mai 1972 unterzeichneter Verkehrsvertrag nicht nur praktische Fragen des Straßen-, Bahn- und Schiffahrtsverkehrs zwischen den beiden deutschen Staaten, sondern ebenso „Information der DDR zur Reiseerleichterungen“: Bundesbürger sollten Verwandte und Bekannte in der DDR mehrmals jährlich besuchen können, DDR-Bürger konnten bei dringenden Familienangelegenheiten in die BRD reisen. Und auch Reisen aus kommerziellen, sportlichen, kulturellen oder religiösen Gründen in die DDR fanden Erwähnung.
Insgesamt ergab sich auf der Basis der prinzipiellen Klärung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Grundlagenvertrag bis 1989 ein Geflecht von über 30 Abkommen und Verträgen zwischen den beiden deutschen Staaten.
Damit konnten sich auf Grundlage des Vertrages Kommunikation und die Beziehungen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands wieder langsam entwickeln.
Auch das war schließlich 1990, wie von den Initiatoren dieser Politik erhofft, eine Grundlage für die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands nach über 40 Jahren der Trennung.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
Ein Angebot von