Der Charakter der Reichsverfassung

Die am 16. April 1871 verabschiedete Reichsverfassung orientierte sich sehr stark an der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Es kamen lediglich einige Änderungen und Ergänzungen hinzu.

Der bundesstaatliche Charakter der Reichsverfassung

Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 geschah in der Form eines Bundes souveräner Fürsten.
Das Reich war ein Bundesstaat aus 25 Einzelstaaten. Davon wurden

  • 22 von Monarchen regiert,
  • 3 waren Stadtstaaten.
  • Hinzu kam noch das Reichsland Elsass-Lothringen. Es war keinem Fürstentum angegliedert, sondern wurde direkt von Reichsstatthaltern regiert.

Eine Veränderung der bisherigen deutschen Landkarte fand also durch die Reichsgründung nicht statt. Dieser Tatsache trug auch die Reichsverfassung Rechnung.

Der Bundesrat

Der Bundesrat, die Vertretung aller 25 Bundesstaaten, war das verfassungsrechtlich höchste Organ im Deutschen Reich. Das entsprach zum einen der starken Stellung der Einzelstaaten und widerspiegelte zum anderen den föderativen Charakter des neuen Reiches. Der Bundesrat übte einen Großteil der Reichsgesetzgebung aus und besaß damit die eigentliche Souveränität im Reich.
Die Stimmen im Bundesrat verteilten sich nach der Größe der Länder. Von den insgesamt 58 Stimmen entfielen deshalb allein 17 Stimmen auf Preußen. Das waren mehr Stimmen als notwendig waren, um Verfassungsänderungen zu verhindern.

Die Einzelstaaten

Die Einzelstaaten besaßen sehr weitreichende Befugnisse:

  • Polizei und
  • Justiz,
  • Bildung,
  • Gesundheitswesen
  • und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Finanzverwaltung

befanden sich in der Hoheit der Länder.
Auch das Wahlrecht für Wahlen auf Länderebene lag in ihrer Regie.
Den süddeutschen Ländern räumte die Reichsverfassung noch Sonderrechte ein. Diese sogenannten Reservatsrechte hatten dazu gedient, den Ländern den Beitritt zum Deutschen Reich zu erleichtern.

  • So verfügte Bayern weiterhin über eine eigene Post-, Telegrafen- und Eisenbahnverwaltung.
  • In Friedenszeiten war der bayerische König auch Oberbefehlshaber der bayerischen Armee. Der Kaiser durfte sich als oberster Kriegsherr des Reiches nur von der Einsatzbereitschaft des bayerischen Heeres überzeugen.
  • Bayern durfte außerdem etliche eigene diplomatische Vertretungen im Ausland weiterhin unterhalten.
  • Auch Württemberg wurden ähnliche Privilegien eingeräumt.

Alle süddeutschen Staaten durften zudem die Bier- und Branntweinsteuer zum eigenen Nutzen erheben.

Der Reichstag

Der Reichstag war das einheitsstaatliche Element in der Reichsverfassung. Die rund 400 Abgeordneten wurden in allgemeinen, geheimen und direkten Wahlen von allen Männern über 25 Jahren gewählt. Der Befürchtung des Kaisers, dass durch dieses Wahlrechtssystem zu viele Angehörige der unteren Klassen Zugang zum Parlament erhielten, begegnete BISMARCK, indem er festsetzte, dass Reichstagsabgeordnete keine Diäten, also keinerlei Bezahlung erhielten.
Trotz seiner demokratischen Legitimation verfügte der Reichstag aber nur über beschränkte Befugnisse. Er war an den Gesetzgebungsverfahren und am Budgetrecht lediglich nur beteiligt. Zwar war für alle Gesetzesvorlagen die Zustimmung des Reichstags erforderlich. Diese konnten aber nur vom Bundesrat oder dem Reichskanzler, nicht vom Reichstag selbst eingebracht werden. Der Reichstag konnte beispielsweise Gesetzesentwürfe des Reichskanzlers zwar ablehnen, musste dann aber mit seiner Auflösung rechnen.
Auch auf die Außenpolitik hatte der Reichstag keinerlei Einfluss.

Die Stellung des Reichskanzlers

Der Reichskanzler vereinigte in seiner Person die politische und militärische Führung. Im allgemeinen Bewusstsein war er damit der eigentlichen Souverän. Der Kanzler wurde vom Kaiser ernannt und war auch diesem nur rechenschaftspflichtig. Gleichzeitig war der Kanzler auch

  • Außenminister und
  • Ministerpräsident Preußens,

des größten deutschen Bundesstaates. BISMARCK äußerte vor dem Reichstag:

„Dem Bestande des Reiches (droht) weit mehr vom Reichstag als von den Regierungen Gefahr. ..Ich bin deshalb im Interesse der Erhaltung der deutschen Einheit geneigt, mehr vom Reichstag und dessen wilden Parteikämpfen zu fürchten. ..als eine Störung durch die verbündeten (deutschen) Regierungen zu besorgen. ..Die Parteikämpfe sind stärker als das nationale Bewußtsein, die Neigung für die Parteiinteressen stärker als die Neigung, für nationale Interessen einzutreten und ihnen. .. Parteiinteressen zu opfern.“

Der Reichskanzler unterlag keiner parlamentarischen Kontrolle. Er konnte deshalb auch nicht vom Reichstag zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Abstimmungsniederlage für seine Politik im Reichstag musste deshalb nicht unbedingt zu seinem Rücktritt führen, wie es beispielsweise im englischen Regierungssystem üblich war.
Außerdem war der Reichskanzler Stellvertreter des Kaisers und hatte den Vorsitz im Bundesrat inne.

Die Stellung des Kaisers

Dem Kaiser oblag

  • die völkerrechtliche Vertretung des Deutschen Reiches.
  • Er war der Oberbefehlshaber der Armee und
  • hatte das Recht zur Kriegserklärung mit Zustimmung des Bundesrates.
  • Er ernannte und entließ die Reichsbeamten.
  • Der Kaiser entschied über Einberufung, Eröffnung, Vertagung und Schließung des Bundesrates und des Reichstages.

Eine Verantwortlichkeit des Kaisers gegenüber dem Parlament bestand dagegen nicht.
Die Reichsverfassung war in ihren Grundzügen von BISMARCK erarbeitet worden und deshalb auch auf ihn zugeschnitten.
BISMARCK hatte in seinem Verfassungssystem jedem Gewicht ein Gegengewicht gegenübergestellt:

  • dem Prinzip der Zentralisation dasjenige der einzelstaatlichen Rechte,
  • den Einzelstaaten die Bundesregierung,
  • der Bundesregierung Preußen,
  • der Nation die Fürstendynastien.

Anders als im heutigen Grundgesetz mit dem Artikel 21 waren in der Reichsverfassung von 1871 Parteien nicht vorgesehen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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