DDR 1971 – von Ulbricht zu Honecker

Opposition gegen Ulbricht

WALTER ULBRICHT, Staatsoberhaupt der DDR und SED-Parteivorsitzender, hatte nach dem Bau der Mauer 1961 ein offenes Ohr für Reformvorschläge. Er setzte sich 1963 an die Spitze einer Wirtschaftsreform, die als Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS oder NÖSPL) bezeichnet wurde. Diese Reform von oben war auf eine Erhöhung der ökonomischen Effektivität in der DDR gerichtet. Nach dem Vorbild des Parteichefs der KPdSU, NIKITA S. CHRUSCHTSCHOW, verband ULBRICHT die Wirtschaftsreformen mit einer Parteireform. Der Parteiapparat und die Massenorganisationen wurden nach dem sogenannten „Produktionsprinzip“ umstrukturiert, was mit einer Beschneidung der Kompetenzen der Funktionäre des hauptamtlichen Parteiapparates verbunden war. Das Politbüro der SED und andere zentrale Organe sollten nur noch grundsätzliche Fragen beraten. Entscheidungen über weitere Fragen sollten dort getroffen werden, wo Sachkompetenz vorlag.
CHRUSCHTSCHOWS wurde 1964 gestürzt und ULBRICHT geriet mit der Politik seines Nachfolgers LEONID L. BRESHNEW, der eine Periode der Stagnation in der Geschichte der Sowjetunion einleitete, in Widerspruch. Er stellte von nun an den Monopol-Anspruch der KPdSU auf die Auslegung des Marxismus-Leninismus in Frage. Für ULBRICHT galt die DDR als Vorbild für die Verwirklichung des Sozialismus in einem hoch industrialisierten Land. Diese Politik ULBRICHTS wurde vom designierten Kronprinzen ERICH HONECKER ab 1964/65 mit zunehmender Skepsis verfolgt.
HONECKER gewann in der SED-Führung weitere Anhänger: HERMANN AXEN, KURT HAGER, WILLI STOPH und PAUL VERNER. Bereits in dieser Zeit kam es zu einem Gedankenaustausch zwischen BRESHNEW und HONECKER über die Politik ULBRICHTS. Allerdings mahnte BRESHNEW HONECKER, er solle es mit der Ablösung ULBRICHTS nicht so eilig haben. Mit der Übernahme des Sekretariats des ZK der SED gewann HONECKER für seinen Anti-Reform-Kurs ab Mitte der 60er Jahre ein wichtiges Instrument in seine Hand.

Das 11. Plenum

Das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 hatte nicht nur für kulturelle Prozesse Zäsurcharakter, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR, namentlich für die Wirtschaftsreform. HONECKER nutzte die Verhärtung auf dem Felde der Kulturpolitik, um eine Fortentwicklung der Wirtschaftsreform abzubremsen und erste Weichen für eine abermals dirigistische Wirtschaftspolitik zu stellen.
Die Reformer gerieten in die Defensive. ULBRICHTS Rolle wurde zunehmend widersprüchlich. Auch ließ es sein hohes Alter kaum zu, die in der ersten Hälfte der 60er Jahre sichtbaren erfreulichen Reformvorstöße offensiv auszubauen.

ULBRICHTS Deutschland-Politik

Mit der Bildung der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 in Bonn sah ULBRICHT eine Chance für eine aktive „Westpolitik“. ULBRICHT hoffte auf wirtschaftliche Vorteile, die sich aus der Ostpolitik WILLY BRANDTs ergeben könnten. Die Sowjetunion blockierte in dieser Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsreform in der DDR, indem sie auf bestimmte Lieferwünsche der DDR nicht einging. In gesonderten deutsch-deutschen Gesprächen, so den Treffen von BRANDT und STOPH in Erfurt und Kassel, hoffte ULBRICHT die Möglichkeiten für ein deutsch-deutsches Zusammenwirken ausloten zu können. Er war dabei zu bisher kaum vorstellbaren Kompromissen bereit, weshalb er nicht auf dem Austausch von Botschaften bestand. Diese Beweglichkeit löste bei HONECKER und BRESHNEW große Beunruhigung aus.

Hieb gegen HONECKER
Am 1. Juli 1970 fand eine Politbüroberatung außerhalb des Reglements statt. Auf die Tagesordnung hatte ULBRICHT den Punkt „Fragen der Arbeitsweise des Politbüros und des Sekretariats des ZK“ gesetzt. Damit wurden kaum verschlüsselt die seit Jahren schwelenden Macht- und Richtungskämpfe zwischen ULBRICHT und HONECKER angesprochen. ULBRICHT wollte vor dem VIII. Parteitag im Jahre 1971 klare Verhältnisse schaffen. Er hatte sich entschlossen, den Reformgegner HONECKER, der nichts von der Wirtschaft verstand, aus der Position des „Kronprinzen“ zu entlassen. So wurde HONECKER an diesem Tag von der Funktion des 2. Sekretärs der SED abgelöst und zum Besuch einer Parteischule delegiert. HONECKER informierte seine Moskauer Freunde, die dafür sorgten, dass ULBRICHT diesen Beschluss aufheben musste.

Vorbereitung des Sturzes
Am 28. Juli 1970 trafen sich BRESHNEW und HONECKER in Moskau. Beide fürchteten Reformen in der DDR nach dem Vorbild des Prager Frühlings und die Herausbildung deutsch-deutscher Sonderbeziehungen. Der Generalsekretär der KPdSU LEONID BRESHNEW erklärte bei dieser Zusammenkunft:

„Du kannst mir glauben, Erich, die Lage, wie sie sich bei euch unerwartet entwickelt hat, hat mich tief beunruhigt. Die Dinge sind schon jetzt nicht mehr eure eigene Angelegenheit. Die DDR ist für uns, für die sozialistischen Bruderländer ein wichtiger Posten. Sie ist das Ergebnis des 2. Weltkrieges, unsere Errungenschaft, die mit dem Blut des Sowjetvolkes erzielt wurde. Ich habe bereits einmal gesagt, dass die DDR nicht nur eure, sondern unsere gemeinsame Sache ist. Bis vor kurzem war die DDR für uns etwas, was man nicht erschüttern kann. Jetzt taucht aber eine Gefahr auf. Nicht lange und der Gegner, BRANDT, wird dies erkennen und für sich ausnutzen. Wir können uns nicht gleichgültig gegenüber einer solchen Entwicklung verhalten. Wir müssen und werden reagieren.“

14. Tagung des ZK
Der Sturz ULBRICHTS wurde mit der 14. Tagung des Zentralkomitees der SED vom 9. bis 11. Dezember 1970 eingeleitet. Honecker hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Mehrheit der Politbüro-Mitglieder hinter sich gebracht. Zur Diskussion stand die Wirtschaftspolitik im Zeichen der Wirtschaftsreform. Die in der DDR zu verzeichnenden Versorgungsprobleme wurden einzig mit der Absicht enorm aufgebauscht, dem NÖS den Todesstoß versetzen.
ULBRICHTS Führungsstil und seine Deutschlandpolitik wurden scharf kritisiert. ULBRICHT versuchte sich, so gut er konnte, gegen die Vorwürfe zu verteidigen. PAUL VERNER schlug vor, dieses Schlusswort nicht zu veröffentlichen, und die Mehrheit des Politbüros stimmte zu. Politbüromitglied ALFRED NEUMANN kommentierte später diesen Vorgang mit den Worten:

„Die ZK-Tagung und das Nichtveröffentlichen der Rede von Walter war eine bestimmte Zäsur, ein grobes Geschütz, was Honecker im Politbüro in Stellung gebracht hatte... Da wunderte ich mich, dass das überhaupt ging.“

Die Öffentlichkeit der DDR bemerkte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ULBRICHT im Machtgerangel der Parteiführung der SED eine strategische Niederlage erlitten hatte.

Geheimbrief nach Moskau
Am 21. Januar 1971 schrieben auf Initiative von ERICH HONECKER 13 (von insgesamt 20) Mitglieder und Kandidaten Politbüros einen Geheimbrief an den Generalsekretär der KPdSU, LEONID BRESHNEW. Die Unterzeichner bezichtigten ULBRICHT, dass er die Führungstätigkeit der SED in einer angespannten Situation schwäche:

„Genosse WALTER ULBRICHT hält sich gar nicht an Beschlüsse und getroffene Vereinbarungen. Er geht nicht von den ZK- und Politbüro-Beschlüssen aus, sondern stellt gefasste Beschlüsse immer wieder infrage und zwingt dem Politbüro ständig Diskussionen auf, die es in nicht mehr zu vertretender Weise von der konkreten Arbeit bei der Lösung der wichtigsten Aufgaben abhalten.“

ULBRICHT habe Materialien vorgelegt, die keine Antwort auf die Fragen des Lebens gäben. Er habe offenbar die Absicht, das geltende Parteiprogramm

„durch lebensfremde, pseudowissenschaftliche teilweise ‚technokratische' Theorien einer sogenannten Vorausschau bis 1990 und darüber hinaus“

zu ersetzen. ULBRICHT behindere die Vorbereitung des VIII. Parteitages der SED, weil er mit seinen Einschätzungen hinter die Beschlüsse der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien zurückgehe. Auch in der Politik gegenüber der Bundesrepublik verfolge ULBRICHT eine persönliche Linie, an der er starr festhalte. Er störe damit das zwischen der KPdSU und der SED abgestimmte Vorgehen gegenüber der Bundesrepublik. Dank der Umgebung des Genossen WALTER ULBRICHT seien die Meinungsverschiedenheiten in der SED im Westen bekannt geworden. ULBRICHT halte sich selbst für unfehlbar und stelle sich gern auf eine Stufe mit MARX, ENGELS und LENIN. Immer wieder versuche ULBRICHT, die DDR in eine „Modell-“ und „Lehrmeisterrolle“ hineinzumanövrieren.
Diese Vorwürfe waren in ihrer Schärfe kaum zu überbieten. Ganz klar war, dass in diesem Zusammenhang nur der Vorschlag der Absetzung ULBRICHTs von der Funktion des Ersten Sekretärs folgen konnte:

„Wir sind der Ansicht, dass eine solche Lösung darin bestehen könnte, dass die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED sehr bald von der des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR getrennt wird und Genosse WALTER ULBRICHT nur die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ausübt. Dabei wäre es gleichzeitig geboten, die bisher übertriebenen und künstlich ausgeweiteten Befugnisse des Staatsrates zu beschränken.“

ULBRICHT in Moskau
Ende März 1971 reiste ULBRICHT nach Moskau zum 24. Parteitag der KPdSU. Mittlerweile arg verunsichert, benahm er sich dort wie der Elefant im Porzellanladen. Er pries in seiner Begrüßungsrede die DDR als Modell für die industriell entwickelten sozialistischen Länder und erinnerte daran, dass er LENIN noch persönlich gekannt hatte. Damit brachte er das Fass zum Überlaufen. Die sowjetischen Genossen fühlten sich in unerträglicher Weise herausgefordert und waren äußerst empört. BRESHNEW erklärte ULBRICHT in Gesprächen am Rande des Parteitages, dass er nicht mehr mit der Unterstützung der KPdSU rechnen könne. Da er auch nicht mehr die Mehrheit des eignen Politbüros hinter sich habe, legte BRESHNEW ULBRICHT den Rücktritt nahe. Es sei die Zeit gekommen, die Memoiren zu schreiben.

Der Sturz

Am 3. Mai erklärte ULBRICHT vor dem ZK der SED überraschend, dass gegen das „Altern kein Kraut gewachsen“ sei, weshalb er die Geschäfte des Ersten Sekretärs in jüngere Hände übergeben möchte. Für die Nachfolge schlug ULBRICHT HONECKER vor, der mit seinen 58 Jahren für die Funktion noch als relativ jung galt. HONECKER verkörperte als Mitbegründer der FDJ die Generation des Aufbruchs und des Aufbaus in der Nachkriegszeit.
Der vom 15. bis 19. Juni 1971 tagende VIII. Parteitag der SED bestätigte ERICH HONECKER als Erster Sekretär der SED. ULBRICHT, der ein von Eigensinn zeugendes Referat zum Thema „Das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus in den siebziger Jahren“ vorbereitet hatte, konnte aus „gesundheitlichen“ Gründen nicht am Parteitag teilnehmen. Sein Text wurde jedoch verlesen. Damit war für die Öffentlichkeit klargestellt, dass HONECKER von nun das Bild der SED bestimmte.
HONECKER bekannte sich in seiner Rede auf dem Parteitag bedingungslos zur Sowjetunion und zur Verankerung der DDR in der „sozialistischen Staatengemeinschaft“. Zugleich zog er den von Moskau geforderten klaren Trennungsstrich zwischen der „sozialistischen DDR“ und der „imperialistischen BRD“. Er verkündete die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, und sprach sich für eine beweglichere Kulturpolitik aus.
Der VIII. Parteitag markierte eine Zäsur. Die Ära ULBRICHT war zu Ende gegangen. Es begann die Ära HONECKER. Als ULBRICHT am 1. August 1973 starb, hinterließ er keine Lücke mehr. Er war von HONECKER ebenso gründlich ausgebootet worden, wie er es früher mit nicht wenigen Mitstreitern getan hatte.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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