- Lexikon
- Geschichte
- 9 Aufstieg und Untergang des preußisch-deutschen Kaiserreichs
- 9.1 Preußens Ringen um die Vorherrschaft
- 9.1.1 Die preußische Politik nach 1848
- Bismarcks Weg der nationalen Einigung Deutschlands „von oben“
Ohne OTTO VON BISMARCK hätte die Einigung Deutschlands wahrscheinlich auch stattgefunden; sicher aber nicht zum selben Zeitpunkt und nicht auf demselben Weg.
BISMARCK strebte ein geeintes Deutschland unter preußischer Führung an. Die Einigung der deutschen Teilstaaten musste aber seiner Überzeugung nach „von oben“ erfolgen, durch gemeinsamen Beschluss aller deutscher Landesfürsten. Keinesfalls sollte sie durch eine nationale und liberale Volksbewegung, wie etwa in den Revolutionsjahren von 1848/49, in Gang gesetzt werden.
Bei der Durchsetzung seiner Strategie zur deutschen Einigung musste BISMARCK aber eine Reihe Widerstände überwinden.
Als er im September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, befand sich der sogenannte preußische Verfassungskonflikt, in dem eine Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus mit dem König um die Durchführung einer Heeresrefom stritt, auf dem Höhepunkt.
BISMARCK sah sich einem Abgeordnetenhaus gegenüber, in dem seine liberalen Gegner über fast zwei Drittel der Stimmen verfügten. Er musste folglich zur Realisierung seiner Einigungspläne wenigstens einen Teil der liberalen Abgeordneten im Parlament für sich gewinnen.
Das gelang nach den preußischen Siegen im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 und im Deutschen Krieg von 1866 über Österreich. Im Gefolge der durch die Siege ausgelösten nationalen Hochgefühle vollzog sich im öffentlichen Bewusstsein ein allgemeiner positiver Wandel bezüglich der bismarckschen Einigungspolitik.
Auch bei vielen führenden Liberalen im Abgeordnetenhaus hatte sich das Urteil über BISMARCK gewandelt. Aus dem ehedem reaktionären „Konfliktminister“ war für sie plötzlich ein Staatsmann mit Format geworden. An der Frage der Haltung zur Politik BISMARCKs brach folglich die Opposion der Liberalen im Abgeordnetenhaus auseinander. Es kam es zur Spaltung des Liberalismus.
Diejenigen Liberalen, die BISMARCK folgten, gründeten im Juni 1867 die Nationalliberale Partei. Deren oberstes Ziel war die Einigung Deutschlands nach den Vorstellungen von BISMARCK. Die Nationalliberalen stellten damit die Einheit vor die bisher favorisierte Freiheit. Die Nationalliberalen fanden ihre soziale Basis vor allem im aufstrebenden deutschen Bürgertum, bei Unternehmern, Bankiers und im protestantischen Bildungsbürgertum.
Mit der Unterstützungspolitik für BISMARCK schwächten sie die gesamte liberale Bewegung in Deutschland, die nun als maßgebliches Gegengewicht in der nationalen Politik ausschied. Deutschland entwickelte sich fortan zum Obrigkeitsstaat, in dem zum Erhalt der Monarchie alle liberalen, demokratischen oder sozialistischen Strömungen rigoros verfolgt und ausgeschaltet wurden.
Liberale und demokratische Tugenden traten hinter der Staatsräson zurück.
Für BISMARCK selbst besaßen Parteien nie eine besondere Bedeutung. Er benutzte sie, spielte sie gegeneinander aus, um seine Ziele zu erreichen. So erging es letztlich auch den Nationalliberalen, durch deren „Gleichschaltung“ BISMARCK einen wesentlichen Widerstandsfaktor für die deutsche Einigung „von oben“ ausgeräumt hatte.
Noch während der Deutsch-Französische Krieg im Gange war, fand am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die Proklamation des preußischen Königs WILHELM I. zum Deutschen Kaiser stattt.
Der Maler ANTON VON WERNER hat das Ereignis festgehalten. Sein Monumentalgemälde zeigt den Augenblick der Ausrufung des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser durch den Großherzog FRIEDRICH VON BADEN. BISMARCK, in weißer Kürassieruniform, hatte gerade die Proklamation verlesen.
Das Bild verdeutlicht sehr genau den Charakter der Reichsgründung. Es ist eine Versammlung von Fürsten und hohen Generälen. Die bei der Proklamation ebenfalls anwesende Delegation von Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages ist von ANTON VON WERNER gar nicht erst mit ins Bild genommen worden.
Die Einigung Deutschlands „von oben“ (Karte 1, dazu Karte 1a und Karte 1b in Detailansichten) war mit diesem Akt in Versailles vollzogen. BISMARCK hatte den Wünschen der meisten nationalgesinnten Deutschen nach Einheit entsprochen; ohne Mitbeteiligung der Volksvertretung.
Mit der Wiederbelebung des Kaisertums hatte BISMARCK darüber hinaus geschickt die nationalen Gefühle des Bürgertums berücksichtigt, für das sich die Einheit Deutschlands mit dem Kaisertum verband.
Außerdem hatte BISMARCK auch die Geste der Proklamation des deutschen Kaisers durch die Fürsten bewusst gewählt. Sie nährte bei diesen die Illussion, dass das Deutsche Reich ihre Schöpfung war, band sie folglich eng an dieses Reich.
BISMARCK suchte durch seine Art der Verwirklichung der Einheit Deutschlands von vornherein das Aufkommen von Vorstellungen über die Volkssouveränität zu verhindern.
Die Deutschen sollten keine Rechte „auf Deutschland“ geltend machen können, wie etwa die Amerikaner aufgrund der Unabhängigkeitserklärung und der Präambel zur Verfassung.
Vielmehr sollte von Anbeginn an klar sein, dass das Deutsche Reich dem deutschen Volk zum Geschenk gemacht worden war; und: Sollte die Nation sich dieses Geschenks nicht als würdig erweisen, dann konnte es ihr unter Umständen auch wieder weggenommen werden.
Hinter solchen verfassungsrechtlichen Erwägungen BISMARCKs stand bereits ein Gedanke, der zum Leitmotiv seines Denkens in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft werden sollte:
Sollte das deutsche Volk nicht die Gefolgstreue und Dankbarkeit zeigen, die seine Führer von ihm erwarten konnten, hätten die Fürsten das Recht, ihre eigene Schöpfung rückgängig zu machen und etwas Anderes, ihnen Genehmes an ihre Stelle zu setzen.
Deutsches Reich bis 1918
Deutsches Reich- Westlicher Teil
Deutsches Reich - Östlicher Teil
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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