Charakteristik und Entwicklung des Gedichts
Der Begriff Gedicht bezeichnete anfänglich alles, was schriftlich verfasst war. Allerdings wurde die Bezeichnung mit Beginn des 18. Jahrhunderts nur noch für den Bereich der Poesie verwendet. Dagegen hat das Wort Dichtung noch immer etwas von seinem ursprünglichen Gebrauch beibehalten; auch heute steht noch es für etwas Erfundenes. Zunächst umfasste der Begriff alle literarischen Gattungen; heute wird das Gedicht allerdings als eine Form der Lyrik (poetry) von Drama und Epik abgegrenzt.
Das Gedicht ist eine lyrische Form, die mit bildhaften, sprachlichen Mitteln bzw. rhetorischen Figuren (figures) in formell gebundener Sprache entweder in schriftlicher oder auch mündlicher Form arbeitet. Dabei wird oft eine Anordnung von Wörtern, Wortgruppen oder Sätzen genutzt, die nichtalltäglich ist und uns häufig ungewohnt erscheint. Diese Methode wird angewandt, um Aussagen einen bildhaften Eindruck zu verleihen.
Weiterhin verwenden Gedichte ebenso Elemente von Humor und Satire, andererseits aber auch ernsthafte und melancholische Formen, denn sie neigen dazu, über jede vorgegebene Form hinauszugehen.
Ein Gedicht ist meist aus Versen (verse) und Strophen (stanza) aufgebaut. Gedichte sind außerdem eine sehr alte Literaturform und haben sich daher oft bedeutend gewandelt, sodass heutzutage viele verschiedene Formen nebeneinander existieren.
Daher gibt es heute Gedichte mit absolut strengem oder völlig freiem Rhythmus (rhythm), mit Reim (rhyme), sowie ohne Reim oder auch Gedichte zu allen möglichen Themen wie Liebe, Natur und Technik.
Ebenso kann auch die Grundstimmung vollkommen unterschiedlich sein; es gibt humorvolle, ernste, traurige und melancholische Gedichte. Reime können dabei humorvoll wirken oder eine traurige bzw. melancholische Empfindung besonders hervorheben. Alle Gedichte verbinden jedoch trotz aller Unterschiede und Vielfältigkeiten folgende Eigenschaften.
Inhaltlich werden im Gedicht thematisch alle Sphären des Lebens und der Welt aufgearbeitet. Neben dem wohl am meisten bevorzugtesten und am häufigsten behandelten Thema, der Liebe, existieren u. a. auch noch Trauergedichte, Willkommensgedichte, Epigrafen, Nonsensgedichte, Ulkgedichte, Lautgedichte.
Gedichte können entweder aus vollkommen gleich gebauten Strophen bestehen oder aber auch aus völlig unterschiedlichen. Mit einer Strophe beginnt meistens, ähnlich wie bei einem Absatz in einem erzählenden Text, ein neuer Gedanke.
Metrum
Die Zeilen eines Gedichts sind oft durch ein Versmaß oder Metrum (metre) gegliedert und zu Strophen zusammengefasst. Mit dem Versmaß wird dabei eine bestimmte Abfolge von betonten und unbetonten Silben gemeint.
Dabei sind vier wichtige Formen zu unterscheiden:
1. | Jambus (iamb): eine unbetonte, dann eine betonte Silbe (syllable) | ||
To bè, or nòt to bè, that ìs the question | |||
(Hamlet, WILLIAM SHAKESPEARE) | |||
2. | Trochäus (trochee): eine betonte, dann eine unbetonte Silbe | ||
Tìger! tìger! bùrning brìght | |||
(The Tiger, WILLIAM BLAKE) | |||
3. | Daktylus (dactyl): eine betonte, zwei unbetonte Silben | ||
Jùst for a hàndful of sìlver he lèft us | |||
(The Lost Leader, ROBERT BROWNING) | |||
4. | Anapäst (anapest): zwei unbetonte, eine unbetonte Silben | ||
The Assýrian came dòwn like a wòlf on a fòld | |||
(The Destruction of Sennacherib, LORD BYRON) |
Die Grundversform der meisten Dramen zu Zeiten WILLIAM SHAKESPEAREs ist der jambische Pentameter (iambic pentametre).
Neben dem Rhythmus findet sich auch auf der Lautebene ein Muster, das der Sprache aufgebürdet wurde. Der Reim ist eine regelmäßige Wiederholung desselben Klangs, was heutzutage vor allem mit dem Gedicht in Zusammenhang gebracht wird. Allerdings wird beim Vers eines Gedichtes, insbesondere in der europäischen Tradition bis zur modernen Geschichte der Lyrik, ein deutlich freierer Gebrauch des Reims praktiziert.
Beim Reim werden zwei Grundformen unterschieden; heutzutage ist der Endreim (end rhyme) die gebräuchlichere Form. Der Gleichklang der Laute befindet sich dabei am Ende einer jeden Zeile, welcher vom letzten betonten Vokal an beginnt.
In altenglischer Zeit war der Stabreim, die zweite Form, äußerst bedeutsam, teilweise auch noch in der mittelenglischen Literatur. Dieser wird auch als alliterierender Reim (alliterative rhyme) bezeichnet, wobei sich im gleichen Vers gleiche Anfangskonsonanten von betonten Silben wiederholen:
The borgh brittened and brent to brondes and askes | ||
(Sir Gawain and the Green Knights, 14. Jhd.) |
Das Reimschema (rhyme scheme) hat die Hauptfunktion, formale Einheiten innerhalb eines Gedichts zu bilden. Es ist die traditionelle Abfolge von endreimenden Versen, wobei gleiche Klänge als Kleinbuchstaben in alphabetischer Reihenfolge verzeichnet werden.
Die gebräuchlichsten Reimschemata sind:
Paarreim | (rhyming couplet): | aabb |
Kreuzreim | (alternate rhyme): | abab |
Umarmender Reim | (embracing rhyme): | abba |
Die Ballade wird als episches Gedicht bezeichnet, da sie, ähnlich wie in einem Roman, einer Novelle, Kurzgeschichte oder einem anderen epischen Werk, eine Handlung erzählt. Sie behandelt oft eine erschütternde Begebenheit und ist daher äußerst spannungsgeladen.
Die Ballade ist eine altfranzösische Versform, die gewöhnlich aus drei acht- bis zehnzeiligen Strophen mit einer abschließenden vierzeiligen Strophe, dem sogenannten Geleit, zusammengesetzt ist. Meistens verwendet die Ballade jambische oder anapästische Tetrameter des Reimschemas ababbcbc.
Das Geleit, eine Widmung an eine wichtige Persönlichkeit oder gar eine Personifikation, folgt meistens dem Reimschema bcbc.
Eine weitere häufig gebrauchte Form der Ballade besteht aus einer zehnzeiligen Strophe mit fünffüßigen Versen und dem Reimschema ababbccdcd; das Geleit umfasst dabei fünf Zeilen des Reimschemas ccdcd.
Die Ballade, die ursprünglich für musikalische Zwecke geschrieben wurde, hat ihren Ursprung im Mittelalter in Italien und der Provence. Als eigenständige Form entwickelte sie sich erst im 14. Jahrhundert im Werk des französischen Dichters und Komponisten GUILLAUME DE MACHAULT. Die bekanntesten Beispiele früher Balladen stammen ebenfalls von französischen Dichtern des 14. und 15. Jahrhunderts: Zu dieser Zeit waren sie auch in England verbreitet; besonders durch GEOFFREY CHAUCER (Complaint to His Empty Purse), wo sie später eine Wiederbelebung erlebten.
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