Der Realismus umfasst als Epochen- und Stilbegriff die Zeit von 1830 bis etwa 1890. Geprägt wurde er vom Maler GUSTAVE COURBET, der 1855 – in Opposition zur vorherrschenden Kunstrichtung auf der Pariser Weltausstellung – seinem Pavillon den Namen Le réalisme gab. Seine Darstellung des Alltags von Arbeitern und Bauern wandte sich gegen das Pathos der bürgerlich-aristokratischen Historienmalerei.
Weitere beliebte Motive der Realisten waren Industriedarstellungen und vor allem die Abbildung von Landschaften, in der es die englischen Maler WILLIAM TURNER und JOHN CONSTABLE zur Meisterschaft brachten. Zu den charakteristischen Merkmalen der realistischen Malerei gehören die Wahl bis dato ungewöhnlicher Sujets (arbeitende Menschen, Fabrikationsstätten) und das Verlassen des Ateliers, um in der freien Natur zu malen. Im 20. Jahrhundert erfuhr der Realismus eine Reihe von Weiterentwicklungen und Abwandlungen – darunter Surrealismus, magischer Realismus, Neue Sachlichkeit und sozialer Realismus.
Auch die Literatur kennt den Begriff „Realismus“ gleichermaßen als Stilmerkmal und Kunstepoche.
Stilistisch betrachtet steht er für eine Methode, mit der die äußeren Umstände, menschlichen Charaktere und Beziehungen wirklichkeitsnah dargestellt werden. Die Nachahmung der Wirklichkeit (gr. mimesis) hatte schon ARISTOTELES in seiner Poetik gefordert. In vielfältigen Ausprägungen gingen realistische Aspekte in fast alle Literaturepochen ein. Als Beispiele lassen sich die Tragödien des EURIPIDES, die Komödien des ARISTOPHANES, die römischen Satiren, die Novellen und Schwänke des späten Mittelalters und der Renaissance, die Dramen SHAKESPEARES und die barocken Schelmenromane anführen.
Mit den Anfängen des psychologischen Romans (MARIE-MADELEINE DE LA FAYETTE, HENRY FIELDING, SAMUEL RICHARDSON) wurden im 18. Jahrhundert erstmals seelische Vorgänge realistisch zum Ausdruck gebracht.
Als Stilbegriff tritt der Realismus aufs Neue in den Kontroversen des 20. Jahrhunderts zutage, um eine Gegenposition zu den Strömungen des Expressionismus', Naturalismus' und Surrealismus' zu markieren. Aus diesen Auseinandersetzungen ging der so genannte sozialistische Realismus hervor. Mit ihm verband sich die Abgrenzung vom bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts und vom kritischen Realismus des 20. Jahrhunderts (z. B. in den Werken ERNEST HEMINGWAYS).
GUSTAVE COURBETS Gemälde 'Die Steinklopfer' (1849)
Als Epochenbegriff kennzeichnet der Realismus den Roman des 19. Jahrhunderts innerhalb der englischen, französischen, deutschen, russischen und amerikanischen Literatur. Beispielhaft sind die Romane von CHARLES DICKENS, HONORÉ DE BALZAC, GUSTAVE FLAUBERT, THEODOR FONTANE, HERMAN MELVILLE und F. M. DOSTOJEWSKI. Diese Werke vermitteln ein kritisches Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend der künstlerischen Devise, das menschliche Leben möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen. Auf der Basis genauer Beobachtung schufen die Literaten präzise Beschreibungen, Milieuschilderungen und psychologisch ausgearbeitete Charaktere, meist unter Verzicht auf einen vermittelnden Erzähler (z. B. GUSTAVE FLAUBERTS Madame Bovary).
Die für den Realismus impulsgebende französische Literatur zeichnete sich durch eine stark sozialkritische und antibürgerliche Haltung aus. Als Hauptvertreter traten STENDHAL (Rouge et Noir, 1830) und GUSTAVE FLAUBERT (Madame Bovary, 1857) hervor. Den inhaltlichen Schwerpunkt stellte das tägliche Leben – insbesondere der unteren Gesellschaftsschichten – dar. Mit der Essaysammlung Le Réalisme von JULES CHAMPFLEURY und der gleichnamigen Zeitschrift (1856/57) etablierte sich „Realismus“ als Stil- und Epochenbegriff.
In Deutschland wurde der literarische Realismus erst nach 1848 zur bestimmenden Stilrichtung. Schon bald dominierte der poetische Realismus. Für diese Erzählform wurden vor allem kürzere Formen wie die Novelle maßgebend (THEODOR STORM, GOTTFRIED KELLER). Sie schildern die begrenzten menschlichen Möglichkeiten im ländlichen oder kleinstädtischen Milieu. Kennzeichnend für den poetischen Realismus sind außerdem der distanzierende Humor und die Subjektivität der Erzählperspektive. Im Unterschied dazu werden die Romane von THEODOR FONTANE und THOMAS MANN zum so genannten bürgerlichen Realismus gezählt.
Wenngleich sich der englische Realismus anfangs am französischen orientierte, entwickelte er eigene Züge. Hervorzuheben sind sein Humor und das ihm eigentümliche emotional-sozialkritische Pathos. Zu den bedeutendsten Werken des englischen Realismus zählen die Romane von CHARLES DICKENS (Oliver Twist, 1838) und WILLIAM MAKEPEACE THACKERAY (Vanity Fair, 1847/48). Unter dem Eindruck der rasanten Industrialisierung entstand die Gattung der industrial novel (ELIZABETH GASKELL, CHARLES READE).
Die Romane der russischen Realisten neigten dagegen zu einer engagierten, sozialutopischen Sichtweise, die mit detaillierten Beschreibungen der individuellen Psyche einherging (z. B. F. M. DOSTOJEWSKI, L. N. TOLSOJ, I. S. TURGENJEW).
In enger Beziehung zur romantischen Literatur standen die Werke der amerikanischen Schriftsteller HERMAN MELVILLE (Moby Dick,1851) und NATHANIEL HAWTHORNE (The Scarlet Letter, 1850), die als Hauptvertreter des symbolischen Realismus' gelten. Zwischen 1865 und 1910 wirkte sich der europäische Realismus dann verstärkt in der amerikanischen Literatur aus und beeinflusste insbesondere WILLIAM DEAN HOWELLS und MARK TWAIN, dessen engagierte Sozialkritik alle sozialen Schichten im amerikanischen Westen einschloss. HENRY JAMES' psychologische Romane nehmen dagegen Elemente der literarischen Moderne vorweg.
Ein Angebot von