Fotografische Stilrichtungen

Die zentralen Fragestellungen, die sich im Laufe der Entwicklung der Fotografie ergaben, betrafen deren Charakter und Aufgaben: Ist die Fotografie ein wissenschaftlich-technisches „Hilfsmittel“ oder eine eigenständige Kunstform? Wenn sie Kunst ist, welchen Stellenwert hat die Fotografie im Verhältnis zu anderen Künsten? Soll sie dazu dienen, die Lebenswirklichkeit möglichst objektiv zu dokumentieren oder mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln selbst subjektive Wirklichkeiten erschaffen? Im Zuge der Auseinandersetzung mit derlei Fragen formierten sich diverse Strömungen, in denen sich unterschiedliche Herangehensweisen an das Medium Fotografie widerspiegeln. Einige Stilrichtungen und Strömungen werden im Folgenden näher erläutert:

Kunstfotografie

Die Kunstfotografie war im wesentlichen eine englische Bewegung. Sie erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1850 und 1870, als sich die Fotografie noch im Anfangsstadium befand. Geschaffen wurde sie von einer Reihe Fotografen, die ihrem Werk die gleiche Geltung verschaffen wollten, wie sie zur damaligen Zeit der bildenden Kunst besaß. Dementsprechend gestalteten sie ihre Fotos nach dem Vorbild der Malerei: Als Themen für ihre Darstellungen wählten sie literarische, historische und mythologische Stoffe; besonders die Motive der Präraffaeliten hatten es ihnen angetan. Die entsprechenden Szenen mussten im Atelier mit Kulissen, Requisiten, Kostümen und viel Aufwand inszeniert werden. Darüber hinaus retuschierten die Kunstfotografen ihre Bilder nach Art der Portraitmaler, kolorierten sie und verfremdeten sie mittels Montagetechnik. Vertreter der Kunstfotografie waren OSCAR GUSTAV REIJLANDER und HENRY PEACH ROBINSON.

Pictoralismus

Der Pictorialismus war eine internationale Bewegung, die um 1900 auf die Stilphase der Kunstfotografie folgte. Mit ihr teilte der Pictorialismus die grundsätzliche Auffassung, dass ein Foto an Wert gewinnt, wenn es im Stil einem anderen Kunstwerk – z. B. einer Zeichnung oder einem Gemälde – ähnelt. Ganz deutlich zeigt sich das Bestreben der Pictorialisten, ihre Werke von „profaneren“ Bildern, wie z. B. einfachen Schnappschüssen, abzuheben, um sie als Kunstwerke zur Geltung zu bringen. Hierzu orientierten sie sich an der Atmosphäre und Licht einfangenden Malweise des Impressionismus.

Wie den Kunstfotografen ging es den Pictorialisten um eine rein ästhetische Wirkung ihrer Bilder. Und weil das ästhetische Empfinden der Betrachter angesprochen werden sollte, schieden unschöne Motive von vorn herein aus. Im Unterschied zu den Vertretern der Kunstfotografie arbeiteten die Pictorialisten jedoch nicht im Atelier, sondern im Freien, bei Tageslicht. Nebelverhangene (Stadt-)Landschaften zählten zu ihren beliebtesten Motiven. Charakteristisch für ihre Bilder sind verwischte, unscharfe Konturen, gestreutes Licht und der Verzicht auf die Wiedergabe von Details. Vertreter des Pictorialismus sind ALFRED STIEGLITZ (in seinem Frühwerk), ALVIN LANGDON COBURN, EDWARD STEICHEN, JULIA MARGARET CAMERON und GERTRUDE KÄSEBIER.

„Straight“-Fotografie

Die „straight“-Fotografie – eine Strömung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand – bewirkte die Emanzipation der Fotografie von der Malerei. Künstler beider Bereiche akzeptierten, dass die unterschiedlichen Medien ganz individuelle, unvergleichbare Merkmale und Eigenschaften besaßen und jeweils eigene Möglichkeiten der Darstellung boten. Dieser Erkenntnis entsprechend begann eine Reihe von Fotografen – darunter. PAUL STRAND und EDWARD WESTON in Amerika und ALFRED RENGER-PATZSCH in Europa –, sich weniger mit Stimmungen und Impressionen, dafür aber stärker mit dem formalen Aufbau ihrer Bilder zu beschäftigen. Sie lehnten die Inszenierung und Manipulation des Bildes ab, forderten Klarheit des Themas und machten eine strenge Bildkomposition, absolute Bildschärfe und Detailtreue zu zentralen Kriterien ihrer Bildästhetik. Dabei ging es ihnen vor allem darum, das den Dingen Wesentliche im Bild sichtbar zu machen.

Im Jahr 1932 gründeten Anhänger dieser an die Prinzipien der Neuen Sachlichkeit anknüpfenden Richtung – unter ihnen EDWARD WESTON, ANSEL ADAMS, IMOGEN CUNNINGHAM, WILLARD VAN DYKE – die Gruppe f/64. Der Name leitet sich ab von der kleinsten damals verfügbaren Objektivblende, mit der eine größtmöglichste Tiefenschärfe erzielt werden konnte. Zur Verbreitung ihres fotografischen Stils einfacher und direkter Darstellung war die Gruppe bestrebt, ihre Werke in möglichst vielen Ausstellungen zu präsentieren. Mit ihrer Forderung nach sachbezogener Präzision leitete die Fotografie der Neuen Sachlichkeit zur Dokumentar- und Reportagefotografie über.

Landschaftsfotografie

Die Landschaftsfotografie hat sich schon frühzeitig als fotografisches Genre etabliert - nicht zuletzt deshalb, weil die Unbeweglichkeit der Landschaft den damals üblichen langen Belichtungszeiten entgegenkam. Die frühe Landschaftsfotografie war jedoch nicht allein vom ästhetischen, sondern auch vom dokumentarischen Interesse geleitet. Fotografen wie MAXIME DU CAMP und FRANCIS FRITH erfassten im Auftrag von Akademien und öffentlichen Einrichtungen mit ihren Bildern systematisch die Welt des Orients. In den USA nahmen seit den 1870er Jahren TIMOTHY O'SULLIVAN und WILLIAM HENRY JACKSON an Expeditionen zur Erforschung und Vermessung der westlichen Territorien teil und dokumentierten mit ihren Bildern die Schönheit der dortigen Landschaften.

Später, im 20. Jahrhundert, ging es dann vor allem um eine ästhetische Darstellung der Landschaft. Einer der prominentesten modernen Landschaftsfotografen ist ANSEL ADAMS. Durch die Begegnung mit PAUL STRAND, einem der „straight“-Fotografie verpflichteten Fotokünstler entdeckte Adams im Jahre 1930 die Fotografie als sein Ausdrucksmedium. Angeregt durch STRAND und geprägt durch sein Engagement in der Künstlergruppe f/64 entwickelte ADAMS seinen durch Klarheit, Detailgenauigkeit und eine besonders sorgfältige Komposition der Bildelemente geprägten Stil. 1941 entwickelte er sein „Zonen-System“, ein Hilfsmittel zur Bestimmung von Belichtungs- und Entwicklungszeiten. Mit seinen umfangreichen Landschaftsaufnahmen in amerikanischen Nationalparks leistete Adams einen wichtigen Beitrag dazu, der Öffentlichkeit die Schönheit dieser Landschaften und die Notwendigkeit ihrer Erhaltung nahezubringen.

Porträtfotografie

Die Porträtfotografie widmet sich der Abbildung und Darstellung von Personen. Sie gehört zu den Genres, die sich in der Frühphase der Fotografie, mit Verbreitung der 1837 vom französischen Malers LOUIS JACQUES MANDÉ DAGUERRE entwickelten Daguerreotypie herausbildeten. Tatsächlich waren die meisten Daguerreotypien Porträtaufnahmen. Trotz der langen Belichtungszeiten erfreute sich die Porträtfotografie zu jener Zeit großer Beliebtheit. Das neue Verfahren bot einer breiten Schicht die Möglichkeit, sich durch die Anfertigung eines Porträts in Szene zu setzen und aus der Anonymität herauszutreten. Dies konnten sich zuvor nur wohlhabende Adlige leisten, indem sie bei einem Maler ein Porträt in Auftrag gaben. Insofern spiegelt die um die Jahrhundertwende einsetzende enorme Nachfrage nach fotografischen Porträts das Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums wider.

Einer der bedeutendsten frühen Porträtfotografen war der Franzose NADAR (GASPARD FÉLIX TOURNACHON). Um die Jahrhundertwende erstanden die kunstvollen Porträts der Pictorialisten. Zu den bekanntesten Vertretern dieser fotografischen Stilart zählt die Fotografin JULIA MARGARET CAMERON. Sie öffnete die Blende zu starker Unschärfe, beleuchtete nur partiell und ließ Bewegungen zu. Entscheidend für sie waren Ausdruck und Antlitz als Spiegel der inneren Persönlichkeit.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts gewann eine mehr soziologisch orientierte Sehweise größere Bedeutung: AUGUST SANDER begann 1910 seinen Bilderzyklus Menschen des 20. Jahrhunderts. Dieses Lebenswerk – eine umfangreiche fotografische Bestandsaufnahme zeitgenössischer Menschen aus unterschiedlichen Berufs- und Gesellschaftsschichten – sollte ihn 40 Jahre lang beschäftigen. In den 1940er Jahren fotografiert ARNOLD NEWMAN verschiedene namhafte Persönlichkeiten und entwickelt dabei einen ganz eigenen Stil: das “environmental portrait”. In das Portrait einbezogen wurden charakteristische Gegenstände bzw. eine typische Umgebung, die auf die Tätigkeit und die Ideenwelt des Fotografierten verweisen. In den 60er Jahren erweitert DIANE ARBUS die Portraitfotografie um eine neue, ungewohnte Dimension. Sie fotografiert Menschen am Rande der Gesellschaft: Transvestiten, Kleinwüchsige, Patienten in Nervenheilanstalten. Die Schonungslosigkeit ihres Blicks wirkte auf die viele Zeitgenossen schockierend.

Dokumentarfotografie

Die Dokumentarfotografie ist eine Richtung, die das Foto als ein authentisches Zeitdokument, als ein Medium zur Abbildung zeitgenössischer Wirklichkeit einsetzte. Sie hatte ihre Blütezeit Ende der 1920er bis Mitte der 1950er Jahre. Die Vertreter der Dokumentarfotografie strebten danach, die vorgefundene Realität so objektiv wie möglich abzubilden und sahen sich den Prinzipien der „straight“-Fotografie verpflichtet. EUGÈNE ATGET fotografierte vielfach die Straßenszenen in Paris und schuf so ein beredtes Zeugnis des zeitgenössischen Charakters der Metropole. HENRI CARTIER-BRESSON ging es darum, den „entscheidenden Augenblick“, der die Essenz einer Situation in sich trägt, festzuhalten. Dieser Devise verpflichtet, schuf er eine Reihe einprägsamer Bilder vom Pariser Stadtleben. Darüber hinaus reiste er im Auftrag verschiedener große Zeitschriften auch nach Indien, Pakistan, China, Mexiko und die UdSSR, um die Lebensweise der dort lebenden Menschen zu dokumentieren.

Zu den ersten die Dokumentarfotografie als Medium der Sozialkritik einsetzenden Fotografen gehörte JACOB AUGUST RIIS, ein aus Dänemark stammender Zeitungsreporter. In seinen Bildern hat er die Brutalität in den Slums von New York City eingefangen. Fotografen der Farm Security Administration (FSA) wie WALKER EVANS und DOROTHEA LANGE hielten in einer großangelegten fotografischen Dokumentation das Elend der arbeitslosen Landarbeiter im Mittleren Westen der USA während der “Great Depression” in den 1930er Jahren fest.

Beispielhaft für eine politisch und sozial engagierte Fotografie ist auch das Werk der Amerikanerin MARGRET BOURKE WHITE, die während des Zweiten Weltkrieges als Kriegsberichterstatterin fotografierte. Unmittelbar nach Ende des Kriegs erregten ihre erschütternden Aufnahmen aus dem Konzentrationslager Buchenwald weltweit Aufsehen. 1946 reiste BOURKE-WHITE im Auftrag des Life-Magazine nach Indien, um den Befreiungskampf der Inder zu dokumentieren.

Als spezieller Zweig der dokumentarischen Fotografie verbreitete sich in den 1920er Jahren die Pressefotografie. Sie ist ein Produkt der technischen Realisierbarkeit von sofortigen Fotodrucken in Zeitungen ab Ende des 19. Jahrhunderts. Der Beruf des Fotoreporters etablierte sich. Zwar unterschied sich die Technik des Pressefotografen nicht von der anderer Fotografen. Es wurden an ihn jedoch besondere Anforderungen in Hinblick auf Geschicklichkeit, Kühnheit, Sinn für ungewöhnliche Bilder und Zusammenarbeit mit der Redaktion gestellt. Der Pressefotograf wurde zum Sensationssucher, der dafür zu sorgen hatte, dass spektakuläre Ereignisse in Bildern festgehalten wurden. Einer ihrer Vertreter, WEEGEE (ARTHUR H. FELLING), verfolgte ab Mitte der 30er Jahre mit wahrer Besessenheit sensationelle Ereignisse in New York wie Verkehrsunfälle, Gewaltverbrechen und Brandkatastrophen. Die Bilder lieferte er der Boulevardpresse. Sein Markenzeichen waren Fotos aus nächster Nähe, frontal und hart mit dem Blitz ausgeleuchtet. Mit seinen unzähligen Fotoreportagen wurde er zu einem der bekanntesten Chronisten der Schattenseiten des modernen, großstädtischen Lebens.

Werbefotografie

Die Werbefotografie ist ein relativ junges Genre, das sich in den 1950er Jahren herausbildete und an die fotografischen Prinzipien der Bauhaus-Schule – extreme Perspektiven, harte Schatten, bewusst eingesetzte Unschärfe – anknüpft. Sie zielt darauf, das Besondere einer Ware herauszustellen. In kaum einem anderen Bereich der Fotografie sind Ideenreichtum, aber auch die technische Umsetzung selbst ausgefallenster Motive so gefragt wie in der Werbepraxis. Werbefotografie ist visuelle Kommunikation: Es geht um die Vermittlung einer Botschaft mit Hilfe des fotografischen Bildes.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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