Neusachliche Lyrik

Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit

Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit beschäftigte sich mit Alltagsfragen. Es wurden die Beziehungen zwischen den Geschlechtern innerhalb der Anonymität der Großstadt thematisiert. Ganz allgemein wurden Fragen der Moral aufgeworfen oder Fragen des Umgangs des Staates mit seinen Bürgern (und die Haltung des Bürgers zum Staate) sowie Fragen der Demokratie bzw. Demokratisierung der Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt. Auch die Stellung des Einzelnen zu Krieg und Nachkrieg wurde angesichts des gerade vergangenen Ersten Weltkrieges betrachtet.
Autoren wie ERICH KÄSTNER, KURT TUCHOLSKY oder ERICH WEINERT stehen für eine Lyrik, die gekennzeichnet ist durch einen ironischen oder satirischen Blick auf die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Diese Lyriker blickten stets mit Distanz, manchmal mit erschreckender Schonungslosigkeit und zuweilen mit Augenzwinkern auf die Phänomene der Großstadt. Der anarchistisch-expressionistische Blick des jungen BERTOLT BRECHT wandelt die Satire in Gesellschaftsskepsis. Sein „Großer Dankchoral“ aus seinem Gedichtband „Hauspostille“ ist eine bitterböse Parodie auf der Christenheit Glauben an eine bessere Jenseitigkeit im Himmel, um deretwillen die Qualen des Lebens zu ertragen sind.

ERICH KÄSTNER
Moral

Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.

KURT TUCHOLSKY
Das Lächeln der Mona Lisa

Ich kann den Blick nicht von dir wenden.
Denn über deinem Mann vom Dienst
hängst du mit sanft verschränkten Händen
und grienst.

Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa,
dein Lächeln gilt für Ironie.
Ja ... warum lacht die Mona Lisa?
Lacht Sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns –
oder wie –?

Du lehrst uns still, was zu geschehen hat.
Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt:
Wer viel von dieser Welt gesehen hat –
der lächelt, legt die Hände auf dem Bauch
und schweigt.

(von 1928)

Joebbels

Wat wärst du ohne deine Möbelpacker!
Die stehn, bezahlt un treu, so um dir rum.
Dahinter du: een arma Lauseknacker,
een Baritong fort Jachtenpublikum.
Die Weiber – hach – die bibbern dir entjejen
un möchten sich am liebsten uffn Boden lejen!
Du machst un tust und jippst da an ...
Josef, du bist'n kleener Mann.

Mit dein Klumpfuß – seh mal, bein andern
da sacht ick nischt; det kann ja jeda ham.
Du wißt als Recke durch de Jejend wandern
un paßt in keen Schützenjrahm?
In Sportpalast sowie in deine Presse,
Riskierst du wat? – De Schnauze vornean.
Josef, du bist'n kleener Mann.

Du bist mit irgendwat zu kurz gekommen.
Nu rächste dir, nu lechste los.
Dir hamm se woll zu früh aus Nest jenommen!
Du bist keen Heros, det markierste bloß.
Du hast'n Buckel, Mensch – du bist nich richtich!
Du bißt bloß laut – sonst biste jahnich wichtig!
Keen Schütze – een Porzellanzerschmeißer,
keen Führer biste – bloß'n Reißer,
Josef,
du bist een jroßer Mann –-!

(von 1931)

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück ...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.

Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück ...
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

(1930)

Die arme Frau

Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
Du lieber Gott, da seid mir still!
Ein Don Juan? Ein braver, schlichter
Bourgeois – wie Gott ihn haben will.

Da steht in seinen schmalen Büchern,
wieviele Frauen er geküßt;
von seidenen Haaren, seidenen Tüchern,
Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst ...

Liebwerte Schwestern, laßt die Briefe,
den anonymen Veilchenstrauß!
Es könnt ihn stören, wenn er schliefe.
Denn meist ruht sich der Dicke aus.

Und faul und fett und so gefräßig
ist er und immer indigniert.
Und dabei gluckert er unmäßig
vom Rotwein, den er temperiert.

Ich sah euch wilder und erpichter
von Tag zu Tag – ach! laßt das sein!
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
In Büchern: ja.
Im Leben: nein.

Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen – –
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn – –?

Denn jehn die Beeden brav ins Bett.
Na ja ... diss is ja auch janz nett.
A manchmal möcht man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich immer penn ...!
Na, un denn – –?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich Beede jänzlich trenn ...
Na, un denn – –?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die Beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn dof und hinten minorenn ...
Na, un denn – –?

Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit – –
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!

Der olle Mann denkt so zurück:
Wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Park Monceau

Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.

Ein dicker Kullerball liegt auf dem Rasen.
Ein Vogel zupft an einen hellen Blatt.
Ein kleiner Junge gräbt sich in der Nasen
und freut sich, wenn er was gefunden hat.

Es prüfen vier Amerikanerinnen,
ob Cook auch recht hat und hier Bäume stehn.
Paris von außen und Paris von innen:
sie sehen nichts und müssen alles sehn.

Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.
Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.
Ich sitze still und lasse mich bescheinen
und ruh von meinem Vaterlande aus.

(von 1924)

Die Gedichte von Kurt Tucholsky entstammen der Werkausgabe: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden.Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975.

Ödön von Horváth
Dienstbotenlied

Ich bin nur ein armer Dienstbot
Und schufte den ganzen Tag.
Doch dunkelts, dann steh ich am Fenster
Nachdem ich gegessen hab.

Und denk über Giebel und Dächer –
Bin doch noch hübsch und jung
Da ruft mich auch schon die Herrin
Die boshaft ist und dumm.

Mein Herr das ist ein Hauptmann
Mit Schmissen und Seitengewehr
Und geht er über die Straße
So grüßt ihn das Militär.

So grüßt ihn mein Geliebter –
Vielleicht zur selbigen Stund
In der ich Schelte kriege
Und bin doch ein fleißiger Hund!

Und abends in das Bette
Sink ich wie ein Sack.
Doch träum ich um die Wette
Mit Herr und Herrin und Pack!

A-erotisches Barmädchen

Rings von den Stirnen tröpfelt vornehmlich sexueller Schweiß
Denn es ist nicht nur heiß
Sondern – Gott weiß!
Man trinkt Whisky, Kognak und Sekt
Allmählich wird alles bedreckt
Ria rülpst, Schulze kotzt
Draußen wird Lu vom Kellner gefotzt
Während Anette, das arme Vieh
Beißt ihrem Kavalier ins Knie.
Dies ist zwar nicht fein
Doch manchmal muß man schon unkeusch sein
Oder zumindest so tun
Als wär man ein läufiges Huhn
Als wär man von jedem Krüppel betört
Als hätt man noch nie was von Lues gehört – – –
Kusch! Ich werde nicht sentimental.

Asket

Einer büßt im Himalaya

was er als König getan, der mit weicher Seide angetan in
seiner Paläste Labyrinthen in Wolken heiliger Hyazinthen
ging, und tausende schönster Frauen und weißer Elefanten
seinem launischen Auge lauschten, und alle Dinge
waren wie seine Sklaven...

Einer leidet in öder Nacht, weil er vergaß, daß Einer ist,
der Alles maß.
Einer wartet.

Wartet auf einen Morgen
der da kam
als träumten junge Mütter ohne Sorgen...

Einer war geworden.

Sehnsucht

Durch meines Lebens graue Gasse
geht das Nimmervondirlassen
geht das Nimmervondirlassen
und singt und singt so leise
uralte Weise
und summt und verstummt und weint
wie Heimweh
und es gaffen die grauen Gassen
Wer bist du Nimmervondirlassen?

Ständchen

O liebes Nachtwächterlein,
schlafe bitte bald ein
Schau die Nacht wurde blond
Nur es wachet der Mond
Und der lacht in die blaublonde Nacht.
O Augen [...?] liebes Geliebtchen
bete zur heiligen Zain
es wolle aus sein dein Kummerlein
und wiege uns ein
wie in einem daheim

O liebes glaub
wie der Tag dann graut
dann lausche laut
wecke mich und meine Braut
damit nur niemand zuschaut
damit nur niemand etwas glaubt
O liebes Nachtwächterlein schlafe, schlafe bald ein.


Die Texte von Ödön von Horvath entstammen der Ausgabe: Ödön von Horváth: Sportmärchen, andere Prosa und Verse. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1988

Joachim Ringelnatz
Bumerang

War einmal ein Bumerang;
War ein weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang -
Wartete auf Bumerang.

Insel Hiddensee

Kühe weiden bis zum Rande
Großer Tümpel, wo im Röhricht
Kiebitz ostert. – Nackt im Sande
Purzeln Menschen selig töricht.

Und des Leuchtturms Strahlen segnen
Eine freundliche Gesundheit.

Andrerseits: Vor steiler Küste
Stürmen Wellen an und fliehen. –
Nach dem hohen Walde ziehen
Butterbrote und Gelüste.

Fischerhütten, schöne Villen
Grüßen sich vernünftig freundlich.

Steht ein Häuschen in der Mitte,
Rund und rührend zum Verlieben.
»Karusel« steht angeschrieben.
Dieses Häuschen zählt zu Vitte.

Asta Nielsen – Grischa Chmara,
Unsre Dänin, und der Russe –,

Auf dem Schaukelpolster wiegen
Sich zwei Künstler deutsch umschlungen. –
Gar kein Schutzmann kommt gesprungen. –
Doch im Bernstein träumen Fliegen.

Um die Insel rudern, dampfen,
Treiben, kämpfen Boote, Bötchen.

 

Nie bist du ohne Nebendir

Eine Wiese singt.
Dein Ohr klingt.
Eine Telefonstange rauscht.
Ob du im Bettchen liegst
Oder über Frankfurt fliegst,
Du bist überall gesehen und belauscht.

Gonokokken kieken,
Kleine Morcheln horcheln.
Poren sind nur Ohren.
Alle Bläschen blicken.

Was du verschweigst,
Was du den andern nicht zeigst,
Was dein Mund spricht
Und deine Hand tut,
Es kommt alles ans Licht.
Sei ohnedies gut.

Großer Vogel

(1933)

Die Nachtigall ward eingefangen,
Sang nimmer zwischen Käfigstangen.
Man drohte, kitzelte und lockte.
Gall sang nicht. Bis man die Verstockte
In tiefsten Keller ohne Licht
Einsperrte. – Unbelauscht, allein
Dort, ohne Angst vor Widerhall,
Sang sie
Nicht – –,
Starb ganz klein
Als Nachtigall.

Volkslied

Wenn ich zwei Vöglein wär
Und auch vier Flügel hätt,
Flög die eine Hälfte zu dir.
Und die andere, die ging auch zu Bett,
Aber hier zu Haus bei mir.

Wenn ich einen Flügel hätt
Und gar kein Vöglein wär,
Verkaufte ich ihn dir
Und kaufte mir dafür ein Klavier.

Wenn ich kein Flügel war
(Linker Flügel beim Militär)
Und auch keinen Vogel hätt,
Flög ich zu dir.
Da's aber nicht kann sein,
Bleib ich im eignen Bett
Allein zu zwein.


Die Gedichte von Joachim Ringelnatz stammen aus dem Buch: Joachim Ringelnatz: Nie bist du ohne Nebendir. Berlin: Karl H. Henssel Verlag, 1976

KLABUND
Nacht und Morgen und wieder Nacht

Als die Sterne sanken,
Als wir Nebel tranken,
Morgen wölbte seine Hand –
Unter seinem Segen
Haben wir gelegen
Wie ein aufgeblühtes Land.

Unsre Felder reiften.
Unsre Jäger streiften
Durch die taubeglänzte Pracht.
Reh durchschritt die Ferne.
Aber wie die Sterne
Sanken wir in unsre eigne Nacht.

Die Graubündnerin

Die Wolke hängt sich müde in die Miene
Des herbstlich schon ergrauten Tannenwalds.
Der Wasserfall gleicht einer Mandoline.
Ein roter Vogel zwitschert auf der Balz.

Vom Steinbruch tönt ein nagendes Gehämmer.
Die Lore fährt mit Felsenfracht zu Tal.
Durch dieses Nachmittages Waldesdämmer
Gleitet ein papageienhafter Schal.

Es zucken matt im Anhauch rauher Winde
Die schmalen Schultern der Graubündnerin.
Um Hals und Nacken schlingt sich eine Binde
Und stützt das fast entfallene Totenkinn.

Fünfuhrtee in der Halle

Der Kellner stellt die goldne Heizung an.
Ich friere sehr und wärme mich bemüht
An einem Zeitungsblatt, das geistig glüht.
Der Kellner stellt die goldne Heizung an.

Von Stock zu Stock jagt Jüngling der Chasseur.
Bald fängt er einen Brief. Bald einen Blick.
Bald trägt er ein Paket. Bald ein Geschick.
Auf Treppen hüpft ein Eichhorn: der Chasseur.

Ein Frauenfuss tanzt unter einem Tisch.
Die Robe bauscht sich über seinem Samt.
Ich sinne, wem der schöne Fuss entstammt.
Madame erhebt sich, schön verschwenderisch.

Sie wirft das Antlitz aus dem Schleier und
Entbietet lächelnd Gruss und Aug und Mund.
Madame entbietet Gruss und Aug und Mund.

Einsamkeit im nächtlichen Hotel

Auf dem Korridor
Hüpft der rote Mohr,
Welcher einer Dame Schokolade bringt.
Meine Einsamkeit
Ist Zerrissenheit
Bergs, aus dem ein Giessbach springt.

Ach, es lockt mich fast,
Mensch zu sein: ich tast
Ueberm Bette nach dem Lichtsignal.
Ruf die Kleine ich –
Weine ich
Und verfliesse in des Bettes Tal.

Im Hotelgemach,
Als ich stöhnend lag,
Hat ein Löwe meine Brust beschwert –
Niemand war mir gut.
Nur mein weicher Hut
Hat sich brüderlich mir zugekehrt.

Ohne Körper er
Schwebte leicht daher
Neigte sich und sass mir auf dem Haupt.
Er behütete,
Als man wütete,
Meinen Schlaf, den er dem Tod geraubt.

Die Gedichte Klabunds stammen aus dem Buch: Klabund: Das heiße Herz. Balladen, Mythen, Gedichte, Berlin: Erich Reiß Verlag, 1922.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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