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- 5 Literatur und Medien
- 5.1 Ausgewählte literarische und mediale Gattungen
- 5.1.3 Grundelemente des Dramatischen
- Gattungen und Typen des Dramas
Der Begriff Gattung unterscheidet nicht nur die drei Arten der Dichtung Lyrik, Epik Dramatik, sondern dient auch zur Unterscheidung der unterschiedlichen Typen und Formen der dramatischen Dichtung. Nach dem aus der Antike stammenden Muster unterscheidet man zunächst Tragödie und Komödie.
Die Tragödie stellt einen Konflikt dar, der den Helden in den Tod führt. Sie entwickelt ihre Handlung aus innerer Notwendigkeit bis zum Umschlag in die Katastrophe. Spätestens hier erhalten die Hauptbeteiligten volle Einsicht in ihre tragischen Verstrickungen.
ARISTOTELES bezeichnet sie als „die nachahmende Darstellung einer ernsten und in sich abgeschlossenen Handlung, die einen gewissen Umfang (megethos) hat, in kunstvollem Stil, der in den einzelnen Teilen sich deren besonderer Art anpasst, einer Handlung, die nicht bloß erzählt, sondern durch handelnde Personen vor Augen gestellt wird und dadurch, dass sie Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) erregt, die Reinigung (katharsis) derartiger Gemütsbewegungen (panthemata) bewirkt.“
Neuere Übersetzungen gehen davon aus, dass ARISTOTELES den Begriff Katharsis im medizinischen Sinne verstanden habe, also als Abreaktion eines Affektstaus. Das Erregungsniveau hebt sich durch Phobos bis an die Schmerzgrenze, die Spannung löst sich in Eleos, bis Katharsis als lustvolle Befriedigung eintritt. Der Wendepunkt, das Umschlagen von Furcht in Mitleid, wird als Peripetie bezeichnet. Das Umschlagen von Phobos in Eleos muss ein klar erkennbarer Punkt im Handlungsverlauf sein und zudem eine für den Zuschauer nachvollziehbare Motivation haben. Bei ARISTOTELES besteht diese in einem Fehler (hamartia), den der Held macht. Wir sprechen auch von „tragischer Schuld“. Die Tragik der Handlung darf dabei nicht dem Zufall entspringen. Das letzte Strukturelement im aristotelischen Drama bildet das strukturelle Gegengewicht zur Peripetie, die Anagnorisis. Anagnorisis ist das plötzliche Durchschauen eines verborgenen Zusammenhanges, durch den der dramatische Prozess seine tragische Wendung erhält.
Die griechische Tragödie mit AISCHYLOS, SOPHOKLES und EURIPIDES bildet den Ursprung der europäischen Tragödiendichtung. Der antike Mensch ist der Willkür der Götter ausgesetzt. So gesehen steht die griechische Tragödie auf einem Lebenshintergrund der Verzweiflung. Der Mensch verfällt in Hybris (er überschreitet die ihm gesetzten Grenzen) und wird von den Göttern bestraft. Er ist einem zerstörenden Schicksal ausgesetzt, jeden Tag kann ihn dieses Schicksal treffen (Odysseus in der Tragödie „Aias“ des SOPHOKLES). Der Mensch besitzt aber die Größe, dieses vom Schicksal und den Göttern verhängte Los auf sich zu nehmen.
In der Tragödie „Agamemnon“ (PDF 1, Teil der sogenannten „Orestie“), des AISCHYLOS weist Agamemnon anfangs die Hybris zurück, als er auf dem feinen Purpurteppich laufen soll:
„[...] Noch mache gar mit deinem Purpur meinen Weg
Verhasst: die Götter nur ist so zu ehren recht!
Daß ich, ein Mensch, auf bunten Prachtgewanden soll
Hinschreiten, mir ist's Grund zu mehr als eitler Furcht;
Ich will geehrt als Menschen, nicht als Gott mich sehn;
Auch ohne deiner Decken, deines Purpurs Stolz
Erhebt der Ruf mich, und es ist, nicht argen Sinns
Zu sein, der Götter größt Geschenk. Den mag beglückt
Man preisen, der sein Leben schließt im lieben Glück;
Wenn mir es stets so würde, hätt ich frohen Mut!“ (AISCHYLOS: Agamemnon. Die PDF 1 folgt der Ausgabe: Griechische Tragiker. Aischylos, Sophokles, Euripides. Übersetzt von J. G. Droysen (Berlin 1832) Stuttgart, Hamburg: Deutscher Bücherbund, 1961, S. 111–231)
Agamemnon nimmt sein Schicksal schließlich an:
„So will ich, da ich dir zu folgen über mich
Gewann, ins Haus gehn, tretend auf des Purpurs Glanz!“ (ebenda)
sagt er zu Klytaimnestra und betritt den Teppich.
Über AISCHYLOS emanzipiert sich die Tragödie zu EURIPIDES zunehmend vom Mythos zum Rationalen.
SHAKESPEAREs Tragödie ist bestimmt durch die politischen Verhältnisse der elisabethanischen Epoche. Während in der griechischen Tragödie der Mensch als Typus auftritt, schildert SHAKESPEARE das Individuum, das in eine tragische Situation gerät. Der Held ist auf sich selbst gestellt. Doch sucht auch Hamlet (PDF 2) die zerstörte Ordnung wieder herzustellen. Die Tragik entspringt mehr aus der psychologisch bedingten Handlungsweise des Menschen.
Die klassische französische Tragödie von CORNEILLE und RACINE behandelt das Thema der Gefährlichkeit der Liebe in Form der Leidenschaft. Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die Gesetze der griechischen Tragödie, werden eingehalten (RACINE: „Phaedra“, PDF 3).
Im klassischen Drama SCHILLERs rettet der Mensch seine Sittlichkeit mit dem Tod. Das Sittengesetz ist ein Unbedingtes, das den Menschen in seiner Körperlichkeit zwar zerstört, das ihn aber in seiner Idee und im Geistigen triumphieren lässt. Beispiele für eine solche Haltung sind
Ferdinand („Kabale und Liebe“, PDF 4),
KLEIST gilt als der tragischste deutsche Tragiker. Seinen tragischen Helden ist gemein, dass sie in ihrem Vertrauen in das eigene Gefühl erschüttert sind, einem Gefühl, das Wahrheit anzeigt, aber durch falsche Interpretation zu verhängnisvollem Handeln führt. Penthesilea stirbt nicht im Bewusstsein, einem Gesetz zu gehorchen. Hinter der Katastrophe steht die Hoffnungslosigkeit. Es ist keine Vermittlung zwischen Gefühl und Vernunft durch einen moralischen Erkenntnisprozess möglich.
Der Tragiker der geschichtlichen Wendepunkte ist HEBBEL. Neue sittliche Maßstäbe bringen eine Zerstörung in die Beziehungen der Menschen, immer wieder tritt es im Kampf der Geschlechter hervor. Trotzdem herrschen nicht nur gegenseitiges Unverständnis und gegenseitige Zerstörung. Es gibt eine Ordnung, die, ähnlich wie bei SCHILLER, stärker ist als alles Menschliche. Reines Unverständnis und nicht Umdenkenkönnen führt in HEBBELs bürgerlichem Trauerspiel „Maria Magdalena“ zur Tragik (PDF 6).
Die Komödie entwickelte sich aus dem Satyrspiel. Es ist das Drama mit komischem oder heiterem Inhalt und gekennzeichnet durch einen glücklichen Ausgang. Die Menschen in der Komödie befinden sich in einem lösbaren Konflikt. Der Begriff Lustspiel wird oft synonym für Komödie gebraucht.
In Deutschland bildete sich die Komödie erst im 15. Jahrhundert heraus. Sie tauchte als Fastnachtspiel (PDF 7) erstmals auf. Die Lösung der Konflikte gelingt in der Komödie meist durch Zufall, durch persönliche Schläue oder Dummheit des Helden. Die Charaktere werden oft überzogen, komisch gezeichnet. Der Konflikt wird grotesk dargestellt.
Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr man aus der Liste der auftretenden Personen, ob es sich um ein komisches oder trauriges Stück handelte. Bürgerliche Figuren, Bauern und Diener waren Personage der Komödie. Diese Ständeklausel geht zurück auf ARISTOTELES, der die Darstellung der schlechteren Menschen der Komödie überließ, die Tragödie hingegen für die besseren Menschen reservierte. OPITZ und GOTTSCHED übernahmen die Ständeklausel im Barock bzw. in der Aufklärung. In seiner Poetik der Komödie propagierte GOTTSCHED die Verlachkomödie, eine Form des Dramas, in dem das falsche Verhalten lasterhafter Personen exemplarisch dargestellt und dem Gelächter des einsichtigen Publikums preisgegeben wird. Kennzeichen der Verlachkomödie sind fünf Akte, Ständeklausel, verlachbare Fehler, Wahrscheinlichkeit, zweigeteilte Handlung (Herr – Diener). Die Darstellung beschränkt sich schematisch auf Typisches und dringt nicht zur individuellen Gestaltung vor (deshalb auch sächsische Typenkomödie). Bloßgestellt werden beispielsweise fehlgeleitete Gelehrsamkeit, Frömmelei o. a. Mit dieser Zweckbestimmung gehört diese frühe Komödie zum Kern der didaktisierenden Literatur der Aufklärung. Diese Gattung ist an die Ständeklausel gebunden, sie spielt unter mittleren oder niederen Ständen und bedient sich eines mittleren Stils. Die Texte sind in Prosa gestaltet. Charakteristisch für die Komödie ist immer der gute Ausgang der Handlung. Beispielhaft ausgeführt werden GOTTSCHEDs poetologische Anweisungen in den Komödien seiner Frau LUISE ADELGUNDE VICTORIE GOTTSCHED („Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“, 1736; „Der Witzling“, 1745).
Mitte der 1740er-Jahre erscheint die Rührkomödie (rührende Komödie(PDF 8), zeitgenössisch auch: weinerliche) als neue, erweiterte Gattungsausprägung. Ihre französische Spielart (Comédie larmoyante) war zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Aufklärungskomödie weit verbreitet. Sie richtet sich nicht an die verstandesmäßige Verurteilung und das Überlegenheitsbewusstsein, das sich im Verlachen artikuliert, sondern an ein eher empfindsames Mitgefühl. Die Figuren sind nicht bloß Repräsentanten eines Typus, sondern haben individuellere Eigenschaften. Es geht nicht nur darum, allein lasterhafte Züge an Figuren darzustellen, sondern diesen auch vernünftige und wünschenswerte Eigenschaften mitzugeben. Es entstehen gemischte Charaktere (LESSING). Sie werden psychologisch und sozial ernst genommen. Die glückliche Lösung der Konflikte bleibt als Gattungsmerkmal erhalten.
CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT verfasste eine Reihe erfolgreicher Texte dieser Gattung („Die Betschwester“, 1745; „Das Loos in der Lotterie“, 1746; „Die zärtlichen Schwestern“, 1747, PDF 9). Insgesamt ist eine Annäherung an die Prinzipien des bürgerlichen Trauerspiels unübersehbar, mit dem LESSING letztendlich die alte Ständeklausel abschaffte. Zuweilen enthält die Komödie tragische Elemente (DÜRRENMATT: „Die Physiker“, hier endet der Held Möbius tragisch).
Mit dem Satyrspiel endete in der griechischen Antike der Aufführungszyklus dreier Tragödien. Es war als „scherzhafte Tragödie“ (tragodia paizousa) bzw. als heiteres, schwankhaftes Nachspiel zur Aufhebung der tragischen Darstellung gedacht.
Das Satyrspiel war meist ein- oder zweiaktig. Es griff Motive der zuvor aufgeführten Tragödien auf und travestierte sie. Seinen Namen hat das Satyrspiel von dem Chor der Satyrn. Satyrn entstammen der griechischen Mythologie, sie tragen Vollbart, haben eine stumpfe Nase und spitze Pferdeohren. Ein Pferdeschwanz und ein oft eregierter Phallus vervollständigen die Kostümierung. Sie waren sehr trinkfreudig und im Gefolge des Gottes Dionysos anzutreffen.
„Der Kyklops“ von EURIPIDES (PDF 10) ist das einzig vollständig erhaltene Satyrspiel.
Die Passions- und Osterspiele sind geistliche Dramen des Mittelalters, die Leidensgeschichte und Auferstehung Christi sinnlich erfahrbar zu machen versuchten. Die ältere Form ist das Osterspiel, das im 10. Jahrhundert entstand, am Ostersonntag am Altar gesungen wurde und zunächst noch Osterfeier hieß. Kernszene war der Besuch der drei Frauen am Grab, dazu kam der Jüngerlauf von Petrus und Johannes zum Grab und die Erscheinungsszene. Vom 13. Jahrhundert an wurden auch die Auferstehung, die Wächterszene und die Höllenfahrt Christi szenisch dargestellt. Der Wechsel von der lateinischen zur deutschen Sprache machte die Osterspiele populärer. Insgesamt werden die Passionsspiele volkstümlicher, so wird der Jüngerlauf vor allem in Süddeutschland komisch dargestellt. Durch die Aufnahme immer neuer Szenen weitet sich das Osterspiel dann zum mehrtägig dauernden Passionsspiel. Das Passionsspiel erlebte seine Blüte im Spätmittelalter, als es nicht mehr länger in der Kirche, sondern auf dem Marktplatz aufgeführt wurde. Es besteht aus relativ selbstständigen dramatischen Schöpfungen, die ihren Ausgangspunkt bei der Schöpfungsgeschichte und dem Sündenfall Adams und Evas nehmen und mit dem Jüngsten Gericht enden. Bis zu 1000 Mitwirkende sind keine Seltenheit.
Das bekannteste uns überlieferte Passionsspiel ist das Oberammergauer Passionsspiel, das seit 1634 alle 10 Jahre aufgeführt wird. Auslösendes Ereignis war ein Gelübde aus der Zeit der Pest. Dem mittelalterlichen Spiel sieht die heutige Variante jedoch nur noch wenig ähnlich.
Andere geistliche Dramen waren das Fastnachstspiel, das Mysterienspiel und das Weihnachtsspiel (heute im Krippenspiel fortlebend).
Die Commedia dell'Arte ist eine Stegreifkomödie, die den Schauspielern keinen feststehenden Text vorgab, sondern nur Typen und stereotype Handlungsabläufe sowie Verwicklungen, die spontan auf der Bühne variiert und sprachlich ausgestaltet wurden.
Sie wurde im Italien des 16. Jahrhunderts erfunden. Es gibt keine überlieferten Stücke, sondern nur Modellbücher zur Improvisation bestimmter Szenen. Die Typen der Commedia dell'Arte sind in Italien fast sprichwörtlich geworden: der Dottore, ein schwatzhafter, gelehrter Pedant aus Bologna, oder Pantalone, der einfältige Vater, Colombina, die kokette Zofe, der vornehme Kaufmann und der geprellte Ehemann aus Venedig. Aber nicht nur für die Italiener erlangte die Commedia dell'Arte Bedeutung, sie übte auch Einfluss auf die Theaterentwicklung anderer europäischer Länder aus, indem Wandertruppen durch ganz Europa reisten. GOTTSCHED versuchte mit seinen Reformen in Leipzig den Einfluss der Commedia dell'Arte mit ihren eingestreuten Witzen, Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, ihrer Akrobatik und ihren mimischen Scherzen zurückzudrängen.
Zur Darstellung des Geschehens in der Tragikomödie wechseln sich tragische und komische Elemente ab. Sie bewegt sich am Rand des Tragischen, doch bleibt meist die Katastrophe aus. Komik und Tragik steigern sich im wechselseitigen Kontrast.
Als Gattung wird sie erst in der Renaissance definiert. Ältere Definitionen bestimmen die Tragikomödie vom Stoff her, als Nebeneinander hoher und niedriger Personen, wie auch LESSING sie noch als „eine wichtige Handlung unter vornehmen Personen“ versteht, die „einen vergnügten Ausgang hat“. Doch bahnt LESSING ein tieferes Verständnis an, wenn er ihr ein Geschehen zugrunde legt, in dem „der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude oder umgekehrt so unmittelbar erzeugt, dass uns die Abstraktion des einen oder anderen unmöglich fällt.“ (LESSING: Hamburgische Dramaturgie)
In „Minna von Barnhelm“ (PDF 12) gelingt ihm das seltene Beispiel einer gelungenen Tragikomödie. Noch zu nennen wären: HEINRICH VON KLEISTs „Amphitryon“, wo die innere Gefühlssicherheit und Unversehrtheit Alkmene vor dem tragischen Untergang bewahren; GEORG BÜCHNER „Leonce und Lena“; GERHARD HAUPTMANN, der „Die Ratten“ eine Tragikomödie nennt, in der echte Tragik (Frau John) neben Komödienhaftem steht.
Das bürgerliche Trauerspiel ist während der Aufklärung entstanden. In ihm sollen keine Typen mehr Handlungsträger sein, sondern Individuen. Neben JOHANN GOTTLOB BENJAMIN PFEIL (1732–1800) ist es vor allem GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, der dieses Genre auf das deutsche Theater bringt. Dazu sagt LESSING in der Hamburgischen Dramaturgie (Vierzehntes Stück):
„Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.“
[...]„Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen.“
(LESSING: Hamburgische Dramaturgie, Neunundfünfzigstes Stück. Die PDF folgt der Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1995)
LESSING entwickelte die Theorie des „mittleren Helden“, wie er seiner Meinung nach bereits von ARISTOTELES gefordert wurde, weiter. Dabei ist der Zweck des Trauerspiels, Mitleid zu erregen:
„Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.“
(Lessing, Gotthold Ephraim: Briefwechsel über das Trauerspiel, in: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel [1756/57], hg. v. Jochen Schulte-Sasse, München: Winkler, 1972, S. 55)
Als die drei Formen des Mitleids erkennt LESSING: Rührung, Tränen, Beklemmung. Allerdings soll der Zuschauer eine „Fertigkeit im Mitleiden“ bekommen, um einer dieser „beste[n] Mensch[en]“ zu werden. Damit meint LESSING „Menschen von Empfindung und Einsicht“. Um dies zu erreichen, bedarf es eines Individuellen Helden, dessen Leiden an der Welt bzw. an den gesellschaftlichen Zuständen dargestellt werden. Dabei ist es nicht zwingend notwendig, unbedingt einen Bürger als Helden auf der Bühne darzustellen: LESSINGs Heldin „Emilia Galotti“ entstammt dem Adel, so auch „Miss Sara Sampson“ (PDF 13) . Die beiden Frauen sind tugendhaft, das macht sie zu „bürgerlichen“ Heldinnen und vergleichbar mit Luise Millerin aus SCHILLERs „Kabale und Liebe“.
LESSINGs Vorgänger hatten sich noch auf die sogenannte Ständeklausel berufen und die Tragödie mit ihren tragischen Konflikten für den Adel reserviert. LESSING stellte Stoffe „von bürgerlichem Interesse“ auf die Bühne. Ziel war die moralische Selbstvergewisserung der Bürger die sich gegen absolutistische Selbstherrlichkeit richtete (z. B. in „Emilia Galotti“, 1772, von LESSING oder in „Kabale und Liebe“, 1783, von SCHILLER. Beide Werke kreisen um die Wirkung von Macht).
HEBBEL kritisierte in „Maria Magdalena“ (1844, PDF 6) die gesellschaftlichen Zustände seiner Epoche. Er wandte sich gegen die kleinbürgerlich-pedantische Moral der Bürger.
Auch die naturalistischen Dramen HAUPTMANNs oder IBSENs gelten oft noch als bürgerliches Trauerspiel, weil „die Lebenslügen des selbstzufriedenen Bürgers offenbart und Forderungen der Arbeiterklasse gegenüber dem Bürgertum formuliert werden.“
Ein historisches Drama ist ein Drama mit historischer Stoffwahl, wobei unter historischer Stoffwahl im Allgemeinen ein Stoff verstanden wird, der einer Zeit vor der Geburt des Verfassers entstammt.
Einige heute als historische Dramen bezeichnete Schauspiele sind in Wirklichkeit zeitgenössische. „Des Teufels General“ (1946) von CARL ZUCKMAYER thematisiert Vorgänge während der NS-Zeit zwischen 1933 und 1945. Der Autor lebte zwischen 1896 und 1977, kannte die Zeit aus eigener Anschauung.
In historischen Dramen geht es um das Verhältnis des Einzelnen zur Geschichte. Beispiele sind SCHILLERs „Don Carlos“ (1782/87), GOETHEs „Götz von Berlichingen“ (1773) und KLEISTs „Die Hermannsschlacht“ (1808, PDF 15). BRECHT schrieb Historiendramen und verband mit ihnen eine politisch-didaktische Lehre.
Das Revolutionsdrama diente oft der direkten Agitation, Beispiele sind BÜCHNERs „Dantons Tod“ (1835) und PETER WEISS' „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ (1964).
Der Begriff lyrisches Drama hat in der deutschen Theatergeschichte zwei Bedeutungen:
Einerseits sind lyrische Dramen im 18. Jahrhundert Textvorlagen für die Vertonung, dienen also als Grundlage für eine Oper oder ein Singspiel mit melodramatischen Themen, die das Gefühl stark in den Vordergrund stellen, so z. B. GOETHEs „Proserpina“ (1778, PDF 16).
Andererseits versteht man unter der Bezeichnung lyrisches Drama ein sehr handlungsarmes Schauspiel, das sich durch eine lyrisch-stilisierte Sprache auszeichnet und meist durch den Monolog einer Hauptperson tiefe Einblicke in seelische Zustände ermöglicht. Einer der Hauptvertreter im 18. Jahrhundert war KLOPSTOCK. Um 1900 gilt HOFMANNSTHAL als der lyrische Dramatiker schlechthin.
Bereits in den frühen Formen der Komödie und im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts wurden gesellschaftliche Verhältnisse der niederen sozialen Schichten behandelt. Als soziales Drama im eigentlichen Sinne bezeichnet man das Drama, das in engem Zusammenhang mit der sozialen Frage in der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts steht, vor allem das Mitleidsdrama des Naturalismus. Die Grenze zur sozialistischen Dramatik nach der Jahrhundertwende ist fließend.
Naturalistische Dramen (1890–1905/1910) bzw. Dramentheorien schrieben
in Skandinavien
AUGUST STRINDBERG („Fröken Julie“ (1889, dt.: Fräulein Julie),
HENRIK IBSEN („Nora“, PDF 17, „Ein Volksfeind“, PDF 18, „Peer Gynt“, PDF 20, „Die Stützen der Gesellschaft“, PDF 14).
In Deutschland war GERHART HAUPTMANN („Die Weber“, 1892) der Hauptvertreter des naturalistischen Dramas. Seine Vertreter wollten die exakte Wiedergabe der Wirklichkeit erreichen. Mit naturwissenschaftlichem Blick wollte man eine Analyse der sozialen Situation der Menschen leisten. Die Darstellung des Elends der ausgebeuteten Schichten steht deshalb oft im Mittelpunkt. Alkoholprobleme, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit werden thematisiert. Es ging den Naturalisten um möglichst detailgetreue Milieuschilderung und Wahrscheinlichkeit des Geschehens. Häufig genutzt wurde das Drama der geschlossenen Form.
Theoretisch fundiert und auch in der Bühnenpraxis erfolgreich wurde das Lehrstück vor allem durch die theaterpraktische Arbeit BRECHTs (episches Theater).
„Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt wird, nicht dadurch, dass es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig“
(Brecht, Bertolt : Zur Theorie des Lehrstücks. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 1024).
Es sollte politisches Denken und Verhalten eingeübt werden. Die Entwicklung des Lehrstück steht in engem Zusammenhang mit den sozialistischen Versuchen zum Aufbau eines eigenen Arbeitertheaters.
Im epischen Theater wird die Welt als veränderlich dargestellt. Das Theater will den Zuschauer aktivieren, zwingt ihn (auch zu politischen) Entscheidungen. Nicht die aristotelische Einfühlung des Zuschauers wird angestrebt. BERTOLT BRECHT vollzog einen Bruch mit der Tradition der Dramatik. Katharsis und Furcht und Mitleid schloss er als Wirkungen aus. Vielmehr soll der Zuschauer sich mit dem Gesehenen auseinandersetzen, er soll Handlungsmöglichkeiten haben und verändernd eingreifen können. Gegen die Einfühlung des Zuschauers in das Bühnengeschehen wird der Verfremdungseffekt (V-Effekt) eingesetzt. „Die reine Abbildung der Wirklichkeit soll gebrochen werden und die unsichtbaren Vorgänge sollen sichtbar gemacht werden.“ (KLOTZ). Das epische Theater appelliert an Gefühl und Verstand des Zuschauers.
Unter absurdes Theater versteht man eine Form des modernen Theaters, das versucht, die Sinnentleertheit und Absurdität menschlichen Verhaltens und somit der Welt darzustellen.
Da sich traditionelle religiöse und metaphysische Bindungen als nicht tragfähig erwiesen haben, wird der Mensch, der sein Leben als sinnlos erkannt hat, in seiner existentiellen Angst vorgestellt. Statt einer kontinuierlichen Handlung findet sich eine Mischung aus szenischen Situationseinfällen, Sprachspielen, Clownsnummern oder pantomimischen Einlagen. Sprache wird zum Spielzeug, die Figurenrede ist keinem genau zu definierenden Gegenstand zuzuordnen. Obwohl die Figuren reden, findet keine Kommunikation, kein Gedankenaustausch statt. Eine Identität der Figuren ist für den Zuschauer nicht erkennbar, sie zeigen keine individuellen Charakterzüge. Entscheidendes Merkmal des absurden Theaters ist die scheinbare Marionettenhaftigkeit der Protagonisten. Sie gehorchen unverstandenen Mechanismen, die außerhalb ihrer Persönlichkeit liegen und von den Figuren nicht beeinflusst werden können. Sie haben in ihrer Rollenhaftigkeit jeglichen Sinn eingebüßt und agieren gleichsam als Spiegelbild eines funktionslos gewordenen Menschen.
Beispiele sind SAMUEL BECKETTs Drama „Warten auf Godot“ (frz.: „En attendant Godot“), und die Werke von EUGEN IONESCO. Im deutschsprachigen Raum finden sich nur wenige Autoren (GÜNTER GRASS, WOLFGANG HILDESHEIMER, PETER HANDKE). Als Vorläufer des absurden Theaters werden die Stücke ALFRED JARRYs (insbesondere „Ubu roi“, 1896, deutsch: „König Ubu“) angesehen.
Auch AUGUST STRAMMs „Geschehen“ (PDF 19), das nur aus wenigen, sich ständig wiederholenden Wörtern besteht und sich eigentlich als expressionistisches Drama versteht, kann als vorbildhaft für das absurde Theater angesehen werden.
Eine spezielle Form absurden Theaters stellt das Theater der Grausamkeit ANTONIN ARTAUDs dar, das bisweilen ins Makaber-Gewalttätige umkippt.
Das Absurde wurde nicht nur im Drama zum literarischen Prinzip. Auch in der Prosa fand es Anwendung, so u. a. in RAIMOND QUENEAUs grotesk-absurdem Roman „Zazie dans le métro“ (1959, „Zazie in der Metro“), der sich des Collage- bzw. Montagestils bedient und französische Alltagssprache mit Neologismen und Wörtern aus der Gauner- und Bettlersprache verbindet.
Das Dokumentartheater steht in der Tradition BRECHTs und des epischen Theaters. Seine Vertreter bringen historisch-authentische Szenen oder Quellen auf die Bühne.
Beispiele für dokumentarisches Theater sind „Der Stellvertreter“ (1963) von ROLF HOCHHUTH, HEINAR KIPPHARDTs „Bruder Eichmann“ (1983) und „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ (1963–1964) sowie „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ (1965) von PETER WEISS.
„Die Ermittlung“ versucht den Auschwitz-Prozess (1963–1965) szenisch darzustellen. WEISS wählte aus den Aussagen der 18 Angeklagten (Angehörige des Aufsichts-, Sanitäts- und Wachpersonals von Auschwitz) und der 300 Zeugen Quellen aus, die er dann für sein Stück verwendete.
BERTOLT BRECHT konzipierte in einigen seiner Stücke eine gleichnishafte Handlung als Parabel (z. B. „Der gute Mensch von Sezuan“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“).
Parabelstücke sollten unterhalten und belehren. Sie vereinfachten existierende gesellschaftliche Phänomene, wie das Verhältnis von Geist und Macht bzw. Macht und Moral, aber auch der Verantwortung des Einzelnen im Verhältnis zum Wahn einer Masse.
Vertreter des Parabelstücks sind MAX FRISCH („Andorra“, 1961) und FRIEDRICH DÜRRENMATT („Die Physiker“, 1962).
„Andorra“ untersucht, wie versteckte antisemitische Antipathien plötzlich aufbrechen und die bisher Schuldlosen zu Schuldigen werden lässt.
Lesedramen sind dramatische Texte, die aus räumlichen oder technischen Gründen nicht aufführbar sind.
Das Lesedrama kann aus verschiedenen Gründen unspielbar sein: Meistens ist das Figurenensemble zu groß oder aber die Wahl des Schauplatzes ist technisch nicht zu verwirklichen.
GOETHEs „Faust II“ sowie KARL KRAUS' „Die letzten Tage der Menschheit“ (1919, PDF 21) sowie SENECAs „De morte Claudii Caesaris“ galten lange als unaufführbar. Mit den technischen Verbesserungen im modernen Theater gelang es, sie auf die Bühne zu bringen. HENRIK IBSENs Lesedrama „Peer Gynt“ (PDF 20) wurde durch EDVARD GRIEG für das Musiktheater adaptiert und auf diesem Wege aufführbar gemacht.
Der Einakter besteht aus einem einzigen Akt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden, wird er im 20. Jahrhundert sehr beliebt. Auf einen komplizierten Handlungsablauf wird verzichtet, auch die Szenen wechseln kaum. Inhaltlich geht es zumeist um kleine Begebenheiten, die allerdings von ihrem Ende her aufgerollt werden. Sie sind meist geringeren Umfangs. Es gibt aber auch abendfüllende Einakter (z. B. STRINDBERGs „Fräulein Julie“, LESSINGs „Philotas“ 1759, PDF 22, KLEISTs „Der zerbrochene Krug“).
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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