Erzählhaltung

Als Erzählhaltung wird die Art, wie der Erzähler mit dem Geschehen und den Figuren innerhalb der Erzählung umgeht, bezeichnet. Dabei kann der Erzähler lediglich in Außenansicht (das Außen einer Figur betrachtend) oder unter Einbeziehung der Innenansicht (Darstellung des Innenlebens einer Figur) Auskunft über die Figuren geben. Beim Erzählvorgang bezeichnet die Erzählperspektive den Blickwinkel, aus dem eine Geschichte dargeboten wird.

Die Erzählhaltung und die Erzählperspektive bestimmen die Erzählsituation.

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Die Erzählsituationen

Die Erzählsituation bezeichnet nach FRANZ KARL STANZEL

  • auktoriale Erzählsituation
  • personale Erzählsituation
  • Ich-Erzählsituation

(„Die typischen Erzählsituationen im Roman“, 1955, „Typische Formen des Romans“, 1964, „Theorie des Erzählens“, 1979).

Um die Erzählsituation zu bestimmen, ist es wichtig, zwischen

  • Autor (Verfasser) und
  • Erzähler

zu unterscheiden. Der Erzähler ist nicht identisch mit dem Autor eines erzählenden (narrativen) Textes.

Der Erzähler ist eine Rolle, ein Medium, das sich der Autor erschafft, um die Geschichte dem Publikum zu vermitteln. Die Erzählsituation wird von der Art und Weise, in welcher der Erzähler in der Geschichte anwesend ist, bestimmt: ob als klar erkennbare Erzählerstimme, wie ein unsichtbarer Marionettenspieler hinter den Personen oder als handelnde Person innerhalb der Geschichte.

Auktoriale Erzählsituation

Der auktoriale Erzähler wird auch oft allwissender Erzähler genannt, weil er wie ein allmächtiger Gott mit den Figuren, den Zeiten und Räumen in der Geschichte schalten und walten kann. Der auktoriale Erzähler steht souverän, in epischer Distanz, über der Geschichte und dem Horizont seiner Figuren, er weiß immer mehr als sie und kann große geschichtliche und räumliche Zusammenhänge überschauen und sie im Erzählerbericht darbieten.

„In den Anfangstagen des Jahres 1523 zog nämlich das kleine Zürcherheer über die Alpen zurück, das wunderlicherweise dem Papsttum Land und Leute gegen Frankreich geschützt hatte, während in der Heimat schon das Evangelium gepredigt wurde.“ (GOTTFRIED KELLER, „Ursula“, 1876, PDF 1)

Der allwissende Erzähler kann aber auch dicht an einzelne Figuren herantreten. Er kann ihr Handeln schildern, ja, er kann in ihr Gefühlsleben schauen.

„Unter den stattlichen Männern, die in der Nähe des Banners ritten, war Ulrich Zwingli selbst, und sein sympathischer Anblick erhellte die Seele des unverwandt schauenden Weibes.“ (GOTTFRIED KELLER, „Ursula“, 1876)

Mitunter tritt der Erzähler heraus aus seiner Rolle, er nimmt gewissermaßen Gestalt an und wendet sich in direkter Ansprache an den Leser:

„Waren wir schon soweit, dass Herr Klöterjahn in die Heimat zurückgekehrt war?“ (THOMAS MANN, „Tristan“, 1903)

Die auktoriale Erzählsituation ist immer eine Er- oder Sie-Erzählung, von den Figuren wird in der dritten Person berichtet.

Personale Erzählsituation

Die personale Erzählsituation erzählt in der Er- oder Sie-Form. Idealerweise wird das Geschehen aus dem Blickwinkel einer Person mitgeteilt. Folglich erfährt der Leser die Geschichte aus der Perspektive dieser Person und das Mitgeteilte ist auf deren Erfahrungs- und Bewusstseinshorizont eingeschränkt wie beispielsweise in SVEN REGENERs Roman „Herr Lehmann“ (2001).

„Weg da, Scheißkerl“, sagte Herr Lehmann, aber jetzt, wo sich das häßliche Tier so vertrauensvoll und haltsuchend an ihn schmiegte, tat es ihm bißchen leid."

Streckenweise, vor allem in den Dialogpassagen, scheint der Erzähler fast vollkommen hinter seine Personen zurücktreten.

Stand das in der Zeitung? Ja, aber wo? Müßten wir Gesine fragen, die liest doch immer Zeitung, Aber nur die New York Times. Wo ist sie denn? Mrs. Cresspahl ist nicht in ihrem Büro. (UWE JOHNSON, „Jahrestage“, Bd. 1, 1970)

Man spricht von einer Multiperspektive, wenn die Erzählperspektive zwischen den Personen wechselt. Dies ist häufig in den psychologischen Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall. Um die Sichtweise einer Romanfigur zu verlassen und die einer anderen anzunehmen, bedarf es in der Regel der Einmischung und Vermittlung des auktorialen Erzählers, wie im folgenden Abschnitt aus JANE AUSTENs Roman „Sense and Sensibility“ (dt. „Gefühl und Verstand“, um 1795, 1811) deutlich wird.

Marianne aß mehr und war ruhiger, als ihre Schwester erwartet hatte, wenngleich sie über alle Maßen unglücklich aussah. Hätte sie zu sprechen versucht oder wäre nur die Hälfte von Mrs. Jennings' wohlgemeinten, aber unangebrachten Aufmerksamkeiten in ihr Bewusstsein gedrungen, so hätte sie diese Ruh nicht bewahren können. Aber keine Silbe kam über ihre Lippen, und ihre Geistesabwesenheit ließ sie nicht bemerken, was um sie herum vorging. Elinor, die Mrs. Jennings' Freundlichkeit zu würdigen wusste, obwohl das Überschwengliche daran oft peinlich und manchmal fast lächerlich wirkte, erwies ihr jene Erkenntlichkeiten und erwiderte jene Höflichkeiten, die ihre Schwester nicht selbst erweisen oder erwidern konnte. Ihre gute Freundin sah, wie unglücklich Marianne war, und fühlte, dass ihr alles zugestanden werden mußte, was sie weiniger unglücklich machen konnte – wenn das überhaupt möglich war.
(JANE AUSTEN: „Sense and Sensibility“)

Ich-Erzählsituation

Von einer Ich-Erzählsituation spricht man, wenn der Erzähler zugleich eine Handlungsfigur ist, also nicht außerhalb oder über dem Universum der Figuren steht. Vom auktorialen Erzähler, der sich mitunter auch als Ich-Stimme zu Wort meldet, aber nie als Person Konturen gewinnt, muss der Ich-Erzähler unterschieden werden.
Der Ich-Erzähler kann in sehr unterschiedlichem Maße in das Geschehen eingebunden sein. Immer ist er zweierlei:

  • ein erzählendes und
  • ein handelndes Ich.

Der eine oder andere Aspekt kann mehr im Vordergrund stehen. In THOMAS MANNs berühmtem Roman „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde“ (1947) übernimmt der Erzähler Serenus Zeitblom die Rolle des Chronisten und Biografen, der die Lebensgeschichte Adrian Leverkühns ausbreitet, selbst aber am Rande der Geschichte stehen bleibt.

Eine handelnde Figur neben anderen ist der Erzähler in HERMAN MELVILLEs „Moby Dick“ (1851), der sich mit folgenden Worten einführt:

Nennt mich Ismael. Vor einigen Jahren – wie viele es sind, tut nichts zur Sache –, als mein Beutel so gut wie leer war und an Land mich nichts Besonderes hielt, kam mir der Gedanke, ich könnte ein bisschen zur See fahren und mir den wässrigen Teil der Welt besehen.
(HERMAN MELVILLE: „Moby Dick“)

Die Ich-Erzählsituation lässt den Leser das Geschehen nur aus dem Blickwinkel einer Person nacherleben. Allerdings können mit dieser begrenzten Sichtweise enorme Effekte erzielt werden, so wie in dem frühen Ich-Roman „Simplicissimus“ (1668, PDF 2) von GRIMMELSHAUSEN. Die naive Sicht des einfältigen Simplicissimus bildet einen starken Kontrast zu den geschilderten Gräueln des Dreißigjährigen Krieges.

Von den gefangenen Weibern, Mägden und Töchtern weiß ich sonderlich nichts zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen ließen, wie sie mit ihnen umgiengen. Das weiß ich noch wohl, dass man teils hin und wieder in den Winkeln erbärmlich schreien hörte; schätze wohl, es sei meiner Meuder (1) und unserm Ursele nit besser gangen als den andern.
(HANS JAKOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN, „Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, 1668)

(1) Meuder = Mutter

Eine beliebte Form, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, war der retrospektive (zurückschauende) autobiografische Roman, in dem ein Ich-Erzähler auf seine Vergangenheit schaut. Parodistisch aufgegriffen hat THOMAS MANN dieses Schema im Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (1911/1954), der Vorläufer in autobiografischen Werken wie

  • AURELIUS AUGUSTINUS' „Confessiones“ (um 400),
  • ROUSSEAUs „Les Confessions“ (1782/89) oder
  • THOMAS DE QUINCEYs „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ (1821)

hat. Die Einleitung zu DE QUINCEYs „Bekenntnissen“ von 1822 beginnt folgendermaßen:

An den Leser

Ich lege dir, geneigter Leser, hier einen Bericht über einen denkwürdigen Teil meines Lebens vor. Entsprechend der Bedeutung, die ich ihm beimesse, vertraue ich darauf, daß er sich nicht nur als ein interessanter Bericht erweisen, sondern auch in beachtlichem Maße belehrend sein wird. In dieser Hoffnung habe ich ihn aufgezeichnet und das soll auch meine Entschuldigung dafür sein, daß ich jene Schranken feiner Zurückhaltung durchbreche, die uns sonst meist hemmt, unsere Fehler und Schwachheiten vor der Öffentlichkeit auszubreiten.
(DE QUINCEY: „Bekenntnisse eines Opiumessers “)

Erzählsituationen in modernen Texten

Vor allem erzählende Texte in der Tradition der Moderne zeichnen sich durch Versuche aus, die Allmacht des ordnenden und kommentierenden Erzählers einzuschränken bzw. ihn ganz aus dem Text zu verbannen.

In UWE JOHNSONs Roman „Mutmaßungen über Jacob“ (1959) tritt selten eine Erzählerstimme hervor, es überwiegt die personale Erzählsituation mit Monolog und Dialog. Die Mutmaßungen über den Tod von Jakob Abs, der von der Staatssicherheit in der DDR observiert wurde, wegen seiner Liebe zu Gesine Cresspahl in den Westen ging und nach seiner Rückkehr in die DDR auf ungeklärte Weise auf Eisenbahngleisen zu Tode kam, ist ein polyphones (vielstimmiges) Stimmenorchester derjenigen Menschen, die ihn kannten und nun Mutmaßungen über seinen Tod anstellen.

Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.
Aber er ist doch immer quer über die Rangiergleise und die Ausfahrt gegangen, warum, aussen auf der anderen Seite um den ganzen Bahnhof bis zum Strassenübergang hätt er eine halbe Stunde länger gebraucht bis zur Strassenbahn. Und er war sieben Jahre bei der Eisenbahn.
Nun sieh dir mal das Wetter an, so ein November, kannst keine zehn Schritt weit sehen vor Nebel, besonders am Morgen, und alles so glatt. Da kann einer leicht ausrutschen. So ein Krümel Rangierlok ist dann beinah gar nicht zu hören, sehen kannst sie noch weniger.
Jakob war sieben Jahre bei der Eisenbahn will ich dir sagen, und wenn irgend wo sich was gerührt hat was auf Schienen fahren konnte, dann hat er das wohl genau gehört.

(UWE JOHNSON: „Mutmaßungen über Jacob“)

ALFRED DÖBLINs Geschichte von Franz Biberkopf „Berlin Alexanderplatz“ (1929) ist ein frühes Beispiel eines Montageromans, der sich in der Absicht, das Leben möglichst authentisch darzustellen, vielfältiger, stets wechselnder Erzählsituationen bedient. Immer wieder meldet sich dennoch, manchmal im Ton eines Moritatensängers, eine behäbige Erzählerstimme zu Wort:

Hier sieht jeder, der so weit gelesen hat, welche Wendung eingetreten ist: die Wendung nach rückwärts, und sie ist bei Franz beendet.

Es gibt Passagen szenischer Rededarstellung, die völlig ohne Erzählerkommentar auskommen. Hier ein Gespräch zwischen Franz Biberkopf und dem Zuhälter Reinhold, die beide um das Mädchen Mieze konkurrieren.

„Det wollt ick bloß wissen, Franz, hast ihr wohl sehr gern.“ „Nu hör schon uff von den Mächens und dem Quatsch.“ „Erkundige mir ja bloß. Das kann dir doch nicht beißen.“ „Nee, beißt mir nicht, Reinhold, bloß bei dir, du bist doch mal ein Strolch.“

Mieze hat sich auf ein Stelldichein im Wald mit Reinhold eingelassen, der ein brutaler Gewalttäter ist. In dieser Passage wechseln direkte Rede, erlebte Rede, Rede- und Gedankenfetzen, Autorenkommentar und Bibelzitate, von denen man nicht weiß, ob sie der Figurenrede oder der Erzählerstimme zuzuordnen sind, jäh und unvermittelt:

„Du Hund, den wollteste umbringen, den haste unglücklich gemacht, und jetzt willste mir haben, du Saukerl.“ „Ja, det will ick.“ „Du Saukerl. Dir spuck ick an.“ Er hält ihr den Mund zu: „Willste nu?“ Sie ist blau, zerrt an seiner Hand: „Mörder, Hilfe, Franz, Franzeken, komme.“ Seine Zeit! Seine Zeit! Jegliches seine Zeit, Würgen und heilen, brechen und bauen, zerreißen und zunähen, seine Zeit. Sie wirft sich hin, um zu entweichen. Sie ringen in der Kute. Hilfe Franz.

Reinhold hat Mieze erschlagen und macht sich daran, sie im Wald zu verscharren. Das Kapitel endet in einer Art innerem Monolog, der eine Variante der personalen Erzählsituation ist.

Es ist acht Uhr. Es ist mäßig dunkel. Die Bäume schaukeln, schwanken, War eine schwere Arbeit. Sagt die noch wat? Die japst nicht mehr, das Luder. Das hat man davon, wenn man mit son Aas einen Ausflug macht.

Die Romane der Moderne zeichnen sich durch experimentellen, freien Umgang mit den Erzählsituationen aus, was auch Konsequenzen für die Bewusstseins- und Redegestaltung hat.
In den seltensten Fällen kommen erzählende Texte mit einer Form von Erzählsituation aus, die Gefahr der Monotonie wäre zu groß und die Palette der Darstellungsmöglichkeiten zu klein. In der Regel wechseln Erzählsituationen und Erzählperspektiven. Dann gilt es, die in einem Text bzw. Textabschnitt vorherrschende Form zu erfassen.

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