- Lexikon
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- 5 Literatur und Medien
- 5.1 Ausgewählte literarische und mediale Gattungen
- 5.1.1 Kennzeichen der Epik
- Die Leseerwartung an faktuale und fiktionale Texte
Man unterscheidet
Der Leser hat an Texte, die Fakten mitteilen, andere Erwartungen als an Texte, die er der Dichtung zurechnet (Leseerwartung).
Die Unterscheidung von faktualer und fiktionaler Prosa findet sich bereits In ARISTOTELES ' „ Poetik “ (4.Jh v. Chr.), und zwar in der Feststellung, dass sich Geschichtsschreiber und Dichter dadurch voneinander unterscheiden, „dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“.
Für ARISTOTELES ist die Dichtkunst, die Kunst allgemein, aus dem angeborenen Nachahmungstrieb der Menschen entstanden. Zudem empfinde der Mensch eine natürliche Freude bei der Betrachtung von Kunstwerken, denn das Lernen und (Wieder-)Erkennen bereite ihm Vergnügen.
ARISTOTELES folgend, bedeutet Dichtung also
die künstlerische Nachahmung von Wirklichkeit.
Das Verhältnis von Fiktion und Fakten
Ein reales Geschehen existiert, unabhängig davon, ob es berichtet wird oder nicht. Das epische Geschehen in einem fiktionalen Text existiert hingegen nur, indem es erzählt wird. Damit es erzählt und von einem Leser/Hörer aufgenommen werden kann, muss es gewisse strukturelle Übereinstimmungen zwischen der Realität und dem Mitgeteilten geben, das heißt, der Leser muss die epische Darstellung zur Realität seines Lebens in Beziehung setzen können.
Ein Wirklichkeitsbericht schildert ein Geschehen so, wie der Autor es erlebt hat oder wie es allgemeiner Wissensstand der Epoche ist. Fiktionale Texte geben ein Geschehen nicht realitätsgetreu wieder, sondern so, wie es sich möglicherweise zugetragen haben könnte. Der Autor fabuliert und erzeugt eine Wirklichkeitsillusion, indem er Realitätspartikel und Fiktion vermengt.
Das Maß an Realitätsgehalt bzw. an Hinzufügungen von Erfundenem, Phantastischem, ist von Werk zu Werk, von Genre zu Genre unterschiedlich. Über den Wahrheitsgehalt in „Uncle Toms Cabin“ berichtet HARRIETT BEECHER STOWE.
Einem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts ist zweifellos ein größerer Realitätsgehalt zuzusprechen als einem Märchen oder Science-Fiction-Roman.
Betrachten wir im Folgenden zwei sehr unterschiedliche Texte im Hinblick auf das Verhältnis von Fiktion und Fakten: THOMAS MANNs „Buddenbrooks“ (1901) und TIM STAFFELs „Terrordrom“ (1997). Beide Romane wurden von jungen Männern geschrieben, beide Romane fangen die Stimmung am Ende eines Jahrhunderts ein, beide Romane sind fest „verortet“, der eine in der ehrwürdigen Hansestadt Lübeck, der andere in der alten und neuen deutschen Hauptstadt Berlin, und beide behandeln auf ihre Weise die Auflösung von vermeintlich Festgefügtem.
Ein literarischer Textmischt Realitätselemente mit Erfundenem/Fiktionalem. Deshalb wird auch das Fiktionale vom Leser für möglich gehalten.
Äußere Fakten und innere Vorgänge
In einem Gebrauchstext wie beispielsweise einer Dichterbiografie werden die äußeren Fakten und Ereignisse aus dem Leben eines Dichters berichtet: Geburts- und Sterbedatum, Ausbildung, Erscheinungsdaten der Werke usw. Ein literarischer Text gibt hingegen auch über das Innenleben seiner Figuren Auskunft. Der Leser erfährt vom Erzähler, was seine Figuren denken, empfinden, meinen, wünschen, glauben und hoffen. Diese „ Verben der inneren Vorgänge “ (KÄTHE HAMBURGER), die in den verschiedenen Formen der erlebten Rede und der Bewusstseinswiedergabe auftauchen, unterscheiden einen fiktionalen Text von einem Sachtext.
Die Biografie des livländischen Dichters JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ (1751–1792) ist bekannt, die Werke, die er als junger Mann schuf, gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Sturm-und-Drang-Dichtung. Das biografische Interesse an LENZ richtet sich vor allem immer wieder auf seine demütigende Ausweisung aus Weimar nach dem Bruch mit GOETHE und die bald darauf ausbrechende schizophrene Erkrankung nach einem Jahr des Herumirrens in der Schweiz. Während des ersten schweren Schubes der Krankheit im Januar 1778 fand LENZ bei dem Pfarrer OBERLIN im elsässischen Waldersbach Aufnahme. Gerade diese unglückliche Phase im Leben des Dichters hat am meisten Beachtung erfahren, denn GEORG BÜCHNER hat 1835 nach den Aufzeichnungen des Pfarrers OBERLIN ein beeindruckendes Novellenfragment geschaffen, gleichsam einen Befund der Symptome der Krankheit, aber auch einen Versuch, der Persönlichkeit des Dichters LENZ, seinem Leiden am Leben und seiner visionären Bilder habhaft zu werden.
„Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ Mit diesem biografischen Fakt beginnt die Novelle. Die nächsten Sätze beschreiben den nasskalten düsteren Wald, den LENZ durchquert, und übersteigen die rein faktische Mitteilung, indem sie auf den inneren Zustand LENZ' verweisen, der schon im fünften Satz beschrieben ist. „Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“
Ein literarischer Erzähltext beschreibt auch das Denken und Fühlen einzelner Figuren.
Die Tempusformen in faktualen und fiktionalen Texten
Ein Wirklichkeitsbericht, wie ihn beispielsweise eine Dichterbiografie darstellt, bezieht sich auf ein vergangenes, abgeschlossenes Geschehen und präsentiert es in der Tempusform des historischen Präteritums/Imperfekts.
Auch ein Erzähltext setzt ein Geschehen als vergangen voraus, denn nur was vergangen ist, kann erzählt werden. Der entscheidende Unterschied zum Wirklichkeitsbericht liegt darin, dass der Leser durch die Art der Gestaltung in das Geschehen hineingezogen wird, er es als gegenwärtig empfindet. Dabei kommt nicht nur das „epische Präteritum“ (KÄTHE HAMBURGER) in Gebrauch, sondern auch andere Tempusformen, insbesondere in Passagen, die aus der Perspektive einer handelnden Figuren erzählt sind. Es werden sogar Zeitadverbien verwendet, die auf eine andere Zeitebene verweisen. Der Leser akzeptiert diese Rückwendungen und Vorausdeutungen, wenn sie sich in den Erzählfluss einfügen und er sie als logisch empfindet. („Er ist achtunddreißig geworden. Bald wird es wieder schneien. In der Nacht werden die Flocken wie Asche herabsegeln.“ – THOMAS LEHR, „Nabokovs Katze“, 1999)
Ein fiktiver Erzähltext lässt
vergangenes Geschehen als gegenwärtig erleben.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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