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- Begriff und Programm des Realismus
Realismus als Begriff beschreibt das Verhältnis des Menschen zum realen Leben, als Philosophie oder Kunstauffassung ein immer wiederkehrendes und im 20. Jahrhundert heftig umstrittenes Phänomen, hier als Bezeichnung für eine Epoche bzw. einen Zeitabschnitt in der Kunstgeschichte.
Das Attribut poetisch haben sich die Zeitgenossen selbst gegeben. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass ihre Texte trotz Realitätsnähe von Menschen geschaffene Kunstprodukte sind. Der Zusatz wurde auch als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen realistischen Kunstströmungen, vor allem des 20. Jahrhunderts (magischer Realismus, Neorealismus u. a.) beibehalten.
Der Begriff bürgerlich er Realismus trifft hier auch insofern zu, als die meisten Autoren aus bürgerlichen Verhältnissen kommen. Andere Benutzer beschreiben damit eine politische Tendenz oder Richtung der Texte, wodurch Texte der realistischen Literatur den Beinamen „Tendenzliteratur“ erhielten.
Kritisch beschreibt eine besondere Qualität, meist in Polemik, wenn dem Benutzer soziales Engagement der Kunst wichtig ist. Dieses Attribut steht für
In Deutschland verbindet man mit dieser Bezeichnung Werke von THOMAS und HEINRICH MANN. Ihre Kritik galt den bürgerlichen Emporkömmlingen der neuen Zeit im Gegensatz zu denen, die in der Tradition humanistischen Denkens standen. Jene waren jedoch nicht nur in der Minderheit sondern, wie ihre Gegenspieler, Zeichen eines nicht wiederkehrenden alten, scheinbar harmonischen und ruhigen Zeitalters, das das 19. Jahrhundert bei allen Problemen für die Zeitgenossen noch darstellte.
Programm des poetischen Realismus : Ab 1849–1850 wurde der poetische Realismus in Deutschland zur dominanten Richtung; einige Werke weisen bereits auf den Naturalismus (DROSTE-HÜLSHOFF, GOTTHELF) hin. Desillusionierung und Umorientierung nach der Revolution, die Reichseinigung als allgegenwärtiger Wunsch prägten das zeitgenössische Bewusstsein. Im Kreis der poetischen Realisten findet man verschiedene politische Standpunkte. In der Regel haben die Autoren und Autorinnen das Alter von 30 Jahren und mehr überschritten; fast alle sind zwischen 1810 und 1820 geboren. Sie pflegten kaum Kontakt miteinander und hatten spät mit dem Schreiben von Erzählprosa begonnen. Wichtige Werke des poetischen Realismus gehören zum Alterswerk der Autoren.
Sie erzählen von den Möglichkeiten der Persönlichkeit in einem begrenzten Lebensbereich, meist im Privatleben, nachdem in der nachrevolutionären Zeit das öffentliche Leben uninteressant oder fremd geworden war. Die Geschichten spielen je nach Erlebnisbereich der Autoren im ländlichen bzw. kleinstädtischen Milieu. Integre Haltungen verbinden sich oft mit Figuren aus der klein- oder mittelbäuerlichen bzw. kleinbürgerlichen Schicht, häufig im Kontrast zu Figuren aus dem Adelsmilieu bzw. tatenlosen Kleingeistern.
OTTO LUDWIG (1818–1865) sagte über den poetischen Realismus:
„Es ist eine ganze Welt; in Geschlossenheit so mannigfaltig wie das Stück wirklicher Welt, das wir kennen, Raum und Zeit sind nichts als Rahmen, Stetigkeit des Vorganges und Mittel dazu. [...] Eine Welt, die in der Mitte steht zwischen der objektiven Wahrheit in den Dingen und dem Gesetze, das unser Geist hineinzulegen gedrungen ist, eine Welt, aus dem, was wir von der wirklichen Welt erkennen, durch das in uns wohnende Gesetz wiedergeboren. Eine Welt, in der die Mannigfaltigkeit der Dinge nicht verschwindet aber durch Harmonie und Kontrast für unsern Geist in Einheit gebracht ist; nur von dem, was dem Falle gleichgültig ist, gereinigt. Ein Stück Welt, solchergestalt zu einer ganzen gemacht, in welcher Notwendigkeit, Einheit, nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht sind.“
(In: Otto Ludwig: Der poetische Realismus aus den Jahren 1858-1860. Hg. von M. Heydrich. Halle: Genesius. 1911. S. 196f.)
Nicht selten spielte eine volkserzieherische Absicht beim Schreiben eine Rolle. Volk und Nation waren die Basis des neuen Realismus. Die größten literarischen Leistungen entstanden als Erzählprosa, in Form des Romans und der Novelle. In der Lyrik gab es trotz großer Kunstfertigkeit kaum Neues. Auch im Drama schien es vielen Autoren unmöglich, die soziale Vielschichtigkeit und die unterschiedlichen politischen Strömungen der Zeit darzustellen. Für die Ausbildung des deutschen Romans sowie des Nachdenkens darüber spielte die Vermittlung der englischen Realisten wie CHARLS DICKENS (1811–1870), WILLIAM MAKEPEACE THACKERAY (1811–1863) und vor allem Sir WALTER SCOTT (1771–1832) eine große Rolle.
Einer der wichtigsten Propagandisten war der Herausgeber des „Grenzboten“, JULIAN SCHMIDT (1818–1886), der gleichzeitig seine Aufgabe darin sah, vor dem Realismus BÜCHNERs, DICKENS' oder HUGOs zu warnen, da diese die sittliche Bildung und die Geschmacksentwicklung des Lesers negativ beeinflussen könnten (Ein Beispiel für realistische Dramatik stellt BÜCHNERs „Dantons Tod “ dar).
JULIAN SCHMIDT: „Der neuste englische Roman und das Princip des Realismus“
„Unter den neusten Stichwörtern ist eins der beliebtesten das Princip des Realismus. Seit den großen Erfolgen der Dorfgeschichten spricht man auch in Deutschland von einer realistischen Schule; in Frankreich existiert sie schon seit Victor Hugo, und in England führt sie in diesem Augenblick ganz unumschränkt die Herrschaft über alle Gattungen der schönen Kunst. ... Und hier ist noch eine bestimmte Seite hervorzuheben, ... , nämlich die satirische Richtung der neusten Poesie (DICKENS' „Nickelby“ oder „Oliver Twist“). Der eigentliche Realist in seiner reinsten Erscheinung wird nur selten satirisch, das heißt, er geht nur selten von der Absicht aus, durch seine Darstellung auf bestimmte Schäden der Gesellschaft aufmerksam zu machen und zur Abhilfe derselben beizutragen, weil in diesem Vorhaben wieder etwas Dogmatisches, wieder eine Auflehnung gegen das Recht der Natur liegen würde.“
(JULIAN SCHMIDT: „Der neuste englische Roman und das Princip des Realismus“ In: Die Grenzboten 15/4, 1856)
Nicht selten unterstellten zeitgenössische Kritiker diesen Autoren reine Sensationslust. SCHMIDTs Ideal war die Erziehung des Lesers zum Schönen und Erhabenen. In der Analyse der Romane von SCOTT bildete sich der Terminus „ mittlerer Held “ heraus, ein Individuum, das die einzelnen Handlungsstränge verbindet, was die Harmonie der Gesamtkomposition garantieren und damit dem Ganzen den Schein eingefangener Totalität verleihen sollte. Auch FONTANE teilte diesen Standpunkt.
THEODOR FONTANE: Aus „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“ (1853, PDF 1):
„Vor allem verstehen wir nicht [unter dem Programm] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. ... es ist noch nicht lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber ... u.dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeigt zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.“ (ebenda)
Poetisch und realistisch sollten die Geschichten sein.
Sie
Um der Produktion den Rang des Künstlerischen geben zu können, musste die Geschichte von Nebensächlichem, Banalem gereinigt und mit einem gewissen Pathos versehen werden; nicht die „nackten“ Tatsachen oder die Genauigkeit einer Photographie interessierten.
Als unkünstlerisch galt die Darstellung von Sexualität und Krankheit sowie des Lebens der Unterschichten und als asozial geltenden Gruppen.
Durch eine gehobene, gewählte Sprache suchten die Autoren einen Weg zwischen den Extremen.
Auch die Lyrik enthielt realistische Elemente (Audio 1).
Im Weinberg
EDUARD MÖRIKEDroben im Weinberg, unter dem blühenden Kirschbaum saß ich
Heut, einsam in Gedanken vertieft; es ruhte das Neue
Testament halboffen mir zwischen den Fingern im Schoße,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen -
Ach! du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)
Lang so saß ich und blickte nicht auf; mit einem da läßt sich
Mir ein Schmetterling nieder aufs Buch, er hebet und senket
Dunkele Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt
Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe?
Lockte die purpurne Decke dich an, der glänzende Goldschnitt?
Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunderblume?
Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muß so glauben, denn immer
Weilest du noch, wie gebannt, und scheinst wie trunken, ich staune!
Aber von nun an bist du auf alle Tage gesegnet!
Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen;
Ja, wohin du künftig die zarten Füße wirst setzen,
Tauet Segen von dir. Jetzt eile hinunter zum Garten,
Welchen das beste der Mädchen besucht am frühesten Morgen,
Eile zur Lilie du - alsbald wird die Knospe sich öffnen
Unter dir; dann küsse sie tief in den Busen: von Stund an
Göttlich befruchtet, atmet sie Geist und himmlisches Leben.
Wenn die Gute nun kommt, vor den hohen Stengel getreten,
Steht sie befangen, entzückt von paradiesischer Nähe,
Ahnungsvoll in den Kelch die liebliche Seele versenkend.
(in: Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, Mit einem Nachwort von Benno von Wiese sowie Anmerkungen, Zeittafel und Bibliographie von Helga Unger, Band 1, München: Winkler, 1967, S. 754)
AUGUST VON PLATENs „ Tristan “ (Audio 2) dagegen zeugt vom Hang des Autoren nach dem besonderen Bild, der besonders eindrucksvollen, „schönen“ Metapher.
Tristan
AUGUST VON PLATENWer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,
Zu genügen einem solchen Triebe:
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!(Was er wünscht, das ist ihm nie geworden,
Und die Stunden, die das Leben spinnen,
Sind nur Mörder, die gemach ihn morden:
Was er will, das wird er nie gewinnen,
Was er wünscht, das ist ihm nie geworden.)Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen
Und den Tod aus jeder Blume riechen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ach, er möchte wie ein Quell versiegen !
(In: August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. Herausgegeben von Kurt Wölfel und Jürgen Link, München: Winkler, 1982, S. 69)
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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