WOLFGANG KOEPPEN wurde am 23. Juni 1906 in Greifswald, Bahnhofstr. 4, als uneheliches Kind der Näherin MARIE KOEPPEN und des Dozenten der Augenheilkunde an der Greifswalder Universität, Dr. REINHOLD HALBEN, geboren. Er wuchs allein bei Mutter und Großmutter auf. 1908 – nach dem Tod der Großmutter – übersiedelte die Mutter nach Thorn (heute Torún, Polen) und später nach Ortelsburg, wo KOEPPEN im Hause des Onkels, dem Baumeister THEODOR WILLE, wohnte. Hier erlebte das Kind den Ersten Weltkrieg. Hier konnte er auch ein Realgymnasium besuchen, dessen Finanzierung sich seine Mutter nicht hätte leisten können.
Erst 1919 kehrte KOEPPEN nach Greifswald zurück und strebte eine Buchhändlerlehre an. Er arbeitet dafür als Laufbursche. Am Greifswalder Stadtheater arbeitete er als Volontär und besuchte nebenbei Vorlesungen zur Theaterwissenschaft, Literaturgeschichte und Philosophie. 1921 arbeitete er auf einer Reise nach Schweden als Schiffskoch. 1924 bekam er am Theater in Wismar ein Engagement. Schon bald zog er nach Berlin, besuchte auch hier Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelm-Universität, konnte sich jedoch ein „richtiges“ Studium nicht leisten.
Als ihm 1926 die Stelle als Dramaturg und Hilfsregisseur mit Spielverpflichtung am Würzburger Theater angeboten wurde, folgte er dem Ruf des dortigen Intendanten sofort, konnte jedoch seine Intentionen – er wollte vorwiegend jüngere Dramatik inszenieren – nicht durchsetzen. Schon nach einer Spielzeilt kündigte KOEPPEN und ging zurück nach Berlin. Hier schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitete an ERWIN PISCATORS „Dramaturgischem Kollektiv“ mit und schrieb für Zeitungen. In Berlin lernte KOEPPEN u. a. ERNST TOLLER, EGON ERWIN KISCH und WALTER MEHRING sowie seinen späteren Verleger BRUNO CASSIRER kennen.
1931 wurde KOEPPEN Feuilletonredakteur beim Berliner „Börsencourier“, später auch Ressortleiter. Diese Stelle hatte er der Vermittlung durch HERBERT IHERING zu verdanken. Für den „Börsencourier“ schrieb KOEPPEN u. a. Theater-, Film-, und Literaturkritiken. 1933 hielt er sich in Paris auf und schrieb Reportagen und Essays.
1934 wurde sein erster Roman veröffentlicht: „Eine unglückliche Liebe“. Das Vorbild für die weibliche Hauptfigur ist die heute in New York lebende Schauspielerin SYBILLE SCHLOSS, die KOEPPEN 1927 in Berlin kennengelernt hatte. Später sahen sie sich in Zürich, in Venedig, in Den Haag. Der Held Friedrich im Roman folgt, wie sein Ebenbild KOEPPEN im Leben, der „Meduse“, ihrem Rufen in Briefen, wo sie sich auch aufhält.
Sibylle weist Friedrichs Liebe ab, sie liebt Bosporus – auch eine Gestalt aus dem „wirklichen Leben“, der spätere Verleger HERBERT KLUGER. Und es ist auch eine Liebe, die scheitern muss vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ereignisse des Jahres 1933, als HITLER Reichskanzler wurde und die linke Intelligenz das Land verließ.
Sein zweiter Roman, den der Autor in Scheveningen/Niederlande schrieb, – KOEPPEN war inzwischen Mitglied der Reichsschrifttumskammer geworden – hieß „Die Mauer schwankt“ und erschien 1935 im Verlag Bruno Cassierer, erreichte jedoch keine große Leserschaft: CASSIERER war Jude und deshalb wurde sein Verlag von den Nationalsozialisten boykottiert. Ohne KOEPPENs Wissen erschien sein Roman jedoch noch einmal unter dem Titel „Die Pflicht“, von den Nazis gefördert. Das Sujet, der Zusammenbruch einer überkommenen Ordnungsmacht, war für sie offensichtlich wichtig genug, das Buch für ihre Zwecke zu missbrauchen. „Die Mauer schwankt“ spielt in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs zwischen 1913 und 1918, also etwa zur Zeit des Ersten Weltkrieges.
In den Niederlanden konnte sich KOEPPEN nicht halten. Obwohl er später namhaften Autoren des Exils begegnete, u. a. ERIKA und KLAUS MANN, die ihn vor einer Rückkehr nach Deutschland warnten, entschloss er sich, 1938 nach Berlin, später nach München zu gehen. Er schrieb Drehbücher, zunächst für die „Tobis-Film“, später für die „Bavaria“ in München. Bis auf das Drehbuch zu GOTTFRIED KELLERs „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, an dem er mit zwei anderen Kollegen arbeitete, wurde keines verfilmt. Seine Arbeit konnte KOEPPEN zunächst auch nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges fortsetzen. Als ihm eine Denunziation durch den Chef der „Bavaria“ drohte (Er warf KOEPPEN vor, sich vor der Einberufung in die Wehrmacht zu drücken), versuchte er sich illegal durchzuschlagen. Dabei kam ihm der Zufall zu Hilfe. Sein Wohnhaus in München wurde von einer Bombe getroffen, fast alle Bewohner kamen um. KOEPPEN aber befand sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin. Er lebte von nun an in Feldafing am Starnberger See bei MARION ULRICH, seiner späteren Frau, die ihn in einem Souterrainzimmer mit Seeblick unterbrachte, und konnte so einer Einziehung zur Wehrmacht entgehen. Nach dem Krieg zog er zurück nach München.
1948 wurde der Roman „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ im Verlag von HERBERT KLUGER, dem „Bosporus“ seines ersten Romans, veröffentlicht. KOEPPEN beschreibt darin die Lebensgeschichte des JAKOB LITTNER, eines jüdischen Kaufmanns in München. KOEPPEN war ihm im Verlagshaus von KLUGER begegnet, und LITTNER beauftragte ihn, seine Aufzeichnungen zu ordnen und für den Druck zu bearbeiten.
„Ich schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte“,
bekannte KOEPPEN später: Mit dem Stoff des anonym erschienenen Buches ging er sehr frei um. 1992 wurde es unter KOEPPENS Namen erneut veröffentlicht.
KOEPPEN berichtet von LITTNER, der 1939 vor der Verfolgung durch die Nazis flieht und den es bis ins Ghetto des galizischen Städtchens Zbaraz treibt. Es ist die letzte Station seiner Flucht, wo er, versteckt in einem Erdloch, überlebt.
KOEPPEN findet sein Thema, er beschreibt das „Sichselbstbefinden in einer Welt, in der dem Selbst der Boden entzogen ist“ (HEISSENBÜTTEL)
1951 erschien mit „Tauben im Gras“ der erste Teil seiner bundesrepublikanischen Trilogie, die bis heute zu den Meisterwerken sozialkritischer Literatur der Bundesrepublik zählt. Damit gelingt KOEPPENder literarische Durchbruch. In „Tauben im Gras“ wird ein einziger Tag in einer deutschen Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Es sind unheroische Helden, die KOEPPEN in vielen parallelen Geschichten vorführt, es sind verunsicherte, existenzgeängstigte, vor sich selbst fliehende Geschöpfe: Seelen-Geschädigte des gerade gegangenen Krieges, die sich nach Normalität sehnen.
Mit dem Titel „Tauben im Gras“ zitierte der noch unbekannte Autor GERTRUDE STEINs „Pigeons on the grass alas“. In den folgenden Romanen „Das Treibhaus“ (1953) und „Der Tod in Rom“ (1954) wird das Wirtschaftswunderklima der Ära ADENAUER zum zentralen Thema. „Das Treibhaus“ ist die Geschichte des Aufstiegs eines Politikers zu Zeiten der Restaurationspolitik ADENAUERs, dessen Pläne – er misstraut der Macht – zum Scheitern verurteilt sind.
Mit „Der Tod in Rom“ nahm KOEPPEN wieder ein Zitat der Literaturgeschichte auf: THOMAS MANNs „Tod in Venedig“. War MANNs Novelle eine Geschichte aus der Zeit vor den großen Kriegen, vor den großen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, die im Namen Deutschlands von Deutschen begangen wurden, greift KOEPPEN bewusst die Zeit nach den Kriegen auf, um sichtbar zu machen, welch ein Verfall der Moral und der Kultur in seinem Heimatland eingesetzt hat und dass dieser „Sittenverfall“ immer noch anhält, oder, wie BRECHT schreibt:„Der Schoß ist fruchtbar noch / aus dem das kroch“. „Der Tod in Rom“ ist die Geschichte um Täter und Opfer, in der Täter auch nach dem Holocaust wieder zu Tätern werden und frühere Opfer wieder ihre Opfer. KOEPPEN beschreibt Typen des Nachkriegsdeutschlands, zum Teil satirisch überhöht. So erzählt er die Geschichte des in Abwesenheit zum Tode verurteilten ehemaligen SS-Generals Gottlieb Judejahn, der im Auftrag eines arabischen Staates Waffengeschäfte organisiert und deshalb – unter falschem Namen – nach Rom fährt. Hier begegnet er seiner ehemaligen Familie. So treffen seine Frau Eva – immer noch eine überzeugte Nationalsozialistin –, sein Cousin Siegfried Pfaffrath – ein homosexueller Musiker – sowie dessen Bruder Dietrich und Judejahn in dessen vornehmem Hotel zusammen. Auch Evas und Gottliebs Sohn Adolf hält sich in Rom auf. Ihn treibt der Wunsch, katholischer Priester zu werden. Auch Ilse Kürenberg, Tochter des „Warenhausjuden“ Aufhäuser, hält sich in Rom auf. Sie ist Gattin des berühmten Dirigenten Kürenberg. Sie alle kennen sich aus der Zeit vor 1933, zumindest haben ihre Biografien Berührungspunkte.
Gottlieb Judejahn (sprechender Name: „Juden jagen“), Antisemit und Militarist, ist ein ewig Gestriger. In seinem Judenhass erschießt er Ilse, bricht selbst kurze Zeit später zusammen und stirbt.
Auch in „Der Tod in Rom“ arbeitet der Autor mit mehreren Handlungssträngen, Überblendungen, Montagen (u. a. Schlager, Werbetexte usw.), Assoziationsströmen und anderen Effekten des „Filmgeschäfts“. Er griff mit seiner Technik auf die Romanästhetik der klassischen Moderne zurück, orientierte sich an JAMES JOYCE („Ullysses“) und ALFRED DÖBLIN („Berlin Alexanderplatz“).
Nach Vollendung seiner Trilogie arbeitete KOEPPEN auf Vermittlung ALFRED ANDERSCHs für den Rundfunk und bereiste u. a. die Sowjetunion, Polen, Frankreich, Großbritannien und die USA. In den Sechzigerjahren erschienen einige dieser Reiseessays, so „Nach Rußland und anderswo“ (1958), „Amerikafahrt“ (1959) sowie „Reisen nach Frankreich“ und „New York“ (1961). 1962 erhielt KOEPPEN den „Georg-Büchner-Preis“ und 1965 den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Die Ehrungen hielten an: 1967 bekam er den Immermann-Preis, im Jahr 1971 den Andreas-Gryphius-Preis. Seit 1972 war KOEPPEN Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik.
1971 wurde der Prosaband „Romanisches Café“ veröffentlicht und fünf Jahre später erschien sein autobiografisch inspiriertes Prosastück „ Jugend “. KOEPPEN berichtet darin über seine Kindheit kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Es ist ein Dokument der Selbstentfremdung des Individuums. Die schon in seiner „Trilogie“ angewendete Romanästhetik der klassischen Moderne wird hier noch einmal verfeinert, sodass sein Werk teilweise fragmentarisch wirkt und an die Grenze des Erzählbaren stößt. Schonungslos, fast selbstverletzt hält KOEPPEN Rückschau. Die Figur, die er beschreibt ist Außenseiter, Asket, Intellektueller, Anti-Bourgeoise.
„Jugend“ wird von der Literaturkritik als KOEPPENs Alterswerk hochgelobt.
1982 wurde dem Schriftsteller der Münchner Kulturpreis verliehen, 1984 wurde er mit dem „Arno-Schmidt-Preis“ geehrt. Im Jahr darauf besuchte er zum ersten Mal nach über 50 Jahren wieder seinen Geburtsort Greifswald. Er weilte anlässlich einer Lesetournee in der DDR. Im Verlag Volk und Welt war sein Band „Jugend“ erschienen.
MARCEL REICH-RANICKI gab 1986 die „Gesammelten Werke in sechs Bänden“ heraus.
Nach der Wende, 1990, verlieh die Universität seiner Geburtsstadt, die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, dem hoch Betagten die Ehrendoktorwürde. 1994 wurde er Ehrenbürger der Stadt.
1991 wurde sein autobiografisches Buch „Es war einmal in Masuren“ veröffentlicht.
Unter KOEPPENs Namen druckte sein Verlag – Suhrkamp – 1992 unverändert den Roman „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ von 1948.
1994 und 1995 erschienen die letzten Veröffentlichungen des Dichters: „Ich bin gern in Venedig warum“ (1994) und „Einer, der schreibt“ (1995).
Am 15. März 1996 starb WOLFGANG KOEPPEN in München.
2000 wurde der Nachlassband „Auf dem Phantasieroß“ veröffentlicht.
Der Nobelpreisträger GÜNTER GRASS, Vorsitzender der Wolfgang-Koeppen-Stiftung, sprach sich vehement für den Aufbau eines Wolfgang-Koeppen-Archivs in der Heimatstadt des Dichters aus. Die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald erhielt den Nachlass des Dichters. In der Bahnhofstraße 4 befindet sich seit einigen Jahren das Wolfgang-Koeppen-Haus, in dem u. a. das Literaturzentrum Vorpommern und das Wolfgang-Koeppen-Archiv ihre Heimstätte gefunden haben.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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