Von Reuter zu Gisander: Der aufklärerische Roman

SAMUEL RICHARDSON etablierte den Briefroman, HENRY FIELDING schrieb den ersten realistischen Roman der englischen Literatur, TOBIAS SMOLLETT machte den pikarischen Roman populär und LAURENCE STERNE gab mit „A Sentimental Journey Through France And Italy“ („Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“, 1768, siehe PDF "Laurence Sterne - Empfindsame Reise") einer ganzen Richtung innerhalb der Aufklärung einen Namen: Empfindsamkeit.

CHRISTIAN REUTERs (1665–nach 1712) „Schelmuffskys Warhafftige Curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande“ (1697, siehe PDF "Christian Reuter - Schelmuffskys warhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande") bereitete den aufklärerischen Roman in Deutschland vor.
Neben dem Erziehungsaspekt wiesen einige Romane utopische Gesellschaftsentwürfe auf. Zu ihnen gehörten GISANDERs (JOHANN GOTTFRIED SCHNABEL, 1692–1751/1758) unter dem sehr barock klingenden Titel veröffentlichter „Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens, Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen“, später nach LUDWIG TIECKs Bearbeitung von 1828 unter „Die Insel Felsenburg“ bekannter utopischer Roman sowie die „Reise eines Erdenbewohners in den Mars“ von CARL IGNAZ GEIGER (1756 –1791).

„Die Insel Felsenburg“ ist die bedeutendste deutsche Robinsonade mit weit über 2000 Seiten. Sie berichtet von einer sozialen Gemeinschaft ohne Privateigentum und Geld, die sich nach einem Schiffbruch auf der Grundlage des Pietismus bildete.
Eberhard Julius, der Ich-Erzähler, wird von seinem Onkel Albert auf die Insel Felsenburg eingeladen und erfährt von dessen Abenteuern. Eberhard macht sich indessen ein Bild vom urkommunistisch-lutherischen Leben auf der Insel. Stände- bzw. Zunftordnungen gelten auf der Insel Felsenburg nicht. Um die niedrigen Arbeiten kümmern sich Affen, die aus dem Familienverband jedoch ausgeschlossen sind und eher sklavisch gehalten werden. Albert Julius steht dieser Gesellschaft patriarchalisch vor. Eingebettet in den Roman sind 22 Autobiografien europamüder Auswanderer, die zunächst geprüft werden, ehe sie in die Gemeinschaft der Inselbewohner aufgenommen werden.
„Die Insel Felsenburg“ fand viele Nachahmer, unter ihnen auch EDGAR ALLAN POEs „Arthur Gordon Pym“.

CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT (1715–1769) war einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Sein Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin von G***“ (1747/1748, siehe PDF "Christian Fürchtegott Gellert - Leben der schwedischen Gräfin von G***") war der erste bürgerliche Roman und eine Mischung aus Brief- und Abenteuerroman .

Die Gräfin von G***, eine livländische Adlige, erzählt die Geschichte ihrer Familie. Mit 16 Jahren wird sie dem schwedischen Grafen von G*** angetraut. Es folgt ein Leben am Hofe, der Gatte zieht in den Krieg, die Gräfin schlägt die Werbungen des Prinzen von S** aus. Der Prinz rächt sich für die verschmähte Liebe, das Paar wird vom Hofe verbannt, der Mann erneut in den Krieg geschickt. In einem Brief erklärt er:

„Ich soll durch das Schwerdt sterben, weil ich es nicht beherzt genug fuer das Vaterland gefuehret habe.“

Die Gräfin und Herr R**, ein bürgerlicher Freund der Familie, fliehen aus Schweden unter Zurücklassung all ihrer Habe, nachdem der Graf für tot erklärt wurde. R** und die Gräfin siedeln sich in Amsterdam an und heiraten. Gräfin von G*** erhält Nachricht, dass der Graf die Gefangenschaft überstanden hat und lebt. Bei seiner Rückkehr treten Herr R** und die Gräfin anstandslos von ihrer Ehe zurück, Herr R** wandelt sich wieder zum guten Freund der Familie. Als der Graf stirbt, heiratet die Gräfin erneut Herrn R**. Eingestreut in diese Erzählung sind Briefe zwischen den Personen.

In dieser recht abenteuerlichen Geschichte werden die Helden immer wieder auf die Probe gestellt ob ihrer Standhaftigkeit gegenüber den Versuchungen des Lebens.
GELLERTs Roman folgte eine ganze Reihe von Familienromanen empfindsamer Prägung nach.

CHRISTOPH MARTIN WIELANDs (1733–1813) Bildungsroman „Geschichte des Agathon“ (1766/1767 erschienen) war nicht als „Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes“ gedacht, „es (wird) erzählt, (wie es) hätte geschehen können“, erläutert der Autor im Vorbericht. Ein gewisser Realismus („Wahrheit“) wird unterstellt, der allerdings auf dem Vernunftprinzip der Aufklärung beruht und sich der „Natur einer jeden Leidenschaft“ unterwirft und ein Werk zwischen „Dichtung und Wahrheit“ (Goethe) zu sein vorgibt. WIELAND macht den Versuch, die innere Entwicklung seines Helden Agathon darzustellen, deshalb setzt er auf Wiedererkennung durch den Leser. Agathon ist nicht das Ideal, sondern die Bildung Agathons soll den Helden idealisch machen. Deshalb besitzt er gute wie schlechte Seiten, die zum einen Momente der Identifikation mit dem Helden bilden, andererseits Ansätze zu seiner Formung darstellen.

Schauplatz des Romans ist Athen. Agathon, der im Tempel aufwächst, begegnet seinem reichen Vater. Durch ihn genießt er Erziehung und Bildung, bekleidet bald ein hohes Amt in der Polis, wird, da er aristokratische Interessen verletzt, von den Athenern verstoßen und muss fliehen. Von Seeräubern gefangen, wird er als Sklave an Hippias verkauft. Mit diesem entspannen sich lange Dialoge um Genuss-Sucht (Materialismus = Hippias) und Ideale (Idealismus = Agathon). Hippias will Agathon zu seinem Nachfolger machen, deshalb versucht er auch mittels der Verführung, den Ziehsohn von seinen Idealen abzubringen.

Die Hetäre Danae verliebt sich in den zu Verführenden, Agathon flieht erneut, nachdem er erfahren hat, wer sie ist. Am Hofe des Dionysios von Syrakus scheitert Agathon daran, die Reformen des Plato zu vollenden. Erst in der Republik Tarent gelingt es ihm, Ideal und Wirklichkeit zu verbinden und seine Reformen zu realisieren.

„Anton Reiser“ (in vier Teilen 1785– 1790 erschienen, siehe PDF "Karl Philipp Moritz - Anton Reiser"), der erste autobiografische „psychologische Roman“ in deutscher Sprache von KARL PHILIPP MORITZ (1756 –1793), berichtet die Geschichte eines Hutmacherlehrlings, die weitgehend der Biografie des Autors entspringt. „Anton Reiser“ stammt wie der Autor aus niederen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Beziehung zu seinen Eltern gestaltet sich problematisch, denn

„seine junge Seele (schwankte) beständig zwischen Hass und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern hin und her“.

Ohne Freunde wächst Anton auf. Seine erste Liebe gilt der Literatur, es gelingt ihm, die Hochschulreife zu erringen, zu studieren, er schließt sich der speichschen Theatergruppe an. Bettelnd um Anerkennung, zerbricht er jedoch an der „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel) und an seiner kranken Seele.

MORITZ führt einen auktorialen Erzähler ein, der das Geschehen um Anton Reiser kommentierend begleitet und beobachtet. Das scheinbar wissenschaftliche Interesse des Erzählers am Gemütszustand Reisers wird durch die sehr distanzierte Erzählhaltung zum Interesse eines Arztes gegenüber seinem Patienten.
Das Interesse des Autors für krankhafte Seelenzustände spiegelt sich bereits in dessen Periodikum „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte“ (1783 –1792, 10 Bände) wider. Hier veröffentlichte MORITZ psychologisch interessante Fallbeispiele und Beobachtungen (Krankengeschichten, Beispiele für Wahnsinn usw.) und greift der späteren Psychoanalyse SIGMUND FREUDs bereits vor.

SOPHIE VON LA ROCHE (1730–1807) schrieb mit der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (1771, siehe PDF "Sophie von La Roche - Geschichte des Fräuleins von Sternheim") das damals wohl bekannteste Werk einer Frau und zugleich den ersten deutschen Frauenroman überhaupt. Sie benutzte in diesem Bildungsroman um die Erziehung „dieser Tochter meines Geistes“ (SOPHIE VON LA ROCHE) den Brief als schriftlichen Dialog und wurde mit ihrem Werk zum Anreger für Goethes „Werther“. LA ROCHE wurde dem hochaufklärerischen Ideal gerecht, indem sie einen Ausgleich zwischen Gefühl und Denken, Erfahrung und Reflexion, Sinnlichkeit und Sittlichkeit suchte.

JOHANN KARL AUGUST MUSÄUS (1735–1787) veröffentlichte zwei pikarische Romane: 1760 – 1762 anonym den Roman „Grandison der Zweite“ (siehe PDF "Johann Karl August Musäus - Grandison der Zweite"), eine Parodie im Stil des „Don Quijote“ von CERVANTES auf RICHARDSONs „Sir Charles Grandison“ und 1778/79 „Physiognomische Reisen“.

MUSÄUS sammelte – wie viele seiner Zeitgenossen – auch Märchen und veröffentlichte sie unter dem Titel „Volksmärchen der Deutschen“ [Erstdruck: Gotha bei Carl Wilhelm Ettinger, 1782–1786 (5 Bde.)].

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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