Szenische Darstellung

Wie wichtig diese Segmentierung ist, zeigt die Arbeit KLEISTs an seinem Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ (siehe PDF "Heinrich von Kleist  - Der zerbrochne Krug"). KLEIST hatte sein Lustspiel als Einakter entworfen. In der Fassung von GOETHE als Dreiakter wurde dieses Stück 1808 in Weimar uraufgeführt und fiel bei Publikum und Kritik durch, obwohl GOETHEs Privatsekretär RIEMER den Misserfolg umzumünzen versuchte:

„Der zerbrochne Krug wurde sehr gut, auch dem Costume nach, gegeben und gefiel im ganzen, ob es gleich zu lang däuchte. Nur einige armselige Patrone unterstanden sich beim Schluß, als applaudiert wurde, zu pochen. Alle Schauspieler hatten sich die größte Mühe gegeben, und wie ungerecht, ja bestialisch, nicht dem Spiel wenigstens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!"
(RIEMER in einem Brief an an Familie FROMMANN, 9. März 1808, in: Sembdner, Helmut: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. München: Dtv, 1996, S. 180)

Andere Augenzeugen waren sich da sicherer:

„Das Sujet [...] ist recht artig. Ein gewissenloser Dorfrichter wird von dem Justizrevisor der Niederlande an einem Morgen überrascht, da er noch die Spuren einer Verwundung vom vorigen Abend an sich trägt. Der Gerichtsrat will einem Gerichtstage beiwohnen, den jedoch der Dorfrichter, da er seine Perücke verbrannt zu haben angibt, im bloßen Kopfe halten muß. Es erscheint ein Bauerweib, die ihren künftigen Schwiegersohn verklagt, daß er, da er ihre Tochter in dunkler Kammer bei einem entflohenen Galan getroffen, ihren historisch merkwürdigsten Krug zerbrochen. Aus dem scheuen Schweigen der Tochter, der Verlegenheit und den Wunden des kahlköpfigen Dorfrichters erraten wir sogleich, daß nur er am Abend unter irgend einem Vorwande bei Jungfer Even gewesen; aber hilf Himmel, hilf! nun müssen wir noch den zweiten und den (das ganze Stück verdarb dritthalb Stunden) eine Stunde währenden, dritten Akt, alles ein einziges Verhör, mit anhören. Dem Erzähler kommt es wohl zu, und wird bei ihm interessant, aber der dramatische Dichter darf die entdeckte Wahrheit nicht so unendlich weit vom endlichen Bekenntnis entfernen. Daß der Verfasser kein Dramatiker ist, beweist seine Unkunde jeder dramatischen Regel."
(Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung, Leipzig, vom 11. März 1808)

GOETHE war, so jedenfalls erscheint es uns aus unserer Position, eben doch kein Genie, wenn es nicht um seine Stücke ging. Der originale kleistsche Einakter wurde ein Welterfolg. Das Stück erschien als Ganzdruck erst im Todesjahr von KLEIST 1811 bei Georg Andreas Reimer in Berlin.

KLEIST drängt das Bühnengeschehen an einem Ort zusammen und lässt die Handlung ohne zeitliche Unterbrechung fortlaufen. Die Figuren verbleiben nach ihrem Auftreten fast ausschließlich auf der Bühne, so dass ihnen keine Möglichkeit bleibt, in ihrer Abwesenheit die Bühnenhandlung nachdrücklich zu beeinflussen.

Grundsätze der Handlungskomposition sind:

  • Konzentration: Nur die Schwerpunkte einer Geschichte können auf der Bühne szenisch dargestellt werden.
  • Auswahl: Zur Darstellung werden deshalb bestimmte Handlungsabschnitte je nach kompositorischem Konzept des Autors ausgewählt.
  • Konvention: Literarische Konventionen sind bei dieser Auswahl zu beachten (Erwartungshaltung der Rezipienten, Anstands- und Sittlichkeitsregeln).
  • Gliederung: Die Gesamthandlung muss in Segmente zerlegt werden, die geeignet erscheinen, repräsentativ für das Ganze zu stehen.

Elemente der Dramenhandlung

Nicht immer lässt sich die dramatische Handlung derartig konzentrieren wie am Beispiel „Der zerbrochene Krug“, in dem nur das Ende einer Geschichte auf der Bühne dargestellt wird.
Die konstituierenden Elemente der Dramenhandlung sollen im Folgenden am Beispiel der Gretchentragödie in GOETHEs „Faust“-Drama (siehe PDF "Johann Wolfgang von Goethe - Faust I") beispielhaft herausgehoben werden. Der Stoff stammt aus zwei Quellen:

  • der Liebe Fausts zu einer einfachen Magd aus der volkstümlichen Faust-Tradition und
  • dem Fall der Frankfurterin Margaretha Brandt, die 1772 als Kindsmörderin hingerichtet wurde.

Das Motiv der Kindsmörderin war ein typisches Motiv der Dramatiker des Sturm und Drang.
GOETHE änderte das Thema der Faustsage allerdings dahingehend, dass er Gretchen in seinem Drama zur Gegenspielerin Mephistos aufbaut und am Ende die Kraft der Liebe über die Teufelsmacht triumphieren lässt.

Vom Aufbau her ist die Gretchentragödie ein synthetisches Drama. Der entscheidende Vorfall wird in der Handlung selbst vorbereitet und ereignet sich im Höhepunkt. Die Komposition der Gretchenhandlung von der ersten Begegnung bis hin zur Katastrophe (Niederkunft, Kindsmord, Gerichtsverfahren) schließt sämtliche äußeren Höhepunkte aus dem Bühnengeschehen aus.

Den Zuschauern werden nur Bruchstücke der insgesamt mindestens ein Jahr dauernden Handlung vorgestellt. Der Phantasie des Zuschauers bleibt es überlassen, daraus ein Handlungsganzes herzustellen.

Im Gegensatz zur Handlung in KLEISTs Lustspiel konzentriert sich GOETHE auf die Darstellung der inneren Vorgänge der Hauptfiguren. Die lange Zeit der Schwangerschaft, die in Szene 13 angekündigt wird, überbrückt GOETHE mit der Walpurgisnacht-Szenenfolge (14), während der Szene 15 der Kindsmord bereits vorausgegangen ist und Gretchen sich schon im Kerker befindet. Der Einsatzpunkt (point of attack) der Bühnenhandlung liegt zwar am Beginn der Handlung, das bruchstückhafte Geschehen auf der Bühne spiegelt aber nur die Fortsetzung dessen wider, was sich hinter der Bühne bereits abgespielt hat. Das Problem, unmöglich die ganze Handlung auf der Bühne darstellen zu können, löst GOETHE hier durch Schnitte und Unterbrechungen. Die zahlreichen Leerstellen muss der Rezipient unter Zuhilfenahme der Andeutungen aus dem Bühnengeschehen füllen.

Weitere Merkmale der dramatischen Gattung

Hier zeigt sich ein weiteres epochenübergreifendes Merkmal der dramatischen Gattung: das Verhältnis von szenisch dargebotenen und vom Zuschauer ergänzten Handlungsteilen.

Von dieser nicht gezeigten Handlung muss allerdings die verdeckte Handlung unterschieden werden, die der Zuschauer zwar nicht als Aktion auf der Bühne vorgeführt bekommt, über deren Verlauf ihm aber auf der Bühne mitgeteilt wird.
Der Botenbericht lässt vergangene Ereignisse, die in räumlicher und zeitlicher Entfernung zum Bühnengeschehen stehen, von einer Figur erzählen. Meist handelt es sich dabei um technisch schwer darstellbare Begebenheiten, die

  • in der Zwischenzeit außerhalb der Bühnenhandlung geschehen sind,
  • um Ereignisse, deren Darstellung die Moral verbietet, oder
  • um Handlungselemente, die der Wahrscheinlichkeit der Darstellung abträglich sind.

Als weiteres dramentechnisches Mittel wird die Mauerschau eingesetzt, um gleichzeitiges Geschehen, das sich außerhalb des Bühnenraums abspielt, darzustellen. Sie ist eng verwandt mit dem Botenbericht, unterscheidet sich jedoch dadurch von ihm, dass sie nicht von vergangenen, sondern von gegenwärtigen Ereignissen erzählt. Der Berichtende nimmt meist einen erhöhten Standpunkt ein (auf einer Mauer, einem Turm, einem Hügel usw.) und beobachtet einen Vorgang, der auf der Bühne nicht oder nur schwer darstellbar ist (Schlachten, einen Schiffsuntergang). Seine besondere dramatische Qualität erhält er vor allem durch die Gleichzeitigkeit des von ihm Beschriebenen, wodurch die hier erzeugte Spannung und Suggestion im Vergleich zum Botenbericht ungemein erhöht wird.

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