Synästhesie

In der Literaturwissenschaft bedeutet Synästhesie, dass sich zwei oder mehr Sinneseindrücke vermischen. Beschreibt ein Autor also gleichzeitig

  • Gehör- und Sehsinn,
  • Geruchs- und Tastsinn,
  • Sehen, Riechen, Schmecken,

dann haben wir es wahrscheinlich mit einer Synästhesie zu tun.

Beispiele

CLEMENS BRENTANO

Abendständchen

Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder
Stille, stille, lass uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht!

(Brentano, Clemens . Werke, Bd. 1.München: Carl Hanser Verlag, 1968, S. 144-145.)

 

RAINER MARIA RILKE

Spätherbst in Venedig

Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt,
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick.
Und aus den Gärten hängt

der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
Aber vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf: als sollte über Nacht

der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
um schon die nächste Morgenluft zu teeren

mit einer Flotte, welche ruderschlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.

(Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M.: Insel, 1955–1966, S. 609-610.)

 

ARTHUR RIMBAUD

Vokale

A schwarz E weiß I rot U grün O blau - vokale
Einst werd ich euren dunklen ursprung offenbaren:
A: schwarzer samtiger panzer dichter mückenscharen
Die über grausem stanke schwirren schattentale.

E: helligkeit von dämpfen und gespannten leinen ·
Speer stolzer gletscher blanker fürsten wehn von dolden.
I: purpurn ausgespienes blut gelach der Holden
Im zorn und in der trunkenheit der peinen.

U: räder · grünlicher gewässer göttlich kreisen
Ruh herdenübersäter weiden · ruh der weisen
Auf deren stirne schwarzkunst drückt das mal.

O: seltsames gezisch erhabener posaunen ·
Einöden durch die erd- und himmelsgeister raunen.
Omega - ihrer augen veilchenblauer strahl.

aus dem Französischen von Stefan George

(George, Stefan: Zeitgenössische Dichter. Übertragungen, Zweiter Teil: Verlaine, Mallarmé, Rimbaud, de Regnier, D'Annunzio, Rolicz-Lieder, Gesamt-Ausgabe der Werke, Endgültige Fassung, Band 16, Berlin: Georg Bondi, 1929. S. 47.)

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