Sommerstück

Entstehung

CHRISTA WOLF schrieb das Buch „Sommerstück“ nach eigenen Angaben „bis 1982/83…Teile davon parallel zu ‚Kein Ort. Nirgends' “.

Das Buch beschreibt das „Leiden an Verhärtungen und die Sehnsucht nach Bewegungs-Freiheiten“. Es erschien 1989 im Luchterhand Verlag.

Fakt und Fiktion

CHRISTA WOLF greift hier, ähnlich wie auch schon in „Nachdenken über Christa T.“ wirkliches Geschehen auf, obwohl sie im Nachsatz zum „Sommerstück“ die eher juristisch relevante Formulierung verwendet, dass alle „Figuren in diesem Buch …. Erfindungen der Erzählerin“ seien.

Das Stück spielt 1975, zwei Jahre bevor die Freundin SARAH KIRSCH die DDR verließ und vorher noch mit ihrem Sohn MORITZ bei den Freunden im mecklenburgischen Haus CHRISTA WOLFs weilte.

KIRSCH erholte sich bei ihrer Freundin CAROLA, deren Mann Grieche ist, von ihrer Liebe zu dem (West-) Berliner Schriftsteller CHRISTOPH MECKEL, über den sie im Gedichtband „Rückenwind“ das Gedicht „Herzensschöner“ schrieb. Sie fühlte sich wohl, weil man unter Freunden war, schrieb die Autorin in „Allerlei-Rauh/Eine Chronik“.

Motto des „Sommerstücks“

Motto: Vorangestellt ist dem „Sommerstück“ ein Gedicht von SARAH KIRSCH:

Raubvogelsüß ist die Luft
So kreiste ich nie über Menschen und Bäumen
So stürz ich nicht noch einmal durch die Sonne
Und zieh was ich raubte ins Licht
Und fliege davon durch den Sommer!

(Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2005)

Im Buch bedroht der Brand eines nahe gelegenen Feldes das strohgedeckte Haus der Erzählerin irgendwo zwischen Schwerin und Wismar. Es brannte am Ende dieses Sommers tatsächlich ab (Die Motivik dieses Sommers verwendete WOLF später auch in dem Gedicht „Unbeweglich“).

„Sommerstück“ nimmt Motive TSCHECHOWs auf, den Rückzug auf das Landleben und die Feier der Freundschaft. Die Freunde haben sich in der DDR eingerichtet, aber die Gesellschaft stagniert. Die Intellektuellen, die sich in einem kleinen mecklenburgischen Dorf zusammenfinden, werden von der Gesellschaft nicht gebraucht.

Das Buch

Haus = behütet sein

Immer mehr Freunde aus der ganzen DDR ziehen sich aufs Land zurück, auf der Suche nach einem Zuhause. Das Motiv des Hauses meint behütet sein, beschützt werden vor dem Unbill der Außenwelt. Die Häuser bekommen, wohnt man in ihnen, „eine Seele“ (S.58). Der Mensch wird Teil der ihn umgebenden Natur. Hier ist die heile Welt, die draußen, in der Stadt, schon nicht mehr existiert. Für Luisa wird das Haus immer mehr zu einer Arche, die das Wesen Mensch neben den anderen Wesen des Hauses beschützt, behütet, durch die Unbill der Stürme lotst.

Idylle = Flucht

Zunächst sind es Luisa und Antonis, die den Flecken für sich entdecken, dann Ellen und Jan, die im Mecklenburgischen auf Haussuche gehen. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass sie vor der Wirklichkeit fliehen: „Flucht ? Aber wieso denn Flucht. Wo doch hier das wirkliche Leben ist.“ (S. 11) Aber „heutzutage findet man in jedem Dorf die Probleme der ganzen Welt“. (S. 61): Was heißt, sie können nicht eigentlich fliehen vor der Wirklichkeit. Überall stoßen sie auf diese.

Idylle = Hoffnung

Ellen zitiert einige Verse eines lange vergessen geglaubten Gedichts von JOHANN CHRISTIAN GÜNTHER:

Trostaria
ENDLICH bleibt nicht ewig aus,
Endlich wird der Trost erscheinen,
Endlich grünt der Hoffnungsstrauß,
Endlich hört man auf zu weinen,
Endlich bricht der Tränenkrug,
Endlich spricht der Tod: Genug!

Endlich wird aus Wasser Wein,
Endlich kommt die rechte Stunde,
Endlich fällt der Kerker ein,
Endlich heilt die tiefste Wunde,
Endlich macht die Sklaverei
Den gefangnen Joseph frei.

Endlich, endlich kann der Neid,
Endlich aus Herodes sterben,
Endlich Davids Hirtenkleid
Seinen Saum in Purpur färben,
Endlich macht die Zeit den Saul
Zur Verfolgung schwach und faul.

Endlich nimmt der Lebenslauf
Unsers Elends auch ein Ende,
Endlich steht der Heiland auf,
Der das Joch zur Knechtschaft wende,
Endlich machen vierzig Jahr
Die Verheißung wahr.

Endlich blüht die Aloe,
Endlich trägt der Palmbaum Früchte,
Endlich schwindet Furcht und Weh,
Endlich wird der Schmerz zunichte,
Endlich sieht man Freudental,
Endlich, endlich kommt einmal.

(Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Herausgegeben von W. Krämer, 6 Bände, Band 2, Leipzig: Karl Hiersemann, 1931, S. 9.)

Jede Zeile des Gedichtes drückt die Hoffnung auf Freiheit, auf Geborgenheit aus, auf Schutz vor der unwirtlichen Wirklichkeit.

Idylle = Freiheit

GÜNTHERs Gedicht passt in diese Landschaft, von der „achtzig Prozent … Himmel“ (S. 23) sind. Hier gibt es keinen „geteilten Himmel“ mehr, wie bei CHRISTA WOLF noch 1961. Hier ist der Himmel Teil einer freien Landschaft. Und in ihr kann man „fast unsichtbar werden. Das war der Preis für Überleben.“ (S. 24). Die Schriftstellerin Ellen treibt eine Schreibhemmung in die Idylle („Unlust am geschriebenen Wort“, S. 37), ein Gefühl des Schweigen-müssens, ausgelöst durch die sich verhärtenden gesellschaftlichen und kulturfeindlichen Umstände, in deren Folge WOLF BIERMANN 1976 ausgebürgert werden wird und nach ihm zahlreiche ihrer Freunde das Land DDR verlassen:
Die Wirklichkeit draußen ist also „zum Zerreißen gespannt“ (S. 9), irgendetwas Unheilvolles droht, während den Freunden auf dem Land „alles wirklicher vorkam als in der Stadt“ (S. 35). Und trotzdem ist die Gesellschaft der „Aussteiger“ auf der Suche nach eine Lebenswahl: „eine dritte Sache? Zwischen Schwarz und Weiß. Recht und Unrecht. Freund und Feind - einfach leben?“ (S. 73).

Das Fluchtkonzept geht nicht auf:

„Die Häuser sind abgebrannt. Die Freundschaften sind lockerer geworden, als hätten sie auf ein Signal gewartet. Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden.“ (S. 123).

Über den Weg dahin wird nichts berichtet. Zu ahnen ist, dass der Alltag nicht leichter geworden ist, dass die Gängelung zugenommen hat, die Enttäuschungen gewachsen sind. Die individuelle Freiheit ist Traum geblieben.
Den Ausweg sieht Bella als einzige im Verlassen des Landes. Und Antonis, der Grieche, hat als einziger das Privileg, in zwei Ländern zu wohnen.

Ellen, die Schriftstellerin, ist sich der Selbstzensur in ihrem Kopf bewusst: Sie weiß, dass eine „fremde Macht mit meinen Augen sah, durch mich selbst“ (S. 136). Aber sie bleibt wehrlos in ihrem Schweigen. Auch in ihr hat sich die Suche nach Freiheit nicht erfüllt.

Freiheit als Inszenierung

„... stellen Sie sich vor, schreibe ich an einem Stück, das ich wahrscheinlich, nicht vor Ende November abschließen werde. Ich schreibe nicht ohne Vergnügen daran, obwohl ich mich schrecklich an den Bedingungen der Bühne vergehe. Eine Komödie, drei Frauenrollen, sechs Männerrollen, vier Akte, eine Landschaft (Blick auf einen See); viele Gespräche über die Literatur, wenig Handlung, ein Pud Liebe.“ (Pud = altes russisches Gewicht)
(Anton Cechov: Briefe in 5 Bänden. Zürich: Diogenes Verlag, 1991)

schrieb ANTON TSCHECHOW an seinen Verleger A.S. SUVORIN, als er sein Stück „Die Möwe“ begonnen hatte.

Die Sommergäste bei Ellen und Jan versuchen sich in der Leichtigkeit TSCHECHOWs, als sie beginnen, ein Stück ohne Drehbuch zu inszenieren. Sie nennen es „Sommerstück“. Entgegen ihren Zielen (Liebe in Freiheit) nennen sie ihr Thema „Liebe als Gefangenschaft“.
Anlass des Stückes ist das Malvenfest.
Nun erfahren die Protagonisten ihre lange verborgene Schuld: Dass sie in dem Staat, den sie als den ihren erkannten, schweigen gelernt, sich mit falschen Bedürfnissen zufrieden gegeben hatten: „Nur die Gier ist es, die dich ankettet“ (S. 149). Sie erkennen ihre Unfreiheit: „man ist nicht frei, wenn man anderen beweisen muß, daß man frei ist“ (S.150).

Ihre Privilegien sind keine wirklichen. Sie sind keine Reisekader, unterdrücken ihren Drang zu reisen. Sie warten auf das Rentenalter, „um mit dem leben anfangen zu können“ (S. 152). Bis dahin kosten sie die Ruhe aus. Die Inszenierung hat nur einen Zweck: „heute leben wir, wie man leben soll, und darauf kam es an“ (S.155). Zugleich ist das Erkennen da, dass eine Selbstverwirklichung des Einzelnen prinzipiell möglich ist, dass nur die Chancen nicht genutzt worden sind und nicht genutzt werden. Sie haben sich in ihren Ängsten eingerichtet.

Die, die sich nicht einrichten können, gehen: Bella geht in den anderen deutschen Staat, Steffi flieht in die Krankheit und stirbt. Die anderen werden ihre Ängste nicht los.

Als TSCHECHOW sein Stück „Die Möwe“ abgeschlossen hatte, schrieb er seinem Verleger:

„Nun denn, ich habe mein Stück abgeschlossen. Ich habe es forte begonnen und pianissimo beendet - gegen alle Regeln der dramatischen Kunst. Es ist eine Novelle geworden. Ich bin eher unzufrieden als zufrieden, und wenn ich mein neugeborenes Stück lese, gelange ich einmal mehr zu der Überzeugung, dass ich absolut kein Dramatiker bin. Die Akte sind sehr kurz, es sind ihrer vier. Obwohl es erst das Gerippe eines Stückes ist, ein Plan, der sich zur kommenden Saison noch eine Million Male ändern wird, habe ich dennoch 2 Exemplare in Auftrag gegeben im Remingtonverfahren (die Maschine druckt 2 Exemplare auf einmal) - das eine werde ich ihnen schicken. Nur geben Sie es niemandem zu lesen.“
(MELICHOWO, 21.11.1895, in: Anton Cechov: Briefe in 5 Bänden. Zürich: Diogenes Verlag, 1991)

Auch das Malvenfest und das Sommerstück entwickeln sich zur Novelle.

Idylle = Romantik

Nicht nur wirklicher, sondern auch romantischer wirkt die Idylle: „Wundersame blaue Wolken (flattern) an dieser roten Hauswand“ auf und ab. Romantik, das ist nämlich in der offiziellen DDR dieser Zeit, der Mittsiebzigerjahre, das Krankhafte, Morbide, das gegen das Klassische, das „Wahre, Schöne, Gute“ im goetheschen Sinne gestellt wurde.
Das Romantische selbst begegnet den Freunden in ihrer „Zurück-zur-Natur-Stimmung fremd: Der Mond, Sinnbild romantischen Gefühls, schaut zu ihnen herab in seiner „Unverwandtheit und seine(r) ironischen Distanz“ (S. 62), als ahne er das Gewollte, das Planvolle dieser neuen Romantik, die nicht eine Romantik herkömmlicher Prägung ist, sondern eine mehr oder weniger hilflose des intellektuellen Auswegs aus einer nichtintellektuellen Situation: der Stagnation („unbeweglich“ heißt das Gedicht der WOLF weiter oben nicht von ungefähr), der Bevormundung, der Nicht-Kreativität.

Idylle, Krankheit und Tod

Wie das Land krankt, kranken die Menschen in diesem Land, die einen erkranken an ihren gefangenen Seelen, die anderen erfahren unheilbare Krankheiten, Tod. Steffi, die schwesterliche Freundin, wird sterben, sie hat Brustkrebs, aber ihre Hoffnung ist noch da: „Ich lebe, solange ich an Veränderungen glaube“ (S. 40), sagt sie. Aber es ist der „gesellschaftliche Krebs, (S. 419) der grassiert.
Diese Metapher greift CHRISTA WOLF in ihren Büchern häufig auf, so bereits in „Nachdenken über Christa T.“ (1968) und in ihrem letzten Buch „Leibhaftig“ (2002). „Ihr Körper hat“, heißt es über Christa T., „eher begriffen als ihr Kopf.“ Auch für Nelly in „Kindheitsmuster “ wird der eigene Körper zum Gradmesser für ihr Verhältnis zur Gesellschaft, zur Außenwelt:

„Das allerletzte Zeichen dafür, daß sie im Grunde Bescheid wußte, ohne unterrichtet zu sein, kam Nelly aus ihrem eigenen Körper, der sich ... , in seiner Weise ausdrückte“.

So wird „Leibhaftig“ zum bislang letzten Werk der Autorin, sich anhand der Krankheit ihrer Protagonisten mit der Krankheit der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Der ostdeutsche Schauspieler ARMIN MUELLER-STAHL äußerte in einem Fernsehinterview:

„Das Krebsgeschwür auf dem Körper der Welt ist die Ungerechtigkeit“.
(Mitschrift)

Angesichts einer Gesellschaft, die sich offiziell die „Gerechtigkeit“ auf ihre Fahnen geschrieben hat, bekommt MUELLER-STAHLs Satz – im Zusammenhang mit WOLFs Buch gedacht – eine besondere Dimension:
Der der Beliebigkeit gesellschaftlicher Utopien, wenn sie nicht ernst genommen werden von den Herrschenden. Letztlich scheiterte die DDR an ihrer Beliebigkeit und daran, dass die Bürger und die Politiker ihre Utopien nicht ernst nahmen, sondern sie verkleinbürgerlichten, ihnen misstrauten, sie in ein System von Dogmen der Ein- und Unterordnung unter sinnentleerte Symbole zwängten, die letzten Endes das Ende der Träume bedeuteten.

Aber zunächst ist in diesem Sommer Frau Käthlin gestorben, ihr werden weitere Dorfbewohner folgen: Die Bedrohung von außen hat die Idylle bereits erreicht, ja, die Bedrohung ist allgegenwärtig.

Tod als Chance zur Flucht

Der Tod der Dorfbewohner erweist sich für die Städter auch zugleich als eine Chance, aus ihren eigenen Wirklichkeiten in die Idylle zu fliehen, denn ein Haus ums andere wird an sie verkauft. DieFlucht vor den Städten erweist sich als Flucht vor der Anonymität in die Individualität, als Flucht vor den Masken, dem „Clownslächeln“ hin zu vertrauten Gesichtern, zu Leben.

Die Flucht ist ebenso eine Flucht vor den Verwundungen der Seele, die einem die Gesellschaft der Städte zufügt (S. 53) hin zur Befriedigung einer schier unstillbaren Liebessehnsucht (S. 54). Das Leiden an der Gesellschaft wird ins Private gewendet: „Schmerz erzeugen. Wahrgenommen werden“ (S.54), durch selbst zugefügten Schmerz das eigene Dasein spüren, weil man an die Unbedingtheit von Liebe glauben will und aber von der Wirklichkeit zu oft enttäuscht worden ist.

Bukolik = Idylle

Die Idylle gebiert eine bukolische Stimmung, die in antiken Dionysos-Festen kulminiert: Leben spüren, könnte man das Motto nennen, CHRISTA WOLF nennt es „Spiel-Feste“, „Feste mit Musik und Tanz“, „Feste zum Streiten und Feste zum Versöhnen“ (S. 59). Es sind Feste, auf denen der Wein fließt, „manchmal dazu nur Wein und Käse, manchmal gegrilltes Fleisch, Fischsuppe, Pizza, sogar große Braten“ gereicht werden. Nicht ausgesprochen wird: Was auf den Tisch kommt, ist entsprechend der Versorgungslage in der DDR zusammengestellt. Im „Sommerstück“ bekommt das Fest mitsamt seiner bisweilen mediterranen Zutaten einen südlichen Flair. Und dabei „warum sich so wichtig nehmen“? Es wird die Leichtigkeit des südlichen Seins versucht, Spontaneität gelebt, ohne an die dringenden Fragen des Tages zu denken. Dabei erreichen die „Drohungen und Täuschungen, Verwirrspiele und Hinterhältigkeiten“ (S. 63) aus der Außenwelt der DDR sie doch, auch wenn sie sie „zu durchschauen“ glauben. Die Geschichte ihres Landes mit all den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus oder im Namen der Menschlichkeit gemacht wurden, überschatten die Idylle bukolischer Landschaft. Da ist vom elektrischen Stuhl die Rede, von einer Frau mit einer Kugel im Genick und von jemandem, der in ein Lager gebracht wird.
Unmenschlichkeit macht keinen Unterschied des gesellschaftlichen Systems.
Bedrohlich ist es, wenn man seine eigene Geschichte nicht mehr erzählen darf, weil sie nicht geschehen sein durfte. Hier weicht allein das Zeigen der Instrumente der Idylle: „Die Zeit … hat Leuten, die gar nicht dafür gemacht scheinen, Geheimnisse auferlegt“. (S. 45)
Hier in der Idylle kann man Dinge wieder um ihrer selbst willen tun, gewinnt das Tun wieder an Moralität.

Rolle der Literatur

Die Stadtmenschen, die auf den Dörfern im Mecklenburgischen Asyl gefunden haben, gehen unterschiedlichen Berufen nach. Jan, Ellen und Bella sind Schriftseller(innen), wie die realen Vorbilder GERHARD und CHRISTA WOLF und SARAH KIRSCH. Steffi ist Fotografin, es könnte sich um HELGA PARIS handeln, deren WOLF-Foto im Band auf S.2 abgebildet ist. Nicos ist Konstrukteur. Er ist wie Antonis Grieche, der in der DDR Zuflucht gefunden hatte während des Militärregimes in Griechenland.
Zwischen ihnen werden die Ressentiments laut, die in der DDR schon bisweilen leise gesprochen wurden: „der normale Mensch habe nun mal andere Sorgen als die Dichter“ (S.66). Der Vorwurf Nicos, „Ihr habt ja keine Ahnung von Leben“ (S. 66), trifft diejenigen hart, die vielleicht „zuviel Ahnung von einer Art Leben (haben), von der die unzähligen normalen Leben abgedrängt worden waren“.
Zugleich wirft der Vorwurf Nicos die Frage auf, wie viel Realitätsgehalt Literatur haben muss.

  • Ist die Literatur weltfremd, weil sie sich hinter Metaphern verstecken, sich zwischen den Zeilen entäußern muss?
  • Und was ist sie dann wert?
  • Was bedeutet Literatur, wenn es „eigentlich keine Gelegenheit mehr zum Handeln gab“ (S.69)?

Literatur wird so zum Lebensersatz, zum Ersatz für das Handeln, das tätige Eingreifen in den Lauf der Gesellschaft: In diesem Sinn ist es „eher eine Tat, ein Buch zu schreiben“.
Klar wird den Diskutierenden, dass die pure Wirklichkeit oft nicht beschreibbar ist. Unausgesprochen bleibt: …weil sie Darstellung der puren Wirklichkeit nicht geduldet wird in dem Land DDR. Daher allerdings rühren die Schreibhemmungen Ellens und Bellas.

„Das Ferment, das zum Schreiben nötig war, ‚Selbstvertrauen'. Es war (ihnen) … ganz und gar genommen worden“. (S. 72)

Bewahrung der Werte

Die Stadtbewohner in der Idylle des Dorfes sehen sich konfrontiert mit der Verstädterung der Dorfbewohner. Die jahrhundertealten Traditionen der Dorfgemeinschaft lösen sich allmählich auf. Dörfer verfallen („Ein Wort wie ‚Aussterben lag in der Luft“, S. 93), in anderen werden Wohnblocks der Städte, die „häßlichen neuen Zweckbauten“ (S. 74) gesetzt, eine neue Topografie entsteht. Das Alte, Bewährte kommt auf den Müll, von wo es die Städter herausklauben oder aus den verfallenden Dorfkaten herausschleppen. Die Traditionen bewahren will man, es „sollte nicht vorüber, für immer verloren sein“. (S. 75) So stehen die alten Werte gegen die neuen Werte, die Welt ist aus den Fugen, die bewahren sollten verwerfen, und die stets verworfen hatten bewahren.
Das Alte wird von den Städtern als Vielfalt der Formen verstanden, das Neue als Gleichschaltung, „Gleich“-heit, Anpassung, all das also, vor dem man geflohen war: „Was war das nur, daß sie einen Baum betrauerten, den sie nie gesehen hatten?“ (S. 76)

Der kulturelle Verfall hat die Idylle auch hier eingeholt.

Erzählweise

Erzählweise: CHRISTA WOLF erfindet eine Erzählerin, die vorgibt, alles selbst erlebt zu haben. Keine der namentlich handelnden Figuren tritt als Erzählerin auf, die Erzählerin selbst jedoch handelt namenlos mit. Sie schildert ihre Geschichte, als würde der Leser dabei gewesen sein: „Die Kuckucksoper, wißt ihr noch? Wir hatten doch diesen übertriebenen Kuckuck“ (S. 31) Scheinbar überprüft die Erzählerin das Erinnerungsvermögen des Lesers: „Ob ihr es noch wißt, wie der Sommer weiter ging?“ (S.112). Dann wiederum erzählt sie wie beiläufig: „Ein Stück haben wir ja übrigens auch mal aufführen wollen“ (S. 138), so als könne der Leser die Geschichte gar nicht kennen. Nun beginnt die Erzählerin zu mutmaßen, strengt sich scheinbar beim Nachdenken an, will sich erinnern, kann aber für die Richtigkeit der Erinnerungen nicht bürgen: „die Idee ging wohl von Irene aus“ (S. 138), um dann in sicherem Tone fortzufahren. Es folgen Passagen, in denen die Erzählerin ganz in den Innenwelten der Figuren aufzugehen scheint: „Früh wunderte sich Jan über ihren Bärenschlaf“ (S. 24), „Jetzt kommen sie näher, sind so nahe, das Irene nicht nur ihre Stimmen hören, sondern verstehen kann, was sie sagen“ (S. 50). Bisweilen tritt die Erzählerin ganz zurück. Mit dem Blick von außen wird lediglich das Geschehen berichtet: „Luisa sagte, fast weinend, es stehe ihr ja nicht an, eine Meinung zu äußern…“ (S.68) Dann wiederum wird der Leser wieder direkt in die Konzeptionsarbeit miteinbezogen: „Ein neues Kapitel, ein anderer Ansatz, die Farbe Blau kommt ins Spiel..“ (S. 164))
oder:„Ein Nachtrag. Der Vollständigkeit halber wegen der Lust am Erzählen“ (S. 99). Oder aber dem Leser wird suggeriert, er solle jetzt ja nicht weiter über einen Erzählstrang nachdenken: „Täterätät! Vorhang! Und kein Wort weiter.“ (S.131) Dann wird die Erzählerin appellativ: „Schließt die Augen. Versetzt euch in einen der nächsten Abende“ (S.61) Schließlich wird der Leser in den Erzählvorgang einbezogen: „Jetzt müssen wir von der Hitze reden“ (S. 25).

Es ist ein ständiges Wechselspiel, ein Dialog, der sich zwischen Leser und Erzählinstanz entwickelt. In immer neuen Formen des Ansprechens entsteht scheinbar eine Geschichte, die eigentlich längst vergangen und erzählt ist. Damit überschreitet CHRISTA WOLF die Grenzen der tradierten Erzähltypen. Auktorialer, personaler und Ich-Erzähler wechseln einander ab, verschmelzen miteinander.

(Alle Seitenzitate aus: Wolf, Christa: Sommerstück. Neuwied: Luchterhand, 1989.)

Das Buch "Sommerstück"

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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