HERMANN HESSEs Affinität zur Philosophie und Religion Indiens hat ihre Wurzeln in der Kindheit des Autors. Seine Eltern waren, wie auch schon sein Großvater, als Missionare in Indien tätig, seine Mutter ist dort geboren. 1911 trieben HESSE die Sehnsucht nach dem Exotischen, nach Naturerleben und die Flucht vor den Erwartungen des Lesepublikums selbst nach Indien. 1913 erschien das Tagebuch dieser Indienreise „Aus Indien. Aufzeichnungen von einer indischen Reise“, das auch Gedichte und Erzählungen enthält. HESSE war jedoch von seinem Indien-Aufenthalt enttäuscht. Statt spiritueller Erfahrungen stellten sich für ihn Fremdheitsgefühl, Missbehagen und Beschämung über die Hinterlassenschaften des Kolonialismus ein, auch zur Lebenswelt der Bevölkerung fand er keinen inneren Zugang.
Von 1919 bis 1922, etliche Jahre nach dieser Indienreise, entstand der aus der asiatischen Philosophie und Religion schöpfende Roman „Siddharta“. Er zählt zu HESSEs meistgelesenen Werken, ja zu den meistgelesenen Büchern des 20. Jahrhunderts überhaupt, in dessen zweiter Hälfte vor allem die westeuropäische Jugend ein reges Interesse an fernöstlicher Weltanschauung entwickelte.
Die Lebensgeschichte des Brahmanensohnes Siddharta spielt zur Zeit Buddhas und ist als Entwicklungsroman gestaltet. Siddharta wird von seinem Vater nach den strengen Riten der Brahmanen erzogen. Er jedoch sucht die Erleuchtung, um sich alsEinzelseele in der Weltseele zu erkennen, um vom Wissen zum Erleben zu gelangen. Die Religion der Brahmanen kann ihm diese Erkenntnis nicht bieten und so verlässt er mit seinem Freund Govinda das heimatliche Dorf. Sie begeben sich in die Wälder zur Asketenschule der Samanas. Doch die strenge, freudlose Askese, in der sie jeden Trieb, jede Wunschregung, Hunger und Durst zu überwinden lernen, empfinden beide Freunde als lebensfeindlich und peinigend. Allein durch Willensanstrengung ist Erleuchtung für sie nicht zu erlangen. Enttäuscht ziehen er und Govinda weiter zu Gotama, zu Buddha. Aber auch dessen Lehrsystem, das aus individueller, lebendiger Erkenntnis des Buddha eine Ideologie macht, bringt Siddharta nicht auf seinen Weg. Er lässt Gotama wissen, dass er nicht glaubt, dass jemand durch Lehre erleuchtet werde, sondern allein durch eigenes Suchen.
„Ich habe nicht einen Augenblick gezweifelt, dass du Buddha bist, dass du das Ziel erreicht hast [...] Es ist dir geworden aus deinem eigenen Suchen [...] Nicht ist es dir geworden aus Lehre! Keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre.“
Während Govinda sich unter die Jünger Buddhas reiht, stürzt Siddharta sich nunmehr in einen ganz gegensätzlichen Lebensentwurf. Er sucht das Leben und die Sinneslust und begegnet der Kurtisane Kamala. Um bei ihr Gehör zu finden und ihren materiellen Ansprüchen zu genügen, geht Siddharta bei einem Kaufmann in die Lehre, während Kamala ihn die Liebe lehrt. Siddharta lebt für etliche Jahre als angesehener Kaufmann in Wohlstand, verfällt dabei aber zunehmend der Raffgier, der Selbstsucht, dem Spiel und dem Alkohol.
Schließlich ist er sich selbst so entfremdet und von seinem Leben angewidert, dass er Kamal verlässt und bereit ist, in einem Fluss Selbstmord zu begehen. Doch in der tiefsten Erschütterung erfasst ihn eine Vision, er hört ein brahmanisches Gebet und begreift, dass er die größte Verzweiflung erleben musste, um wieder zu sich zu finden,
„…um wieder Gnade erleben zu können, um wieder Om zu vernehmen“.
Siddharta entschließt sich, bei dem alten Fährmann Vasudeva zu bleiben und dessen Gehilfe zu werden. So lebt er viele Jahre in Stille und Bescheidenheit, findet Erfüllung in einfachen Pflichten und Meditation und empfindet sich im Gleichklang mit dem Fluss. Eines Tages taucht die gealterte Kamala bei den Fährmännern auf. Sie war auf dem Pilgerweg zu Buddha unterwegs und wurde von einer Schlange gebissen. Sie stirbt in Siddhartas Armen und lässt ihren gemeinsamen Sohn bei ihm zurück. Für Siddharta ist es eine schmerzliche Erfahrung, dass sein Sohn keine Nähe zu ihm findet und auch er seinen Sohn wiederum nicht Weisheit lehren kann. Nach einem Streit verlässt der Sohn den Vater und sucht seinen eigenen Weg. Der Verlust des Sohnes bekümmert Siddharta zutiefst, doch der Fluss als Gleichnis für das dahinfließende Dasein in seinen verschiedenen Gestaltungen des Immergleichen hilft ihm, Gelassenheit und Frieden wiederzufinden.
Am Ende erscheint Govinda, mit dem er vor vielen Jahren einst aufgebrochen war, und will von Siddharta seine Erkenntnisse in Erfahrung bringen. Die sind jedoch über Worte nicht zu vermitteln, erst als Govinda seinen Jugendfreund küsst, entdeckt er auf dessen Gesicht den Widerschein der Erleuchtung und Weisheit.
Siddharta macht die Erfahrung, dass er sich dem Leben und dem Geist vollends öffnen musste und die tiefste Verzweiflung zu durchschreiten hatte, ehe er sein wahres Selbst erkennen konnte. Sein Lebensweg ist als Dreischritt gestaltet und führt ihn auf seiner Sinnsuche ausgehend von seiner brahmanischen Herkunft über Askese und Lebensgier zur Weisheit und damit zu sich selbst (These-Antithese-Synthese). Siddhartas Einsichten stehen für eine Überschreitung aller religiösen Dogmen und Lehren und gewissermaßen für eine Synthese aller Religionen.
HESSE folgte damit der Lehre des Psychoanalytikers C. G. JUNG, der die gemeinsame psychologische Basis aller Weltreligionen in der Überwindung des Ich zu einem überindividuellen Selbst sah. Die Erzählung ist zudem auch die Verarbeitung der Lebenskrisen und Wandlungen des Autors in den Jugend- und Reifejahren, der Ablösung vom Vater und seines Bemühens, unter schmerzhaften Einsichten zwischen Verstand und Gefühl, inneren Wünschen und äußeren Lebensanforderungen zu vermitteln. Das wesentliche Vermächtnis, das HESSE mit diesem Buch hinterlassen hat, ist die Möglichkeit der Toleranz zwischen den Religionen und der östlichen und westlichen Kultur.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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