Realismus in Frankreich

Der programmatische Realismusbegriff wurde durch die Kunst- und Kulturkritik Frankreichs zwischen 1850 und 1860 zunächst zur Beschreibung der Gemälde COURBETs benutzt, woran sich eine Kunstdebatte anschloss, die dem Begriff zur Wirkung verhalf. GUSTAVE COURBET (1819–1877) war ein französischer autodidaktischer Maler und bekannt für eine wirklichkeitsgetreue Darstellung. Die Ausstellung seiner Werke anlässlich der Weltausstellung 1855 in Paris nannte er „Le Réalisme“.

Schule in der Malerei

Der Realismus entwickelte sich zuerst als Schule in der Malerei, auch wenn man den Begriff bereits in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts zur Beschreibung von literarischen Texten und Tendenzen verwendet hat. Zu den realistischen Malern gehörten u. a.:

  • JEAN-FRANCOIS MILLET (1814–1975),
  • GUSTAVE COURBET (1819–1877),
  • HONORÈ DAUMIER (1808–1879),
  • JEAN-BAPTISTE-CAMILLE COROT (1796–1875),
  • CHARLES-FRANÇOIS DAUBIGNY (1817–1878),
  • HENRI FANTIN-LATOUR (1836–1904),
  • THÉODORE ROUSSEAU (1812–1867).

Der Realismus konnte sich zuallererst in Frankreich entwickeln: Hier hatte nach der Revolution von 1848 ein neues politisches Klima eingesetzt. Aufstände der Bevölkerung (Februar 1848 in Paris) waren eine Reaktion auf die anhaltende Wirtschaftskrise und auf die verminderte politische Mitbestimmung des Kleinbürgertums und enthielten also Forderung nach Aufhebung des Zensuswahlrechts. Im Februar 1848 wurde in Paris der „Bürgerkönig“ LOUIS PHILIPPE durch einen Aufstand gestürzt. Man versuchte nun, die gesellschaftlichen Zustände schonungslos zu beschreiben.
Um 1850 bedeutete Realismus

  • Nähe zum Historiker,
  • Detailtreue,
  • Lokalkolorit.

Später verstand man darunter die wahrheitsgetreue Darstellung der Gegenwart, die objektive Abbildung.

Rolle der Erfahrung

Konzentration auf materielle Gegebenheiten fördert die Rolle der Erfahrung, des Empirischen. Man glaubte an den Fakt. Der Autor als Subjekt tritt zurück, wird zur unpersönlichen Instanz, die Fakten sammelt und zusammenstellt, weniger interpretiert (Positivismus). Der wissenschaftliche Anspruch des Romanschriftstellers dominiert. Die Neutralität des Gegenstandes hebt Stilkonventionen und damit die tradierte Hierarchie von würdigen, großen und von weniger würdigen, niedrigen Themen auf. Damit war es möglich, dass auch das Leben der sozialen Unterschichten zu einem würdigen und ernst zu nehmenden Thema wurden. Es fielen theoretisch viele Tabus. Der konsequente, programmatische Realismus hatte jedoch viele Kritiker.

Viele Künstler beharrten auf der poetischen Verwandlung und Idealisierung der realen Welt. Dies spielte vor allem für die deutschen Realisten eine Rolle, weniger für die französischen, deren wichtigste Vertreter bewusst das radikal Neue und Experimentelle ihrer Texte hervorhoben und sich den Verfahren der Naturwissenschaft stärker verbunden fühlten. Die weltanschauliche, politische und ästhetische Radikalität der Franzosen fand unter den deutschen Zeitgenossen der Fünfzigerjahre kaum Sympathisanten. Ihre Kritik artikulierten die Deutschen, indem sie den französischen Realismus mit dem abwertenden Begriff des Naturalismus gleichsetzten.

Erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurden wieder verstärkt französische Realisten ins Deutsche übersetzt und Maler mit Interesse wahrgenommen. Allein auf der Bühne hatten deutsche Zuschauer ohne größere Unterbrechung die Möglichkeit, französische Werke dieser Phase zu sehen und zu beurteilen. Erst die junge Generation nach der großen Garde der alten Männer und Realisten knüpft gezielt an den Radikalismus der französischen Kollegen unter dem Stichwort des deutschen Naturalismus an.

Die französischen Realisten

Die französischen Realisten beginnen mit HONORÉ DE BALZAC (1799–1850). Er wurde wegen seiner kämpferischen Bilder der „Napoleon des Romans“ genannt. Seine Literatur bietet eine schonungslose Analyse der Gesellschaft. Von dem auf rund 135 Werke konzipierten Zyklus „Die menschliche Komödie“ („La comédie humaine“ 1829–1854, deutsch 10 Bände 1923–1927) konnte er 91 vollenden. Aus diesem Zyklus stammt „Das Chagrinleder“ (1831), von dem GOETHE schrieb:

„Ich las „La peau de chagrin“ weiter... Es ist ein vortreffliches Werk neuester Art (das Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes), welches sich jedoch dadurch auszeichnet, dass es zwischen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Energie und Geschmack hin- und herbewegt, und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Vorkommenheiten sehr konsequent zu gebrauchen weiß, worüber sich im einzelnen viel Gutes würde sagen lassen.“
(November 1831)

Der bekannteste Roman von GUSTAVE FLAUBERT (1821–1880) ist „Madame Bovary“ (1857, siehe PDF "Gustave Flaubert - Frau Bovary"), der einen Ehebruch so realistisch schilderte, dass er sich ein Strafverfahren einhandelte. Zwar wurde der Autor durch eine kluge Verteidigung freigesprochen, das Buch dadurch aber ein Skandalerfolg. FLAUBERTs zweiter großer Erfolg war „Die Erziehung der Gefühle. Geschichte eines jungen Mannes“ (frz: „L'Éducation sentimentale“, 1869).

MARIE HENRI BEYLE weilte in seiner Jugend in der deutschen Kleinstadt Stendal, seitdem nannte er sich STENDHAL. Seine wichtigsten Werke sind „Rot und Schwarz“ („Le Rouge et Le Noir“) und „Die Kartause von Parma“ („La Chartreuse de Parme“). Über die „Kartause“ sagte der russische Realist LEO TOLSTOI:

„Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heißt so, wie er wirklich ist? Man erinnere sich, wie Fabrizio mitten durch die Schlacht von Waterloo reitet und nicht das geringste davon merkt...“
(Stendhal: Die Kartause von Parma.Übersetzt von Arthur Schurig. Nachwort und Anmerkungen des Übersetzers zur Geschichte des Romans. Wiesbaden: Insel Verlag, 1952)

Der Sohn eines Generals VICTOR HUGO (1802–1885) veröffentlichte 29-jährig seinen wohl bekanntesten Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ („Notre Dame de Paris“, 1831–1833), mit dem er sofort berühmt wurde. Das Buch wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein kolportiert und adaptiert: Die Liebe des ungestalten Glöckners Quasimodo zur Zigeunerin Esmeralda rührte so manches Kinderherz im gleichnamigen Zeichentrickfilm und im Musical.

Aber auch sein zweiter großer Erfolg „Die Elenden“ („Les Misérables“, 1862), mit dem sich HUGO endgültig einen Platz innerhalb der Weltliteratur eintrug, wurde mehrfach adaptiert: Es wurden Filme gedreht, Theaterstücke gespielt, nun ward gar ein Musical auf die Bühne gebracht. Das hat der Dichter nicht verdient. HUGO wird heute fast nur noch über die Adaptionen seiner Werke einem größeren Publikum bekannt. In seiner Heimat war er zumindest einmal ein sehr Bedeutender. HUGOs letzte Ruhestätte ist das Pantheon in Paris. Der „Prix Victor Hugo“ ist heute einer der renommiertesten französischen Literaturpreise.

Ein weiterer bedeutender französischer Realist, der vor allem auf den deutschen Naturalismus wirkte, war ÉMILE ZOLA (1840–1902).
Er ist ein Vertreter des naturalistischen Romans. Sein Hauptwerk ist das 20-bändige „Les Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich“ (1871–1893), aus dem u. a. „Nana“ (siehe PDF "Émile Zola - Nana") stammt.

Aber er war auch Gesellschaftskritiker der Praxis: Mit „J'accuse!“ („Ich klage an!“) engagierte er sich in der Dreyfus-Affäre (1894–1906).

(siehe PDF "Émile Zola - J’accuse...!" im französischen Original, PDF "Émile Zola – Ich klage an!" in der deutschen Übersetzung)

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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