Poetik

Die Poetik untersucht

  • das Wesen
  • die Erscheinungsweisen
  • die Formgesetze
  • die Gestaltungsgesetze
  • die Gestaltungsmittel

der Dichtung.

Ursprünglich stellte die Poetik Normen auf, wie ein poetischer Text beschaffen zu sein habe, um als solcher zu gelten. Die „Poetik“ („peri poietikes“, siehe PDF "Aristoteles - Über die Dichtkunst") von ARISTOTELES (384–322 v.Chr.) gilt in diesem Sinne als der erste literaturtheoretische Text des Abendlandes. Der Text ging bereits in der Antike verloren und wurde erst in der Renaissance wieder entdeckt. ARISTOTELES verstand unter Poetik jede Art des dichterischen Vortrags:

„Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Weise voneinander: entweder dadurch, daß sie je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen.“
(ARISTOTELES: Poetik, siehe PDF "Aristoteles - Über die Dichtkunst")

Das Wesen der Dichtung ist nach ARISTOTELES die Nachahmung:

„Die Nachahmenden (das sind die Dichter) ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder ebenso wie wir.“
(ARISTOTELES, ebenda)

In seiner „Poetik“ nennt er die Gründe, warum der Mensch zur Dichtung neigt:

Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen ist dem Menschen angeboren, es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen [...], als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellung von möglichst unansehnlichen Tieren und von Leichen.“ (ARISTOTELES, ebenda)

ARISTOTELES war jedoch nicht der Einzige, der sich in der Antike theoretisch mit der Dichtkunst auseinandersetzte. Sein Werk ist nur prägend geworden für die abendländischen Poetiken seit dem Mittelalter.

Auf GORGIAS VON LEONTINOI (483–375 v.Chr.) geht der Vorschlag zurück, in der Kunstprosa

  • Tropen und
  • rhetorische Figuren

zu verwenden.

Der Römer HORAZ verfasste sein Werk „Von der Dichtkunst“ (De arte poetica) um 14 v. Chr. Auf ihn geht der Gedanke zurück, dass Poeten „entweder nützen [prodesse] oder erfreuen [delectare] wollen“. Er unterstrich die Idee vom Dichter als „kundige(m) Nachahmer“. Für die Dramatik schrieb HORAZ das fünfaktige Drama fest.

Der SOKRATES-Schüler PLATON (427–347 v.Chr., Lehrer des ARISTOTELES) unterschied den nachahmenden (Mimesis) poietikos vom Dichter, der von den Musen inspiriert wurde. Der nachahmende Dichter, der lediglich von den Erscheinungsweisen ausgeht, galt PLATON weniger als jener, der das Schöne abbildet. Denn die Erscheinungsweisen bilden lediglich Wirklichkeit ab. Diese abgebildete Wirklichkeit kann verführerischen Charakter haben und zu unrichtigem Verhalten verleiten. Kunst aber müsse Teilhabe am Schönen sein. Das Schöne ist auf die Idee gerichtet, bildet das Ideal ab. Das Ideal aber ist göttlichen Ursprungs.

Ohne es zu formulieren, nahm PLATON bereits Gedanken vorweg, die später auch in der deutschen Literatur eine Rolle spielten: die Unterscheidung von Genie und Handwerk: Die Barockpoetiken gingen davon aus, dass sich die Dichtkunst erlernen ließe, also ein Handwerk sei:

„Die worte vnd Syllaben in gewisse gesetze zu dringen / vnd verse zue schreiben / ist das allerwenigste was in einem Poeten zue suchen ist.“
(MARTIN OPITZ: Buch von der deutschen Poeterey, siehe PDF "Martin Opitz - Buch von der Deutschen Poeterey")

Diesen Gedanken verfolgte auch JUSTUS GEORG SCHOTTEL in der Poetik „Teutsche Vers- oder Reimkunst“ von 1656 (siehe PDF "Justus Georg Schottel - Teutsche Vers- oder Reimkunst"):

„Den Entwurff der Teutschen Poesis / welchen er so wol anderen / als auch mir zu betrachten überschicket hat / achte ich von hoch-nützlicher Wichtigkeit: Und man ich Kraft unserer Gesellschaft bündlichen Vertrauens / und zwischen uns absonderlich geschlossenen Freundschaft / meine meinung davon frey heraus sagen sol / so bedünckt mich der Suchende habe im Teutschen numehr erfunden / wornach man vieleicht in anderen Sprachen vergeblich arbeiten wird. Ich wil erstlich sagen / Die gründliche und ungezweiffelte Maasforschung der Silben / durch welche unsere Ohren erst recht Poetisch / und solche / bishero unrichtige Richtere der Verse / Kunstverständig unterrichtet werden.“
(in: JUSTUS GEORG SCHOTTEL: Teutsche Vers- oder Reimkunst, siehe PDF "Justus Georg Schottel - Teutsche Vers- oder Reimkunst")

 

Noch GOTTSCHED ging von der Erlernbarkeit der Poesie aus. Seine Regelpoetik „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ (siehe PDF "Johann Christoph Gottsched - Der Biedermann") erschien 1730 in Leipzig.

Mit dem Sturm und Drang setzte sich die Auffassung vom genialischen Künstler durch, wonach Kunst vollkommen autonom sei und ebenso funktioniere. Man wandte sich gegen jede Regelpoetik: Die Kunst sei einzigartig und als solches bringe das Kunstwerk die Regeln zu seiner Beurteilung aus sich selbst hervor.

„Naiv muss jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivität allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke haben, wo die schützende Natur sie verlässt, weil die Macht des Beispiels sie hinreißt oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit sie verleitet. Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchloser Simplizität und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, dass es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles, was die gesunde Natur tut, ist göttlich), seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.“
(FRIEDRICH SCHILLER: Über naive und sentimentalische Dichtung, siehe PDF "Friedrich Schiller - Über naive und sentimentalische Dichtung")

Poetiken der Moderne wurden von dem Gedanken der Autonomie der Kunst geprägt.

Während die Jungdeutschen in einen Konflikt gerieten, weil sie sowohl

  • Freiheit der Poesie, als auch
  • politische Tendenzpoesie

forderten, versuchten die poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts

  • das Besondere-Individuelle
  • das Konkrete-Sinnliche

wesenhaft zu gestalten (nach HERMANN WIEGMANN).


Impressionisten und Symbolisten sahen die Dichtung als Idee. Sie reduzierten die Kunst auf die Formel „l´art pour l´art“= Kunst für die Kunst. Damit leugneten sie die Abbildfunktion der Poesie. Dagegen förderten sie den Hermetikgedanken (Hermetik: Vieldeutigkeit, dunkel, eine geheimnisvolle Ausdrucksweise bevorzugend).

Die jüngere Moderne brachte die unterschiedlichsten Poetiken hervor. Sie spiegeln i.d.R. das Wirklichkeitsverhältnis des Künstlers wider.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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