Neue Sachlichkeit

Definition

Neue Sachlichkeit bezeichnet eine in allen Bereichen der Kultur auftretende Strömung und damit auch eine Kunst- und Literaturrichtung in der Zeit der Weimarer Republik (1918–1933). Sie ist ein Teil der Moderne-Bewegung des 20. Jahrhunderts und definierte sich selbst als eine der Publizistik angenäherte Gebrauchsliteratur. Eine zentrale Kategorie war die der Beobachtung. Die wichtigsten Formen der neusachlichen Literatur waren die Publizistik und der Roman.

Begriff

Der Begriff der Neuen Sachlichkeit hat wie auch die Begriffe Impressionismus und Expressionismus seinen Ursprung in der Beschreibung von Werken der bildenden Kunst, durchgesetzt hat er sich durch die Architektur, einer Kunst, die nicht mit Farbe, sondern mit dem Raum arbeitet. Für diese Richtung in der Architektur steht vor allem der Name „Bauhaus“.

Motto der Bauhaus-Architektur, (seit 1919 in Weimar, 1925 Umsiedlung nach Dessau): Schönheit ist Zweckmäßigkeit oder: das wahrhaft Schöne ist zugleich das wahrhaft Zweckmäßige.

Eigene Traditionen

Das Stichwort der Neuen Sachlichkeit gehörte zu den meist diskutierten Begriffen in den Kunstdebatten der Weimarer Republik. Es war ein Schlagwort und Sammelname für verschiedene Sachlichkeitskonzepte. Neusachliche Literatur hat jedoch auch ihre eigenen Traditionen. Im Unterschied zur neusachlichen Malerei hat sie konsequent auf die Entwicklung einerGebrauchskunst für viele hingearbeitet. Sie umfasste nicht nur neue Schreibtechniken. Es ging um eine den gesellschaftspolitischen Verhältnissen gemäße Literatur und Kunst, weshalb sich für nicht wenige Autoren mit der Ästhetik auch ein Gesellschaftsmodell verband, mit dem sie – häufig in aufklärerischer Absicht - auf die bis dahin

  • einzigartige Politisierung und zugleich
  • Radikalisierung sowie
  • auf die Entstehung einer modernen Massenzivilisation

reagierten. Dass die neusachliche Poetik eine urbane und großstädtische war, wurde stillschweigend vorausgesetzt. Ihr Bezugspunkt waren umfassende gesellschaftliche Modernisierungsprozesse. Die „Kälte“ der Neuen Sachlichkeit war nicht nur ein Zeichen der „kalten Welt“, um die es ging, sondern es war auch eine ästhetische Eigenschaft infolge der Schreibpraxis, wie

  • Berichtform,
  • der Abwesenheit des subjektiven Erzählers und Kommentators.

Der Begriff der Neuen Sachlichkeit vereint in heutiger Wahrnehmung unterschiedliche, z.T. gegensätzliche Ausdrucksformen und dient damit als Sammelbegriff für verschiedene künstlerische und angewandte Formen. Im Unterschied zu anderen literarischen Strömungen ist die Neue Sachlichkeit nicht mit literarischen Gruppen verbunden, was die Zuordnung von Autoren neben unklaren Stil-Kriterien schwierig macht.

Sachlichkeit bedeutete:

  • Sachliches, realitätsbezogenes Schreiben,
  • nüchternes und emotionsloses Erzählen,
  • Verzicht auf Pathos bis zur Befreiung von allem Pathos,
  • Verzicht auf Dekoratives und Ornamentales,
  • Präzision,
  • Montage,
  • faktenorientierte Darstellung, Konzentration auf „Tatbestände“,
  • Akzeptanz der Macht der Dinge, Sachen und Situationen
  • das Postulat der wahrheitsgemäßen Darstellung,
  • Objektivität durch Beobachtung,
  • Abkehr vom Psychologisieren, von Gefühlen der Melancholie, Trauer usw.,
  • Ablehnung von „falschem“ Poetisieren,
  • die Sache ganz aus sich heraus zu verstehen und bis zur letzten Konsequenz darstellen zu wollen.

„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit in der man lebt.“
(Kisch, Egon Erwin: Der rasende Reporter. Berlin: E. Reiß, 1925, S. 8)

Literatur der Neuen Sachlichkeit zeichnet sich durch „Tatsachenpoetik mit Gebrauchswert“ aus. Die Beobachtung (Vivisektion) wird wichtiger als die Dichtung. Dazu gehörten Nüchternheit und Dokumentarismus.

ERIK REGER im Jahr 1931:
Der „Roman muß die Bedeutung einer Zeugenaussage vor Gericht, das Drama die einer vollständigen Beweisaufnahme haben“.

Die Neue Sachlichkeit beherrschte nicht die Gesamtheit der literarischen Gattungen und Genres . Sie war vor allem:

  • Gebrauchslyrik
  • Zeitroman
  • dokumentarische Literatur
  • Reportage
  • Theater (episches Theater, kritisches Volkstheater)

Zeitschriften der Neuen Sachlichkeit waren z. B.:

  • „Der Scheinwerfer“ Essener Theaterzeitschrift (1927–1933 Hg. HANNES KÜPPER, Dramaturg an den Essener Bühnen),
  • „Querschnitt“,
  • „Literarische Welt“,
  • „Tempo“.

Neusachliche Schriftsteller waren u. a.:

  • KURT TUCHOLSKY (siehe PDF "Kurt Tucholsky - Schloss Gripsholm"),
  • JOACHIM RINGELNATZ,
  • ERICH WEINERT,
  • PAUL ZECH,
  • ERICH KÄSTNER,
  • ANNA SEGHERS,
  • ALFRED DÖBLIN,
  • EGON ERWIN KISCH,
  • IRMGARD KEUN;
  • GABRIELE TERGIT;
  • LION FEUCHTWANGER,
  • HANNS HENNY JAHNN,
  • ÖDÖN VON HORVÁTH (siehe PDFs "Ödön von Horváth - Geschichten aus dem Wiener Wald" und "Ödön von Horváth – Sportmärchen"),
  • CARL ZUCKMAYER,
  • MASCHA KALÈKO;
  • BERTOLT BRECHT,
  • FRIEDRICH WOLF,
  • ARNOLT BRONNEN,
  • ERNST WEISS (siehe PDFs "Ernst Weiß - Georg Letham - Arzt und Mörder", "Ernst Weiß - Die Verdorrten")
  • RUDOLF BRAUNE (siehe PDF "Rudolf Braune - Der Kurier"),
  • JOSEPH ROTH (siehe PDF "Joseph Roth – Schluss mit der »Neuen Sachlichkeit«!") und
  • MARIELUISE FLEISSER.

„Ist das eigentlich Dichtung?”

„Ist das eigentlich Dichtung?” – lautete eine der zentralen Streitfragen. Inwieweit „kann sich dichterisches Sprechen als Ausdruck neuer Sachlichkeit in seiner umformenden Eigenfunktion behaupten ... Ist es nicht vielmehr ... eben Berichterstattung, bestenfalls sprachlich starke Berichterstattung? Hat Dichtung nicht gerade die Sachlichkeiten in eine eigengesetzliche ästhetische Wirklichkeit zu verwandeln? Und errichtet nicht die neue Sachlichkeit eine unübersteigliche Mauer gegen alle selbstgenugsame (sic) Schönheit?“ (Hermann Pongs).

Auch wenn 1928 eine kritische Revision neusachlicher Forderungen einsetzte, folgten nur wenige Autoren der Forderung JOSEPH ROTHs (1894–1939): „Schluß mit der Neuen Sachlichkeit“ (1930).

JOSEPH ROTH: Schluß mit der „Neuen Sachlichkeit“!
 „Der berechtigte Ruf nach dem Dokumentarischen hatte einen pädagogischen Nebenzweck: Er war ein Wink an die Schreibenden, sich in ihrer Gegenwart umzusehen.
Erst da sie, die Berufenen, es nicht taten (oder selten taten), begann das simple Zeugnis der Unberufenen und Zufälligen zu grassieren. […] Und in der Verwirrung […] beginnt die Verwechslung der anständigen Gesinnung mit der Flachheit. [...] Ja, selbst der Dilettant ohne Gesinnung beginnt, eine vorzutäuschen, und noch die erlogene Anständigkeit ist mächtig genug, ihn zu schützen. […]Die „Sachlichkeit“ beginnt, die „Zweckmäßigkeit“ zu ersetzen und zu verdrängen. […] Sagte man noch vor zehn Jahren etwa: Häßlich ist, was zwecklos ist; so sagt man heute: Häßlich ist, was un­sachlich ist. Indem man statt des präzisen „zwecklos“ ein vages „unsachlich“ setzte, verwandelte man Sinn in Unsinn. [… ] Hören wir auf! Brechen wir ab! Seit einer halben Stunde liest man uns mit dem bittersten aller Vorwürfe: wir seien „unsachlich“ geworden! ...“

(Roth, Joseph: Schluß mit der "Neuen Sachlichkeit"! In: Die Literarische Welt, 6 (1930), Nr. 3, S. 3 ff., vgl. PDF 6)

Die einsetzende Revision war weniger Absage als Weiterentwicklung. In ihrer Tradition stehen u. a. Werke des magischen Realismus und des Neorealismus in den Vierziger- und Fünfziger-Jahren des 20. Jahrhunderts.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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