Nachts schlafen die Ratten doch

Wolfgang Borchert

WOLFGANG BORCHERTs literarisches Schaffen drängt sich in jenen zwei von schwerer Krankheit überschatteten Jahren zusammen, die ihm zwischen seiner Heimkehr aus Krieg und Gefangenschaft, wohin ihn politische Parodien und Denunziation gebracht hatten, bis zu seinem Tod im Jahr 1947 blieben.

Wie andere seiner Altersgenossen, die als sehr junge Männer in den Krieg ziehen mussten, hatte das Erlebte ihn seelisch zutiefst erschüttert. Die um ihre Jugend betrogenen Kriegsheimkehrer erfuhren schmerzhaft, dass nicht nur die deutschen Städte in Trümmern lagen, sondern auch das geistige Leben. Sie prägten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Begriff der „Trümmerliteratur“, denn es schien ihnen unmöglich, in wohlgesetzten Worten an die bürgerlichen Erzähltraditionen der deutschen Literatur anzuknüpfen. Ihre kurzen, auf das Wesentliche reduzierten Geschichten, die karge, schmucklose Sprache waren der Widerhall ihres Misstrauens in die von den Nazi-Ideologen missbrauchte Sprache der deutschen Dichter.

WOLFGANG BORCHERT, mit seinem Drama „Draußen vor der Tür“ und seinen Kurzgeschichten, nicht zuletzt auch wegen seines mit 26 Jahren verlöschenden Lebens, gilt als bedeutendste und eindrucksvollste Stimme dieser jungen Kriegsgeneration.

Inhalt der Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch"

Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im wahren Wortsinne auf Trümmern spielt seine Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“. Sie beginnt nicht mit dem unvermittelten Einsatz ins Geschehen nach Art der amerikanischen Short Stories, die BORCHERT sehr gut kannte, sondern vielmehr mit der knappen Schilderung der Szenerie, zu deren Beschreibung BORCHERT aus dem Bildarsenal und der Farbsymbolik des Expressionismus schöpft.

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste.

Die Dinge sind personifiziert:

  • das Fenster gähnt,
  • die Schuttwüste döst.

Blickwinkel

Nach dieser Einführung ist der Blickwinkel ganz auf die Person eingeengt, die auf den Trümmern liegt und vor sich hindöst. Durch das Hinzutreten einer weiteren Person kommt unmittelbar Spannung in das Geschehen, denn der Liegende fühlt sich zunächst durch deren Schattenwurf bedroht. Als er dürftige Hosenbeine erkennt an krummen Beinen, durch die die Sonne scheint, lässt er sich zumindest auf ein Gespräch ein. Dieser Anblick signalisiert ihm, dass hier einer ist, dem es nicht viel besser geht als ihm selbst. Die Sonne, in der Einführung bereits als vages Symbol der Hoffnung platziert, wird nun gewissermaßen zum Begleiter des Ankömmlings. Das Gespräch kommt sehr schleppend in Gang. Jürgen, so heißt der auf den Trümmern Ruhende, antwortet auf die Fragen des älteren Mannes einsilbig und ausweichend. Aus der Art der Anrede und den Fragen des Mannes wird deutlich, dass Jürgen noch ein Kind ist. Er hält hier Wache, schon seit ein paar Tagen, und zwar am Tag wie in der Nacht und kann von hier keinesfalls fort. Das erzählt er zunächst widerstrebend Stück für Stück dem älteren Mann, der ihn aus seinem dumpfen Brüten herausgerissen hat. Doch als der Mann sich zum Gehen anschickt, bricht es geradezu hastig aus dem Jungen heraus.Er passt hier auf, damit sich nicht die Ratten über seinen toten kleinen Bruder hermachen, der unter den zusammengesackten Mauern begraben liegt. Denn die Ratten leben von den Toten, das weiß der Junge von seinem Lehrer. Seine Gefühlsregungen und seine kindliche Ausdrucksweise stehen nicht nur im scharfen Kontrast zu seiner extrem freudlosen Aufgabe, sondern auch beispielsweise zu der Tatsache, dass er raucht. In die Welt dieses Kindes ist mit der Schwere des Schicksalsschlags und der Härte der Umstände die Erwachsenenwelt frühzeitig eingebrochen.

Handlung

Allein im Gespräch zwischen dem Jungen und dem alten Mann entwickelt sich die Handlung, Äußerst selten meldet sich der Erzähler zu Wort und teilt sparsam mit, dass der Junge einmal „unsicher“, einmal „zaghaft“ oder „traurig“ antwortet und dass er plötzlich „ganz müde“ aussieht, als er von seinen nächtlichen Wachen berichtet. Dem Mann, der einen Korb mit Kaninchenfutter bei sich trägt, gelingt es durch feinfühliges, geradezu psychologisches Fragen, den Jungen ein wenig zu öffnen, und geschickt gewinnt er sein Interesse, indem er ihm von seinen 27 Kaninchen erzählt. Um den kleinen Jürgen von seiner traurigen Selbstverpflichtung zu erlösen, ohne dass er sie verraten muss, greift er zu einer behutsamen Notlüge:

Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen? … Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen.

Und er verspricht dem Jungen, dass er ihm ein kleines Kaninchen mitbringen werde, wenn es dunkel wird. Denn dann komme er wieder und bringe den Jungen nach Hause. Zum Zeichen seiner Begeisterung erhebt sich der Junge nun zum ersten Mal, er hat gleichsam zu seiner wahren, kindlichen Identität zurückgefunden, fragt nach, ruft und versichert, er würde warten bis zum Einbruch der Dunkelheit, während der Mann davongeht.

Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu.

Und er schwenkt seinen Korb.

Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.

In diesem Schlussbild, das wiederum mit Farben spielt, steht das Grün für ein Stück Lebenshoffnung, auch wenn die Schatten der Kriegsgräuel und des Todes, symbolisiert im Grau des Schutts, sich noch darauf ablagern.

In einer unmenschlichen Trümmerwüste, umgeben von Tod und Hoffnungslosigkeit, ist dem kleinen Jungen ein Stück Menschlichkeit und ein Schimmer Lebensfreude in der Gestalt des älteren Mannes mit den krummen Beinen und dem grünen Kaninchenfutter begegnet. Dieser Mann will den Jungen abbringen von seiner sinnlosen, selbst gewählten Aufgabe, den kleinen toten Bruder vor den Ratten bewahren zu wollen, indem er seine Aufmerksamkeit von den aasfressenden Ratten auf etwas Lebendiges, Freudvolles, in die Zukunft Weisendes lenkt, ein kleines Kaninchen.

Geschehen

Das Geschehen in dieser Kurzgeschichte entfaltet sich in Schüben – so zögernd wie der Junge sich dem älteren Mann anvertraut. Stück für Stück kann sich der Leser ein Bild von den Personen machen und sich die Beweggründe des Jungen und die Absichten des Mannes erschließen. Dadurch wird die Spannung die ganze Geschichte hindurch bis über den offenen Schluss hinaus gehalten. Schritt für Schritt findet der Junge auch aus seiner Verschlossenheit und Abwehrhaltung heraus und kann sich am Ende ganz wie ein kleiner Junge der Vorfreude auf ein Kaninchen hingeben. Für diesen Moment scheint seine Seele in eine heile Kinderwelt gefunden zu haben.

Erzähler

Der Erzähler tritt dabei nahezu vollständig hinter seine Figuren zurück, die Mitteilungen sind ganz in den Dialog hinein verlagert. Nur sehr selten verlässt der Erzähler die Perspektive seiner Personen und wechselt in die auktoriale Erzählerposition. Die sprachlichen Mittel sind äußerst sparsam gehandhabt, es finden sich kaum schmückende Beiwörter und die wenigen Erzählerkommentare beschränken sich allein auf sachliche Schilderungen der den Dialog begleitenden Handlungen. Die Kurzgeschichte hat einen offenen Schluss. Die Rückkehr des Mannes mit dem versprochenen Kaninchen liegt außerhalb des Handlungsrahmens, der nur diese eine Begegnung des Mannes und des Kindes umfasst.

Die Zitate entstammen aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949, S.216–219.

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