- Lexikon
- Deutsch Abitur
- 4 Literaturgeschichte
- 4.10 Literatur von 1945 bis zur Gegenwart
- 4.10.6 Literatur von 1990 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts
- Literarische Themen der Neunzigerjahre
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 03. Oktober 1990 ergaben sich auch neue Themen für die Literatur. Wie lebte es sich in dem neuen – alten Land, in dem sich der Alltag vor allem für viele Ostdeutsche radikal geändert hat. Aus dieser Sicht waren die 90er-Jahre eine Zeit des Übergangs. Kindheitserinnerungen und Bücher darüber, wie man sich die jeweils andere Seite, den „Westler“ oder den „Ostler“, vorstellte erschienen. Einerseits sind Beobachtungen und Gefühle in der „Berliner Republik“ im Gegensatz zur „Bonner Republik“ zu beschreiben.
Andererseits werden die Verluste und die neu gewonnenen Freiheiten in den Biografien ehemaliger DDR-Bürger konstatiert. Ältere Autoren beschreiben die psychischen Verletzungen, die sie in der DDR erlitten, sowie ihren Verlust an utopischen Hoffnungen. Ein Thema, das heftige emotionale Debatten auslöste, war das zum Verhältnis von Staatssicherheit und Literatur. Ihm wandten sich hauptsächlich ehemalige DDR-Autoren zu. Zwischen denen, die die DDR verlassen hatten und denen, die geblieben waren, gab es große Meinungsunterschiede, nicht selten Unverständnis oder unerbittliche Schuldzuweisungen. ERICH LOEST nannte seine Autobiografie in Anspielung auf den Privatsekretär GOETHEs „Die Stasi war mein Eckermann oder Mein Leben mit der Wanze“ (1991). 1990 veröffentlichte REINER KUNZE Teile seiner Stasi-Protokolle („Deckname Lyrik“).
GÜNTER GRASS leitete mit „Ein Schnäppchen namens DDR“ (1990) die Ost-West-Diskussion nach der Wende ein. 1991 wurde durch die Veröffentlichung von CHRISTA WOLFs „Was bleibt“ die Diskussion darüber weitergeführt.
WOLFGANG HILBIG beschäftigte sich in seinem Roman „Ich“ (1993) mit der doppelten Identität seiner Hauptfigur als Schriftsteller und Stasispitzel. Dabei führt er die Utopien seiner Generation ad absurdum, indem er W., seine Hauptfigur, ein gedankliches Geflecht von Abhängigkeiten entwerfen lässt:
War dies nicht das unausgesprochene Ziel der großen Utopien, von Platon über Bacon bis Marx und Lenin? Daß jeder jeden in der Hand hatte, vielleicht war dies das letztendliche Ziel des utopischen Denkens.
Diese erträumte „Überwachung des Gedankens“ paraphrasiert das volksliedhafte „Die Gedanken sind frei“. Der Held, der einen Berufskollegen bespitzeln soll, erfährt, dass er lediglich als Legendenbildner diente, damit der, den er bespitzelte, im Westen einen Ruf als Stasi-Verfolgter erhielte. Als ihm Zweifel an seinem Tun kommen, wird er verhaftet und in eine Heilanstalt eingewiesen.
BRIGITTE BURMEISTERs Roman „Unter dem Namen Norma“ (1994) beschäftigt sich aus der Sicht der Täter mit dem Stasi-Phänomen. Das Buch spielt im Sommer 1992. Die Ich-Erzählerin Marianne Arends gibt vor, Stasi-Spitzel gewesen zu sein. Auf dieses scheinbare Geständnis folgt gesellschaftliche Ächtung und Ausgrenzung: Ihr Mann, der in West-Berlin lebt, trennt sich von ihr.
Die Romanistin BURMEISTER sieht sich vom französischen Nouveau Roman beeinflusst.
GOETHEs Iphigenie in VOLKER BRAUNs „Iphigenie in Freiheit“(1992) spürt den Verlust ihrer Ideale nach dem Fall der Mauer, die plötzlichen ideellen Leerstellen, die auszufüllen sind mit den Versatzstücken einer angenommenen westdeutschen Identifikation.
JUREK BECKERs „Amanda herzlos“ (1992) beschäftigt sich mit dem DDR-Alltag in den späten Achtzigerjahren: Drei Männer, der Zeitungsredakteur Ludwig Weniger, der oppositionelle Schriftsteller Fritz Hetmann und der Hamburger Rundfunkreporter Stanislaus Doll blicken als (gewesene) Ehemänner auf die angeblich herzlose Amanda und ihr Leben zurück. Erst mit dem letzten ihrer Ehemänner beschließt Amanda die Ausreise in die Bundesrepublik. Dieser ist ausgerechnet ein „Wessi“. Deutbar ist der Schluss: Die Bundesrepublik nimmt die verflossene DDR an die Hand in eine „Freiheit“, wie sie sie meint.
Der große „Wende-Roman“, vielfach in der Literaturkritik beschworen, ist bis heute nicht geschrieben.
Viele hielten THOMAS BRUSSIGs „Helden wie wir“ (1996) für diesen „Wende-Roman“. Wie auch in „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (2001) wird hier versucht, die gesellschaftliche Entwicklung über den historischen Zufall zu erklären. Damit gelangt man bereits ganz nah an die Wahrheit, denn ein Zufall war es, der Günter Schabowski (geb. 1929) 1989 erklären ließ, die Reisefreiheit für DDR-Bürger träte mit sofortiger Wirkung in Kraft. Diese wahre Begebenheit barg nicht wenig Komik in sich. Vielleicht deshalb setzten sich jüngere Autoren der ehemaligen DDR humoristisch-satirisch mit dem Thema „Wende“ auseinander. Für sie war die DDR längst kein historischer Ort von Utopie mehr.
Inhalt:
BRUSSIGs komplexbeladener „Held“ Klaus Ultzscht will mit seinem erigierten Penis „die Berliner Mauer umgeschmissen“ haben. Am legendären 4. November 1989 erleidet er einen Treppensturz. Als dessen Folge schwillt sein Penis zu einer beträchtlichen Größe, die die Grenzer derart beeindruckt, dass sie die Grenze öffnen. Die Geschichte wird so grotesk erzählt, dass sie geeignet scheint, den Ereignissen die mythische Überhöhung zu nehmen. An die Stelle des „geteilten Himmels“ (Christa Wolf) tritt der „geheilte Pimmel“.
Der an CHARLES BUKOWSKI und JOHN IRVING geschulte BRUSSIG gibt uns Einblicke in die Lebensstationen seines Helden: Ultzscht auf der „Messe der Meister von morgen“ und seine Arbeit bei der Staatssicherheit: in allem steckt das Absurde und Lächerliche, das ein wenig auch in der DDR steckte. Nur wird es mit dem Spott der Erlösung erzählt, mit Banalitäten und Obszönitäten angereichert, um den Sarkasmus zu verpacken, der in diesem Werk versteckt ist.
INGO SCHULZEs (geb. 1962) „Simple Storys“ (1998), ein „Roman aus der ostdeutschen Provinz“ (Untertitel), erzählt in 29 Kapiteln Episoden aus der Zeit nach 1990. SCHULZE zeigt das Alltagsleben nach der Wende in vielen kleinen Geschichten, die lediglich über den Schauplatz Altenburg bzw. die Figuren zusamengehalten werden. Eine Frau erzählt über ihre Erlebnisse auf einer Busreise nach Italien. Sie reisen mit einem westdeutschen Pass und unter falschem Namen, als BRD-Bürger. Eine Autopanne zwingt zum unfreiwilligen Halt, als ein Bergsteiger die Kirchenfassade hinauf klettert. Davor bildet sich eine Menschentraube, man fotografiert den Wahnsinnigen. Jemand hat ihn erkannt, man ruft seinen Namen. Er hält auf dem Sims eine Anklagerede gegen „den Bonzen im grünen Anorak“, dann klettert er nach unten, wird von Carabinieri in Empfang genommen. Die Menschentraube löst sich auf. Von dieser Art sind SCHULZEs Geschichten, unspektakulär, in „lakonischem, gänzlich unpathetischen Stil“, der „an die Tradition der amerikanischen Short Story“ anknüpft (Klappentext). Es sind die kleinen und großen Verletzungen der Seele, die berichtet werden. Als Erzählmotiv wird genannt: „Weil man so schnell vergißt“.
BERNHARD SCHLINK griff in seinem Roman „Der Vorleser“ (1995) die nach dem Zweiten Weltkrieg viel diskutierte Frage um die Schuld des Einzelnen an Holocaust und Massenmord wieder auf. Der 15-jährige Hauptheld Michael Berg lernt die um vieles ältere Analphabetin Hanna Schmitz kennen und lieben. Sie werden sehr vertraut miteinander. Michael liest Hanna aus Büchern vor. Als er der Frau viele Jahre später bei einem Prozess gegen ehemalige Kriegsverbrecher wieder begegnet, ist er Jurastudent und erfährt, dass sie eine ehemalige Aufseherin in einem KZ in Auschwitz gewesen ist. Michael versucht ein bürgerliches Leben zu leben, heiratet eine Kommilitonin, von der er sich jedoch bald wieder scheiden lässt. Er betreut die zu lebenslanger Haft verurteilte Hanna im Gefängnis. Mithilfe von Kassetten, auf denen er der ehemaligen Vertrauten vorliest, gelingt es ihr, Lesen und Schreiben zu lernen. Kurz vor ihrer Entlassung begeht Hanna Selbstmord. Sie hinterlässt ihr kleines Vermögen der Tochter eines ehemaligen Häftlings.
Neue Subjektivität: GÜNTER GRASS’ von den Kritikern arg gescholtenes „Ein weites Feld“ ist eine Geschichte über den FONTANE-Verehrer Theo Wuttke (genannt „Fonty“) und seinen Spitzel Hoftaller. Sie verbalisiert GRASS’ Kritik an der Art und Weise der Wiedervereinigung im Ausverkaufs-Stil und der Zerstörung ostdeutscher Lebensgefühle.
Eine weitere Tendenz zeigt sich im Fortbestehen der Neuen Subjektivität. GÜNTER GRASS legte mit „Mein Jahrhundert“ (1999) ein Erinnerungsbuch vor, das ebenso hart diskutiert wurde, wie „Ein weites Feld“.
STEFAN HEYMs autobiografische Geschichten „Immer sind die Weiber weg“ (1997) sind„komische und traurige und humorvolle Geschichten“, (Klappentext), die den Autor „von einer ganz neuen Seite“ zeigen, „sie gehören zu den eigenwilligsten, was er je geschrieben hat“ (ebenda).
Es sind Kurzgeschichten, die er seiner Frau Inge geschrieben hat.
Auch MARCEL REICH-RANICKI legte mit „Mein Leben“ (1999) eine erfolgreiche Autobiografie vor.
Neben den Texten der älteren Autoren und Literaturkritiker aus Westdeutschland beschreiben die jüngeren des Leben in der wohlhabenden Bundesrepublik und die jüngsten das Lebensgefühl der Techno-Generation, für die die Love-Parade zu einem Symbol des Spaßes und fast grenzenloser Freiheit geworden ist. In Literaturkritiken wird diese Literatur als abgeklärt und illusionslos, verspielt und z. T. elitär, glatt und makellos – als ein Teil der neuen Popkultur charakterisiert.
Nachdem in den Diskussionen die Frage, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt, immer weniger eine Rolle spielt, haben die Autoren einen gemeinsamen Konfliktstoff. Er entsteht aus den unterschiedlichen deutschen Vergangenheiten und Lebensformen im Deutschland des 21. Jahrhunderts, dass seinen Platz im neuen Europa und der Welt finden muss. Was dies für den Alltag und die individuellen Lebensphilosophien bedeutet, davon werden die Autoren erzählen.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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