Der französische Dramatiker JEAN RACINE wurde am 22. Dezember 1639 in La Ferté-Milon (bei Soissons) geboren. Sein Vater war LOUIS RACINE. Der Knabe besuchte die jansenistisch geprägte Schule von Port-Royal. Seine humanistische Ausbildung (intensives Griechischstudium) erlangte für die spätere dramatische Arbeit zur Erneuerung der französischen Tragödie große Bedeutung. RACINEs Debüts in Bühnen- und Hofwelt sowie persönlicher Ehrgeiz führten jedoch bald zum Bruch mit den theaterfeindlichen Jansenisten (1666). Trotz einiger Skandale und Affären brachten ihm seine Erfolge die Förderung durch NICOLAS BOILEAU-DESPRÉAUX (1636–1711), durch einflussreiche Politiker (JEAN-BAPTISTE COLBERT, 1619–1689, ein französischer Staatsmann, Begründer des Merkantilismus) und die königliche Familie (König LUDWIG XIV. und dessen Schwägerin HENRIETTE). 1673 wurde er Mitglied der Académie française. 1677 zog er sich nach Hof- und Theaterintrigen als Bühnenautor zurück, im gleichen Jahr wurde er Hofhistoriograph.
Schon in der ersten, noch von MOLIÈREs Schauspielern aufgeführtenTragödie „La Thébayde ou les frères ennemis“ (1664; deutsch „Die Thebais oder Die feindlichen Brüder“), die das tragische Verfallensein des Menschen an seine Vergangenheit behandelt, machte sich RACINE die effektvollen Stoffe der griechischen Mythologie zunutze. Das Stück blieb jedoch wenig beachtet. In „Alexandre le Grand“ (1666; deutsch „Alexander der Große“) schmeichelte er mit einem idealisierten historischen Stoff den Feldherrntugenden LUDWIGs XIV. und ahmte mit galanten Liebesabenteuern und preziöser Stilart die moderne Romanliteratur nach. Der endgültige Durchbruch gelang mit „Andromaque“ (1668; deutsch „Andromache“), dem von EURIPIDES, HOMER und VERGIL inspirierten Drama der Folgeereignisse des Trojanischen Krieges, worin die Menschen nun aber nicht mehr den Göttern, sondern ihren eigenen Leidenschaften und Regungen ausgeliefert sind. Entgegen dem heroischen, willensbetonten Menschenbild und aristokratischen Ethos PIERRE CORNEILLEs (1606–1684) herrschten somit selbst in politischen Stücken RACINEs wie „Britannicus“ (1670; deutsch) und „Mithridate“ (1673; deutsch „Mithridates“) kleinmütiger Egoismus, misstrauisches Beobachten und gegenseitiges Hintergehen der an sich selbst verzweifelnden Menschen. Folgerichtig nahm er darum „Bérénice“ (1671; deutsch „Berenike“), die Tragödie eines schmerzhaften, unfreiwilligen Liebesverzichts, zum Anlass, im Vorwort seinen humanistischen Tragikbegriff als „tristesse majestueuse“ („erhabene Melancholie“) zu umschreiben, als seelisches Leid, das des theatralischen Beiwerks barocker Schauertragödien nicht mehr bedurfte. Auf Kritik an diesem neuartigen Tragikbegriff reagierte RACINE mit „Bajazet“ (1672; deutsch), einer Haremstragödie aus zeitgenössischem türkischem Milieu. In das Zentrum von „Iphigénie“ (1675; deutsch „Iphigenie“) stellte er die antike Idee des Menschenopfers, jedoch aus Gründen des zeitüblichen Kunstbegriffs abgeschwächt zum Selbstmord der Eriphile.
Mit „Phèdre“ (1677; deutsch „Phädra“, von F. SCHILLER, siehe PDF "Jean Racine - Phaedra") schöpfte die klassische französische Tragödie noch einmal alle ihre Möglichkeiten aus: Nach dem stofflichen Vorbild von EURIPIDES gestaltete RACINE die vom Jansenismus verkündete unbeeinflussbare Vorbestimmtheit des Menschen psychologisch überzeugend in vollendeten Alexandrinern. Die beiden letzten Stücke, die RACINE auf Anregung der glaubensstrengen MADAME DE MAINTENON für die Schülerinnen von Saint-Cyr schrieb, nehmen biblische Stoffe auf („Esther“, 1689, deutsch; „Athalie“, 1691, öffentlich aufgeführt 1716; deutsch „Athalja“).
RACINE verfasste des Weiteren eine Komödie nach ARISTOPHANES, „Les plaideurs“ (1669; deutsch „Die Prozesssüchtigen“), die ihn als begabten Satiriker erwies, ferner höfische und geistliche Lyrik („Cantiques spirituels“, 1694; deutsch „Geistliche Gesänge“) sowie die den Jansenismus rechtfertigende Abhandlung „Abrégé de l'histoire de Port-Royal“ (entstanden zwischen 1695 und 1699, herausgegeben 1742; deutsch „Abriss der Geschichte von Port-Royal“).
Mit seinen fünfaktigen Verstragödien erfüllte RACINE den theoretischen Anspruch der klassischen Dichtungslehre, tragisches Geschehen mittels Vergeistigung und Überhöhung an die sittlichen und gesellschaftlichen Normen seiner Zeit anzupassen. Er veränderte das komplizierte, äußerst beredsame Barocktheater, indem er einerseits komplexe Intrigen durch einfache Handlungen, andererseits barocke Überraschungstechnik durch Reflexion und Selbsterkenntnis ersetzte; die Reduzierung des Wortschatzes (ungebräuchliche Wörter, Neologismen und Ähnliches waren in der durch die Académie française festgelegten Sprachregelung nicht erlaubt) glich er durch symbol- und anspielungsreiche Sprache sowie den verstärkten Einsatz nichtsprachlicher Mittel (Mimik, Gestik, beredtes Schweigen) aus. In einer durch christliche Trieb- und höfischer Selbstbeherrschung geprägten Epoche stellte RACINE (wie auch B. PASCAL und die Moralisten) den Menschen im Räderwerk seiner selbst dar. So gelang es ihm, anstelle moralischer Belehrung wieder verstärkt tragisches Empfinden auf der Bühne zu vermitteln.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
Ein Angebot von