Geschichtlicher Hintergrund des Naturalismus

Die Autoren des Naturalismus gingen davon aus, dass der Mensch

  • durch die Natur und
  • durch seine Natur,
  • durch biologische Vererbung und
  • von seiner sozialen Umwelt

geprägt ist. Sie interessierten sich für die psychischen und psychopathologischen Zustände des Menschen als eine Form seiner psychosozialen Natur.

Der Naturalismus war eine programmatische Strömung und hatte damit auch ein deklamiertes und reflektiertes Ende.

Programmatische Strömung heißt in diesem Zusammenhang, dass die literarischen Theorien, die sich aus der Reflexion über die Welt des sich vollendenden 19. Jahrhunderts ergeben haben, konsequent in der Literatur umgesetzt wurden.

„Die mit ‚einer fast unheimlichen Schnelle und Folgerichtigkeit‘ seit Goethes Tod erfolgten ‚Entdeckungen und ihre Neuverwertungen‘ haben zu einer völlig veränderten Wirklichkeitserfahrung im Zeichen der naturwissenschaftlichen Welterfassung geführt. ... Die Wirkung moderner Erfahrungswissenschaften auf den naturalistischen Schriftsteller ist tiefgreifend. Ihr Weltbild wird durch die biologischen, physikalischen und geologischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts geformt.“ (Wolfgang Kirchbach, 1857–1906)

Es ist die Zeit der Firmengründungen. Siemens, AEG, Bosch und damit Stahl (der Ofen) und Elektrizität (die Glühbirne) sind Symbole der Zeit.

  • Die Industrie in den Städten braucht viele neue Arbeitskräfte.
  • Die arbeitende Bevölkerung wächst schnell.
  • Das Proletariat wohnt in den industriellen Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet, in denen sich Großstädte zu entwickeln beginnen.

Es kam zu einer Verschlechterung der ohnehin schon kritischen Lebensbedingungen der Bevölkerung, u. a. das Wohnungselend.

Beispielsweise lebten in den 70er-Jahren des 19. Jh. in Berlin fast zwei Drittel der Bevölkerung, fast 600 000 Menschen, in einer, höchsten aber zwei beheizbaren Stuben. Durchschnittlich sieben Personen bewohnten dabei einen Raum. Weit mehr als 100 000 Berliner hausten in Kellerwohnungen. Von denen lag die Mehrzahl so tief, dass unter ihren Bewohnern die Tuberkulose eine Alltagskrankheit war. Wer die Miete nicht zahlen konnte, wurde rücksichtslos aus der Wohnung gejagt. Massenobdachlosigkeit und aus dem Boden schießende Barackensiedlungen am Stadtrand waren die Folge.

Mit der Gründung der SPD entwickelt sich eine neue politische Kraft, die gerade in der Zeit ihres Verbots (Sozialistengesetz 1878–1890) besonders schnell wächst, Sympathisanten findet und sich durch ein umfassendes Vereins- und Organisationswesen im Alltag der arbeitenden Schicht fest etabliert. Die Partei und die Gewerkschaften organisierten sich mit viel Geschick im Untergrund. Darüber hinaus wurde die Solidarität der Arbeiter untereinander und mit den vom Sozialistengesetz Betroffenen geweckt. Das führte letztlich sogar zur Stärkung der Kampfkraft der Arbeiterbewegung. So wuchs die Anzahl der Wähler der SAP von 1878 bis 1890 trotz aller Verfolgungen um mehr als das Dreifache. Nach den Reichstagswahlen von 1890 zog die Partei nunmehr mit 35 Abgeordneten in den Deutschen Reichstag ein und war damit viertstärkste Fraktion.

Die sich entwickelnde sozialistische Literatur thematisiert besonders die Arbeits- und Lebensbedingungen der unteren sozialen Schicht als soziale Frage. Unter diesem Aspekt knüpft sie an den poetischen Realismus an und hat Berührungspunkte mit dem Naturalismus. Neu an dieser Literatur ist, dass Arbeiter über eigenes Leben zu schreiben beginnen.

MICHAEL GEORG CONRAD: „Treue Wiedergabe des Lebens unter strengem Ausschluß des romantischen, die Wahrscheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden Elementes; die Komposition hat ihren Schwerpunkt nicht mehr in der Erfindung und Führung einer mehr oder weniger spannenden, den blöden Leser in Atem haltenden Intrigue (Fabel), sondern in der Auswahl und logischen Folge der dem wirklichen Leben entnommenen Szenen ...“
(Conrad, Michael Georg: Zola und Daudet. In: Die Gesellschaft 1 (1885) Nr. 40. S. 746 f.)

Die meisten Schriftsteller des Naturalismus sympathisierten mit der gemäßigten Richtung der Sozialdemokratie.
Seit 1871 ist Deutschland ein durch Kriege geeinigtes Land mit einer konstitutionellen Monarchie. Unter dem Kanzler der Einigung, OTTO VON BISMARCK (1815 –1898), findet eine Militarisierung fast des gesamten öffentlichen Lebens statt, was u. a. eine Vernachlässigung und Herabsetzung von Kunst und Kultur von Seiten des Staates im öffentlichen Leben zur Folge hat. Weit verbreitet in dem neu entstandenen Reich ist die nationale Staatsidee, ein nationalkonservatives Denken und ein starker politischer Katholizismus.

Kritik eines Zeitgenossen:

„Der dümmste Soldat ist mehr wert als der beste Lyriker.“ (Conrad)

Die „soziale Frage“

Die „soziale Frage“ ist wie bereits zur Zeit des poetischen Realismus eine der wichtigsten Streitpunkte. Thematisiert wird auch die soziale Lage freier Autoren, der Schriftsteller bzw. Journalisten. Der „Journalist“ wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein selbstständiger und akzeptierter Beruf.

1890 musste OTTO VON BISMARCK auf Druck durch den jungen Kaiser WILHELM II. alle seine Regierungsämter ablegen.
Den Zeitgenossen erschien der junge Kaiser anfänglich als ein den Entwicklungen der modernen Technik aufgeschlossener Monarch, der von sozialen Ideen erfüllt war. Er wandte sich auch zunächst durchaus engagiert der Frage des erweiterten Arbeiterschutzes zu. Jedoch zeigte es sich schon bald, dass ihm das wirkliche Verständnis für die soziale Problematik und die Situation der Arbeiterschaft fehlte.
WILHELM II. legte eine umfangreiche Arbeiterschutzversicherung vor.
Sie beinhaltete

  • ein generelles Verbot der Sonntagsarbeit für Kinder und der
    Fabrikarbeit für Kinder unter 13 Jahren.
  • Die Arbeitszeit wurde für Frauen auf elf Stunden täglich
    begrenzt, für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehn Stunden.
  • In einem betrieblichen Streit zwischen Arbeitnehmern und
    Arbeitgebern sollten künftig Gewerbegerichte schlichten.


Mit diesem sozialen Reformprogramm, das weit hinter den großartigen kaiserlichen Ankündigungen zurückblieb, sollte die Masse der Industriearbeiter

  • von der Sozialdemokratie getrennt und
  • mit dem Staat versöhnt werden.

Als sich aber die Arbeiterschaft nicht von der Sozialdemokratie entfremden ließ und die Sozialdemokratische Partei ihre Opposition gegen die Regierung nicht aufgab, verlor der Kaiser schon bald wieder jegliches Interesse an der sozialen Frage.
Die Regierung kehrte zurück zur bereits unter BISMARCK praktizierten Politik der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie. Das Unwort „Vaterlandsverräter“ für Sozialdemokraten war bald in aller Munde. Mit immer neuen Gesetzesvorlagen, wie etwa der Umsturzvorlage 1894, wurde versucht, die antisozialistischen Maßnahmen aus der Bismarckzeit in noch extremerer Form wiederzubeleben.
Sehr häufig mischte sich WILHELM II. auch direkt ein, wobei die
Gewalttätigkeit seiner öffentlichen Erklärungen selbst viele seiner
Beamten erschreckte. Seinen Höhepunkt erlebte diese
Einmischungspolitik des Kaisers im Jahr 1899. Auf sein Drängen hin sollte das preußische Staatsministerium ein neues Gesetz zum Schutz der Arbeit vorbereiten. In einer unprogrammgemäßen Rede erklärte WILHELM dazu, dass das Gesetz Bestimmungen enthalten werde, die jedem eine Gefängnisstrafe androhten, der einen arbeitswilligen Arbeiter von der Arbeit abhalten oder ihn gar zum Streik verleiten würde. Im August 1899 kam diese „Zuchthausvorlage“ vor den Reichstag und wurde von diesem niedergestimmt.
Die Einmischungen des Kaisers erreichten somit das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absichten. Denn es war klar, dass der Reichstag nach dem Scheitern der Zuchthausvorlage 1899 auch keinen weiteren Sondergesetzen gegen die Sozialdemokratie mehr zustimmen würde. Folge der kaiserlichen Politik war aber auch, dass sich der zwischen der Arbeiterschaft und dem Rest der deutschen Gesellschaft seit 1878 bestehende Graben immer mehr vertiefte und die Verbitterung unter der Arbeiterschaft immer weiter wuchs.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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