Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Der am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen geborene Philosoph und studierte Philologe FRIEDRICH NIETZSCHE veröffentlichte seine erste bedeutende Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ im Jahre 1872. Sie überwand das tradierte Griechenlandbild der Klassik.

„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ entstand zur Zeit seines intensiven Kontakts mit RICHARD WAGNER in Basel, den er 1868 in Leipzig kennengelernt hatte. Der damals erst 24 Jahre alte NIETZSCHE hatte dort 1869 eine Professur für Philologie angenommen und lernte so den in Tribschen lebenden Musiker näher kennen.

Er hielt dort drei Vorträge, die sein späteres Thema umkreisten:

  • „Das griechische Musikdrama“ am 18. Januar 1870
  • „Socrates und die Tragoedie“ am 1. Februar 1870
  • „Die dionysische Weltanschauung“ im Juli/August 1870).

Seit 1871 arbeitete er bereits an seinem Buch, dem er den vorläufigen Titel „Ursprung und Ziel der Tragödie“ gab. Nach der Veröffentlichung im  Januar 1872 in Leipzig fand „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ bei WAGNER freudige Aufnahme. Allerdings die Fachwelt hielt sich mit Äußerungen zurück. Einzig der Altphilologe ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (1848–1931), Kommilitone NIETZSCHEs, reagierte in seiner Schrift „Zukunftsphilologie“ auf das Buch.  WILAMOWITZ fasste die allgemeine Meinung der Fachwelt zusammen, er setzte sich damit gegen den ehemaligen Mitschüler durch und bestimmte bis in die 1940er-Jahre die Wege der Altertumswissenschaften. NIETZSCHE dagegen war weitgehend isoliert.
Immer stärker fühlte er sein Unbehagen, sich mit philologischen Themen auseinandersetzen zu müssen, darum bewarb er sich um einen philosophischen Lehrstuhl. 

Seine Schrift orientiert sich weitgehend an zwei Polen:

  • der Philosophie ARTHUR SCHOPENHAUERs und
  • der Musik und Musiktheorie RICHARD WAGNERs.

ARTHUR SCHOPENHAUER

ARTHUR SCHOPENHAUER (1788–1860, „Die Welt als Wille und Vorstellung“) speiste seine Philosophie aus den Anschauungen von IMMANUEL KANT, dessen Schüler er war, und aus seiner Beschäftigung mit indischen Philosophien, vor allem dem Buddhismus.

„In meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwand bald auch die mir eingeprägten jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden; darauf deuteten die Data, und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand“
(Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlass, hrsg. von A. Hübscher. Bd. IV,1, S. 96).

Und so kulminiert seine Philosophie in:

  • "Du kannst t h u n was du w i l l s t: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes w o l l e n und schlechterdings nicht Anderes, als dieses Eine."
    (Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Freiheit des Willens. Hamburg: Felix Meiner, 1998, S. 58-59. Hervorherbungen wie im Original)
    und
  • „Die Welt ist meine Vorstellung“
    (Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 1, Zürich 1977, S. 27).

Er war, wie die Buddhisten, der Meinung, menschliches Leben sei Leiden, aber die Musik sei in der Lage, die Menschen von ihren Schmerzen zu erlösen bzw. diese zu lindern. Diese Erkenntnis floss direkt in die Betrachtungen NIETZSCHEs ein.

RICHARD WAGNER

Auch RICHARD WAGNER (1813–1883) war, wie NIETZSCHE, ein Anhänger SCHOPENHAUERs. Vor allem die WAGNERsche Musik beeinflusste den jungen NIETZSCHE sehr. In „Ecce homo“ berichtet er zurückblickend:

„Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence – Gift, ich bestreite es nicht... von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab – mein Kompliment, Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer.“
(Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Werke in drei Bänden. München: Hanser, 1954, Band 2, S. 1091 )

Als sich nach 1878 das Verhältnis NIETZSCHE–WAGNER merklich abkühlte, entstanden erste WAGNER-kritische Stücke.

„Das Erste, was seine Kunst uns anbietet, ist ein Vergrößerungsglas: man sieht hinein, man traut seinen Augen nicht - Alles wird gross, selbst Wagner wird groß ...Was für eine kluge Klapperschlange! Das ganze Leben hat sie uns von ,Hingebung' von ,Treue', von ,Reinheit' vorgeklappert, mit einem Lobe auf die Keuschheit zog sie sich aus der verderbten Welt zurück! - Und wir haben's ihr geglaubt ...“
(Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. in: Werke in drei Bänden. München: Hanser, 1954, Band 2, S. 908)

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Musik, insbesondere die Oper, sei

„die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen“
(Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München: Hanser, 1954, Band 1, S. 104).

Die griechische Antike bis SOKRATES glaubt er als dieses Idyll. Dieser verkörpere „den Typus des theoretischen Menschen, über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste Aufgabe ist“. (ebenda, S. 85)

NIETZSCHE erläutert den Ursprung der Tragödie aus dem griechischen Chor. Er unterscheidet grob in zwei „Typen“ des Künstlers: in

  • apollinisch: Kunst des Bildners = Dichter
  • dionysisch: unbildliche Kunst = Musik,

diesen ordnet er die Begriffe

  • Musik,
  • Epos und
  • Lyrik

zu. Das Drama ist für ihn die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen. Mit SOKRATES sei jedoch das Ende des Idylls gekommen, und damit das Ende der Musik: MIt ihm begann

„der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde“. (ebenda, S. 72)

„Was ist also Wahrheit?“

NIETZSCHEs Vortrag „ Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (1873, siehe PDF "Friedrich Nietzsche - Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn") beleuchtet das Verhältnis des Menschen zur Welt und seine Erkenntnisfähigkeit. Genau wie in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ versucht NIETZSCHE auch in diesem Aufsatz über die Philologie – das Fach, das er studiert hatte – in die Sphären der Philosophie vorzudringen:

„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben“
(Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München: Hanser, 1954, Band 3, S.- 309 ).

Die zentrale Frage des Aufsatzes ist: „Was ist also Wahrheit?“

„Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die der ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen“. (ebenda, S. 313)

In diesem Zusammenhang setzt NIETZSCHE sich auch mit der Sprache auseinander. Er knüpft dabei an die Überlegungen WILHELM VON HUMBOLDTs an. Begriffe sind vom Menschen willkürlich gesetzt, „die Natur (kennt) keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen“. Der Begriff ist nichts als ein „Residuum (1) einer Metapher“. Wahrnehmung entsteht quasi durch „Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder“. Dieses sucht im Menschen nach Erklärungen, Beschreibungen, „einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges“. Wahrheit im menschlichen Sinne kann also stets nur subjektiv sein, damit er die Welt in subjektive Begriffe fassen kann. Die Sprache dient dabei dem „Bau der Begriffe“. Der Mensch entwickelte im Laufe der Evolution den „Trieb zur Metapherbildung“, um sich die Welt erklärbar zu machen. Er wurde zu einem Fundamentaltrieb. D. h., ohne ihn gäbe es den Menschen nicht.

(1) Residuum, d. i. der Rest, von residuum = das zurück Gebliebene, das, was sich abgesetzt hat.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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