Expressionismus

Expressionismus bezeichnet Kunst, Musik und Literaturströmungen zwischen 1910 und 1925 und ist als literarische Strömung eine Gegenbewegung zu Naturalismus, Realismus und Impressionismus.

Begriff

Das Wort Expressionismus ist abgeleitet von lateinisch expressio, was so viel wie Ausdruck bedeutet. Der Begriff wurde 1911 von KURT HILLER geprägt. Er stammt ursprünglich aus der Kunst. Künstler der „Brücke“ in Dresden (1905) und des „Blauen Reiter“ in München (1911) suchten die irreale, phantastische Welt des Unterbewussten, der Träume und des Alogischen hinter den Phänomenen zu ergründen und darzustellen. Zu ihnen gehörten Maler wie OSKAR KOKOSCHKA, EMIL NOLDE und PAULA MODERSOHN-BECKER.

Literarischer Expressionismus

Der literarische Expressionismus ging auch erstmals eine Symbiose mit anderen Künsten ein. So wirkte ERNST BARLACH als Bildhauer, Grafiker und Dichter, der Maler OSKAR KOKOSCHKA war auch Lyriker. Nicht zuletzt deshalb ist der literarische Expressionismus durch besondere Vielfalt und Verschiedenartigkeit gekennzeichnet. Die Grenzen zwischen dem Frühexpressionismus und dem Impressionismus sind fließend.

Expressionistische Lyrik

Die bevorzugte Gattung war zunächst die Lyrik.

GEORG TRAKLs Gedicht „de profundis“ (Vom Abgrund, Audio 1) bedient sich bereits ungewöhnlicher Metaphern, die die Ausweglosigkeit des Menschen um die Jahrhundertwende symbolisieren sollen.

de profundis
GEORG TRAKL

Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt.
Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht.
Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist -
Wie traurig dieser Abend.

Am Weiler vorbei
Sammelt die sanfte Waise noch spärlich Ähren ein.
Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung
Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.

Bei der Heimkehr
Fanden die Hirten den süßen Leib
Verwest im Dornenbusch.

(Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1972, S. 27-28.)

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ELSE LASKER-SCHÜLER (1869–1945) begann so ihr Frühwerk („Styx“, 1902). Die Gesellschafts- und Bürgerkritik der skandinavischen Naturalisten AUGUST STRINDBERG (1849–1912), HENRIK IBSEN (1828–1906) und KNUT HAMSUN (1859–1952) wirkte auf die Expressionisten nach. Zivilisationskritik übernahm man auch vom Impressionismus. Die psychologische Erzählweise FJODOR MICHAJLOWITSCH DOSTOJEWSKIJs (1821–1881) hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Von den gesellschaftlichen Veränderungen um die Jahrhundertwende beeinflusst, wurden die Texte stark rhythmisch.

Wichtige Sujets

  • das Tempo der Großstadt
    - GEORG HEYM: „Berlin“, 1911; „Der Gott der Stadt“, 1911, Audio 2;
    - PAUL BOLDT: „Berlin“, 1914, vergleiche PDF "Großstadtgedichte",
     
  • das Morbide
    - GOTTFRIED BENN: „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“, 1912,
     
  • der Tod
    - GEORG HEYM: „Die Tote im Wasser“, 1910, Audio 3;
    „Ophelia“, 1910, Audio 4;
    - GEORG TRAKL: „An den Knaben Elis“, 1913;
    - GOTTFRIED BENN: „Kleine Aster“, 1912; „Morgue“, 1912,
     
  • der Weltuntergang als Voraussetzung für die Schaffung eines neuen Menschen
    - J.V. HODDIS: „Weltende“, 1911;
    - ELSE LASKER-SCHÜLER: „Weltende“, 1904;
    - PAUL BOLDT: „Novemberabend“, 1912, weitere Beispiele: PDF "Gedichte zum Thema Weltuntergang",
     
  • die Rückbesinnung auf den Vanitas-Gedanken des Barock während des Ersten Weltkrieges führte zur Thematisierung der Nichtigkeit des Daseins angesichts des Todes
    - PAUL BOLDT: „Der Leib“, 1918;
    - GOTTFRIED BENN: „Schöne Jugend“, 1912;
    - GEORG TRAKL:„ Ruh und Schweigen“, 1913.
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Man konstruierte die Gedichte von nun an weniger architektonisch, sondern stärker zugunsten der Ausdrucksstärke.

Es ging nicht mehr um die innere Schönheit, sondern um das innere Erleben der Außenwelt. Der Expressionismus sprengte deshalb die herkömmliche Grammatik, um

  • Visionen,
  • Träume,
  • Mystik,
  • Exstase

literarisch darstellen zu können (AUGUST STRAMM).

Die Form der Gedichte war gekennzeichnet durch:

  • Worthäufungen,
  • gewagte Neologismnen,
  • groteske Satzgestaltung.

Dieses Hinwegsetzen über die formalen Kriterien der Reim- und Gedichtformen hatte man an den späten Gedichten RIMBAUDs beobachtet.

AUGUST STRAMM
Trieb

Schrecken Sträuben
Wehren Ringen
Ächzen Schluchzen
StürzenDu!

Grellen Gehren
Winden Klammern
Hitzen Schwächen
Ich und Du!

Lösen Gleiten
Stöhnen Wellen
Schwinden Finden
Ich
Dich
Du!

(Stramm, August: Das Werk. Wiesbaden: Limes, 1963, S. 34)

Auch den Hang zum Morbiden (BENN, G. HEYM) übernahmen die Expressionisten vom symbolistischen Vorbild ARTHUR RIMBAUD. Ebenso verzichtet die Zeilenkomposition auf verbindende Elemente zwischen den einzelnen Versen. Der übergeordnete Sinn ergibt sich oft nur noch aus dem Gedichttitel bzw. aus der inhaltlichen Gesamtaussage. Oft ist auch der Gebrauch von Chiffren zu beobachten, wobei das Gedicht im Ganzen allegorisch wirkt.

Der Reihungsstil des Expressionismus reiht in Zeilen oder Strophen jeweils eigene, abgeschlossene Bilder aneinander. Der Zusammenhang ist nur noch aus dem Titel erkennbar.

ALFRED LICHTENSTEIN
Die Zeichen

Die Stunde rückt vor.
Der Maulwurf zieht um.
Der Mond tritt wütend hervor.
Das Meer stürzt um.

Das Kind wird Greis.
Die Tiere beten und flehen.
Den Bäumen ist der Boden unter den Füßen zu heiß.
Der Verstand bleibt stehen.

Die Straße stirbt ab.
Die stinkende Sonne sticht.
Die Luft wird knapp.
Das Herz zerbricht.

Der Hund hält erschrocken den Mund.
Der Himmel liegt auf der falschen Seite.
Den Sternen wird das Treiben zu bunt.
Die Droschken suchen das Weite.

(Lichtenstein, Alfred: Gesammelte Gedichte. Zürich: Arche, 1962, S. 72)

Selbst die Motivik wurde bei RIMBAUD entlehnt. Berühmt war damals RIMBAUDs Gedicht „Ophelié“.

ARTHUR RIMBAUD
OPHELIÉ

I
Auf stiller, schwarzer Flut, in der die Sterne schweben,
Treibt, einer Lilie gleich, Ophelia entlang,
Sehr langsam treibt sie hin, von Schleiern weiß umgeben...
– Vom fernen Walde hört man eines Jagdhorns Klang.

Schon tausend Jahre sind es, daß die bleiche Waise
Als trauriges Phantom auf schwarzem Strome zieht,
Schon tausend Jahre sind es, daß ihr Wahnsinn leise
Im Abendwinde raunt sein schwärmerisches Lied.

Die Luft küßt ihr die Brust, und ihre Schleier breitet
Zum Blütenkranz sie aus, den weich das Wasser wiegt;
Das Schilf verneigt sich, da sie träumend abwärts gleitet,
Die Weide weint, die sich auf ihre Schulter biegt.

Die Wasserrosen seufzen, wenn sie sie berühren.
Manchmal weckt sie ein Nest im dunklen Erlenbaum,
Und kleines Flattern und Entschwirren ist zu spüren:
– Ein mystischer Gesang fällt aus dem Sternenraum.

II
Bleiche Ophelia, ja, du bist fortgezogen,
Schön wie der Schnee, du Kind, als Tote fort im Fluß!
– Weil Wind, der vom Gebirg Norwegens aufgeflogen,
Hertrug zu dir ganz leis der herben Freiheit Gruß,

Weil durch dein langes Haar ein Atem flackernd rauschte,
Der seltsames Getön in deinen Traum gebracht,
Weil auf das Singen der Natur dein Herz hinlauschte
Im Klagelaut des Baums und im Geseufz der Nacht.

Weil das Geheul des Meers, weit röchelnd wie Gewitter, Mai
Die Kinderbrust zerriß die zu weich war, zu gut,
Weil einmal im April ein schöner, blasser Ritter,
Ein armer Irrer, stumm an deinen Knien geruht!

Himmel! Liebe! Freiheit! Welch Traum arme Verrückte!
Du schmolzt in ihm wie Schnee, der in das Feuer schneit:
So groß war die Vision, daß sie dein Wort erdrückte,
– Dein blaues Auge brach vor der Unendlichkeit!

III
– Und der Poet sagt, daß du unterm Sternenbogen
Die Blumenkränze suchst, die deine Hand einst band ,
Und daß er sah, wie nachts, von Schleiern weiß umzogen,
Ophelia, einer Lilie gieich, stromabwärts schwand!
(Rimbaud, Arthur: Sämtliche Dichtungen, Französisch und Deutsch, Heidelberg: Lambert Schneider, 1978, S. 25–27)

GEORG HEYM, GOTTFRIED BENN, PAUL ZECH und GEORG TRAKL entwarfen eigene „Ophelia“-Gedichte (Audio 4):

GEORG HEYM
Ophelia

I
Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.
Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.


II
Korn. Saaten. Und des Mittags roter Schweiß.
Der Felder gelbe Winde schlafen still.
Sie kommt, ein Vogel, der entschlafen will.
Der Schwäne Fittich überdacht sie weiß.
Die blauen Lider schatten sanft herab.
Und bei der Sensen blanken Melodien
Träumt sie von eines Kusses Karmoisin
Den ewigen Traum in ihrem ewigen Grab.

Vorbei, vorbei. Wo an das Ufer dröhnt
Der Schall der Städte. Wo durch Dämme zwingt
Der weiße Strom. Der Widerhall erklingt
Mit weitem Echo. Wo herunter tönt

Hall voller Straßen. Glocken und Geläut.
Maschinenkreischen. Kampf. Wo westlich droht
In blinde Scheiben dumpfes Abendrot,
In dem ein Kran mit Riesenarmen dräut,

Mit schwarzer Stirn, ein mächtiger Tyrann,
Ein Moloch, drum die schwarzen Knechte knien.
Last schwerer Brücken, die darüber ziehn
Wie Ketten auf dem Strom, und harter Bann.

Unsichtbar schwimmt sie in der Flut Geleit.
Doch wo sie treibt, jagt weit den Menschenschwarm
Mit großem Fittich auf ein dunkler Harm,
Der schattet über beide Ufer breit.

Vorbei, vorbei. Da sich dem Dunkel weiht
Der westlich hohe Tag des Sommers spät,
Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht
Des fernen Abends zarte Müdigkeit.

Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht,
Durch manchen Winters trauervollen Port.
Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort,
Davon der Horizont wie Feuer raucht.

(Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München: Ellermann, 1960 ff., S. 160.)

audio

RIMBAUDs Zyklus „Une saison en enfer“ variiert das Todesmotiv des Mittelalters. Bei TRAKL taucht es in „Verfall“ und „Untergang“, bei HEYM in „Die Toten auf dem Berge“, bei BENN in „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ wieder auf.

Und die Expressionisten weiteten das Todesmotiv um das Motiv vom „Weltende“ aus:

Weltende

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabeschwer.

Komm, wir wollen uns näher verbergen ...
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.

Du! wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
an der wir sterben müssen.

ELSE LASKER-SCHÜLER (1869–1945)

 

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zudrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

JAKOB VAN HODDIS (1887–1942)

Gedichte zum Thema Weltende/Weltuntergang entstanden während der Zeit des Expressionismus zuhauf (siehe PDF "Gedichte zum Thema Weltuntergang").

(Weitere Gedichte von JAKOB VAN HODDIS in der PDF "Jakob van Hoddis - Gedichte", Gedichte von GEORG HEYM in der PDF "Georg Heym - Gedichte" und der PDF "Großstadtgedichte".)

Das Hinwegsetzen über traditionelle Formen, das Entwerfen neuer Formen und das ganz bewusste Verwenden besonders strenger Formen wie des Sonetts, um diese mit neuen Inhalten „aufzubrechen“, wurde besonders in der Lyrik praktiziert (ERNST STADLER, FRANZ WERFEL). Man wollte sich auch hier von den Fesseln der Konvention befreien.

ERNST STADLER
Form ist Wollust (1914)

Form und Riegel mussten erst zerspringen,
Welt durch aufgeschlossne Röhren dringen:
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,
Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen.
Form will mich verschnüren und verengen,
Dich ich will mein Sein in alle Weiten drängen –
Form ist klare Härte ohn' Erbarmen,
Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen,
Und in grenzenlosen Michverschenken
Will mich Leben mit Erfüllung tränken.

(Stadler, Ernst: Dichtungen, Band 1, Hamburg: Ellermann, o.J. [1954], S. 127.)

STADLER benutzt den Reim hier nicht mehr, wie die Impressionisten, als ästhetisches Mittel, sondern um die Dynamik des Prozesses zum Ausdruck zu bringen und um den Rhythmus des Verses zu unterstützen. Das Pathos, von den Impressionisten strikt abgelehnt, wurde zum Ausdruck dichterischer Stärke. Man verwendete Interjektionen, Ausrufe, Laute und Satzzeichen als wichtige Stilmittel: „Oh, Mensch!“. Diese Haltung visualisiert EDVARD MUNCHs Bildnis „Der Schrei“.

Sujets der Literaturgeschichte werden im Expressionismus völlig neuartig interpretiert. Christliche Motivik taucht in GEORG TRAKLs Gedichten mehrfach auf. Sein „Ein Winterabend“ (Audio 5) greift die Weihnachtsgeschichte auf. Formal ist das Gedicht durch regelmäßige Rhythmik gekennzeichnet. TRAKL verwendet den Trochäus. Der umarmende Reim abba sowie der weibliche Versausgang in a und a, der männliche Versausgang in b und b verleihen dem Gedicht eine tradierte und zugleich vertraute Form. Allerdings begehren nicht die drei Heiligen Könige Einlass oder arme, bedürftige Menschen, sondern es sind Diebe, Vaganten, Verbrecher, die den Tisch gedeckt vorfinden.

GEORG TRAKL
Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.

(Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1972, S. 58.)

In dem Gedicht „Verfall“ wird TRAKL noch deutlicher. Hier wird dasselbe Sujet aufgegriffen, das der Wanderschaft und der Suche, allerdings in den Herbst versetzt:

GEORG TRAKL
Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

(Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1972, S. 35.)

Die Jugend ahnt den nahenden Tod. Das scheinbar friedliche Läuten der Kirchenglocken, der christliche Ethos, kann den körperlichen wie moralischen Verfall der Menschen nicht aufhalten.
Auch in dem Gedicht „Menschheit“ wird Tradition mit Moderne konfrontiert. Die Jünger Jesu, zum Abendmahl versammelt, sehen sich in eine apokalyptische Szene versetzt. Die Menschen inszenieren ihren eigenen Untergang, dem auch die Jünger nicht entgehen.

GEORG TRAKL
Menschheit

Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen;
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.

(Trakl, Georg: Das dichterische Werk. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1972, S. 25.)

Tod, Weltuntergang, Nichtigkeit des Daseins und Ausweglosigkeit werden thematisiert. Keine Tradition, keine Überlieferung, keine Moral hält den Menschen auf, sich selbst, seine eigene Art, seine Lebensgrundlage zu zerstören.

Expressionistische Zeitschriften

  • „Der Sturm“ (1910),
  • „Die Aktion“ (1910)
  • „Die Revolution“ (1913)

Anthologien

  • „Der Kondor“ (1912) von KURT HILLER
  • „Kameraden der Menschheit“ (1919) von LUDWIG RUBINER
  • „Menschheitsdämmerung“ (1920) von KURT PINTHUS
  • „Verkündigung“ (1921) von RUDOLPH KAISER

Der Erste Weltkrieg

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde von vielen Autoren als Erlösung empfunden (ERNST TOLLER). Die Desillusionierung des Krieges führte zu pazifistischen, anarchistischen bzw. sozialistischen Auffassungen:

  • JOHANNES R. BECHER (1891–1958) wandte sich dem Spartakusbund und dann der neu gegründeten KPD zu,
  • LUDWIG RUBINER gründete den „Bund für proletarische Kultur“,
  • ERNST TOLLER (1893–1939) neigte zu anarchistischen Auffassungen und engagierte sich in der Münchener Räterepublik.

JOHANNES R. BECHER veröffentlichte 1911 seinen ersten Gedichtband. „Verfall und Triumph“ (1914). 1913–1915, als Mitarbeiter an den Zeitschriften „Die Aktion“ und „Die neue Kunst“, gehörte er zu den Wortführern des Expressionismus.

Nach dem Ersten Weltkrieg erschienen die Antholgien „Kameraden der Menschheit“ (1919) von LUDWIG RUBINER (1881–1920), schließlich „Menschheitsdämmerung“ (1920) von KURT PINTHUS (1886-1975) und „Verkündigung“ (1921) von RUDOLPH KAISER.

Expressionistische Dramatik

Neben der Lyrik wurde die Dramatik seit 1910 wichtig. Die frühexpressionistischen Dramen sind oft naturalistisch gefärbt. ELSE LASKER-SCHÜLERs „Die Wupper“ (1909) z. B. wurde von Zeitgenossen mit GERHARD HAUPTMANNs „Die Weber“ verglichen.

Nach 1914 ist eine starke Politisierung der Literatur zu beobachten:

  • GEORG KAISERs „Die Bürger von Calais“ (1914), behandelt eine Episode aus dem Hundertjährigen Krieg,
  • in GEORG KAISERs „Gas I“ (1918) und „Gas II“ (1920) wird der Giftgaskrieg thematisiert,
  • BERTOLT BRECHTS „Baal“ (1920) nimmt den syrischen Erdgott zum Titel, um die Geschichte des Joseph K. zu erzählen.

Joseph K. ist ein Wüstling und Vagabund, dessen reale Vorlage sich auf FRANCOIS VILLON und ARTHUR RIMBAUD bezog.

„Dickicht der Städte“

Im „Dickicht der Städte“ führt uns BRECHT in die von Gangstern, Huren und Monstern geprägte, abgründige Welt Chicagos.

Hier entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei Männern, von denen der eine sein Leben noch vor sich, der andere schon alles hinter sich gelassen hat. Der Holzhändler Shlink sucht den Kampf, George Garga, Angestellter in einer Leihbibliothek, übernimmt, „ohne nach dem Grund zu fragen“, die Rolle des Gegners. Beide verlieren: Shlinks Holzgeschäft wird vernichtet, Gargas Schwester Marie und dessen Freundin Jane werden Prostiutierte, Shlink kann seinen Holzhandel wieder aufbauen, gesteht Garga seine Liebe, wird von diesem zurückgewiesen, sodass er sich vergiftet. Garga brennt am Ende das Holzgeschäft nieder und geht nach New York. „Die pure Lust am Kampf“ entpuppt sich „als pures Schattenboxen“ (BRECHT).

ARNOLD ZWEIG sagte über FRITZ KORTNER als Shlink in der Uraufführung des „Dickichts:

„War das noch Schauspielkunst? Es war Schauspielsein. Die letzte, leiseste, höchste Ausstrahlung dessen, was Künstlern auf der Bühne möglich ist."

Vater-Sohn-Konflikt

WALTER HASENCLEVERs „Der Sohn“ (1914, siehe PDF "Walter Hasenclever – Der Sohn"), FRITZ VON UNRUHs „Geschlecht“, ein pathetisches Antikriegsbekenntnis, ERNST BARLACHs „Der tote Tag“ und ARNOLT BRONNENs „Vatermord“ (1920) thematisieren den für den EXPRESSIONISMUS typischen Vater-Sohn-Konflikt.

CARL STERNHEIMs „Die Hose“ (1911) wird im Untertitel „bürgerliches Lustspiel“ genannt und gehört zur Tetralogie „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“. Die Fortsetzung findet die Tetralogie mit „Der Snob“ (1914), „1913“ (1915) und „Das Fossil“ (1923).

STERNHEIMs „Bürger Schippel“ (1913) beschreibt den Aufstieg eines Proletariers in das Bürgertum.

In ERNST TOLLERs „Masse Mensch“ (1921, siehe PDF "Ernst Toller - Masse Mensch") geht es um die Schuld einer dem Bürgertum entstammenden Sozialistin nach der Anwendung von Gewalt durch die Massen.

Expressionistische Prosa

KASIMIR EDSCHMID (1890–1966) war Verfasser bedeutenderProsatexte. Seine erste Novellensammlung „Die sechs Mündungen“ (1915) brachte ihm große Beachtung bei den Expressionisten. Auch der Erzählband „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ FRANZ WERFELs zählt zur expressionistischen Prosa. FRITZ VON UNRUH (1885–1970) und LEONHARD FRANK konzentrierten sich in ihrer Prosa auf die Auswirkungen des Krieges. MAX BROD (1884–1968) schrieb 1916 einen Roman über den Astronomen RUDOLFs II., TYCHO BRAHE. Allerdings blieb die Prosa innerhalb des Expressionismus nur eine marginale Erscheinung.

Das Werk FRANZ KAFKAs entzieht sich in seiner Gänze einer literaturhistorisch-epochalen Einordnung. Es weist durchaus expressionistische Züge auf (vgl. PDF "Franz Kafka - Die Verwandlung"), geht jedoch über den Rahmen dieser Literatur weit hinaus. Ebenso lassen sich spätimpressionistische, naturalistische, surrealistische und neusachliche Tendenzen beobachten.

Der elsässische Dichter RENÉ SCHICKELE (1883–1940) begann sein literarisches Schaffen unter dem Einfluss des Jugendstils bzw. der Neuromantik. Um 1910, unter dem Einfluss der wachsenden Kriegsgefahr, engagierte er sich zunehmend für die deutsch-französischen Annäherung. Sein politisches Engagement veränderte auch seine literarische Produktion. Er schrieb frühexpressionistische Gedichte („Weiß und Rot“, 1910, siehe PDF "René Schickele - Weiß und Rot"), danach veröffentlichte er auch expressionistische Prosa („Trimpopp und Manasse“, 1914, „Aissé“, 1915, beide in PDF "René Schickele - Das gelbe Haus").

Der Lyriker und Prosaist WALTER RHEINER (eigtl.: WALTER HEINRICH SCHNORRENBERG) (1895–1925) ist heute fast unbekannt. Nur seine Novelle „Kokain“ (siehe PDF "Walter Rheiner - Kokain") wird bisweilen in Literaturgeschichten als expressionistisches Werk genannt. Sie wurde im „Desdener Verlag von 1917“ erstmals veröffentlicht. RHEINER verarbeitet darin u.a. seine eigene Drogensucht, mit deren Hilfe er 1914 versucht hatte, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Das Vorhaben scheiterte jedoch und er musste als Soldat an die Ostfront.

Eindrucksvoll beschreibt RHEINER in „Kokain“, wie zerstörerisch das Rauschgift auf die Psyche und den Körper des Menschen wirkt. Tobias irrt durch Berlin, seine Gliedmaßen sich blutig und zerstochen von den Injektionen, die er in immer kürzeren Abständen benötigt, kommt für eine Nacht bei einer Freundin unter, halluziniert, und setzt schließlich – in einem letzten klaren Moment – durch einen Kopfschuss seinem Leben ein Ende.

Wie man an der Novelle und seinem schmalen lyrischen Werk (vgl. PDF "Walter Rheiner - Insel der Seligen") jedoch sehr eindrucksvoll sehen kann, ist RHEINER einer der heute zu unrecht Vergessenen. Ebenso wie RHEINERs Prosa sprüht seine Lyrik wortgewaltig vor Metaphern. Aus ihr spricht ebenso die Faszination des Lebens wie des Todes einerseits sowie die stete Einsamkeit andererseits, mit der sich RHEINER zwangsweise umgab. Er, der Nomade des Expressionismus, der im Romanischen Cafe am Berliner Kurfürstendamm zum Bettler wurde, ist nur von einigen seiner Zeitgenossen wirklich wahrgenommen worden. Diese nahmen ihn nächteweise bei sich auf, wenn er nicht wusste, wo er schlafen sollte.

1918 ging er nach Dresden und konnte noch einige seiner Werke veröffentlichen. U.a. wirkte er im expressionistischen Arbeitskreis „Gruppe 1917“ als einer ihrer führenden Literaten mit. Im „Dresdener Verlag von 1917“ von HEINAR SCHILLING arbeitete er für die Zeitschritft „Menschen“ . Nach 1921 wandte sich SCHILLING immer stärker einer mystischen Germanenwelt zu. Die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen ein und RHEINER musste wieder auf Wanderschaft gehen.

Die Drogensucht nahm ihm schließlich den Halt und die Sicherheit. Entmündigt wies man ihn in ein in eine geschlossene Anstalt ein. Seine Frau trennte sich von ihm. Nach seiner Rückkehr nach Berlin starb er 1925 erst dreißigjährig. Anders als sein Antiheld Tobias in der Novelle „Kokain“ starb RHEINER jedoch an einer Überdosis Rauschgift.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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