Die Lebensgeschichte ERASMUS' VON ROTTERDAM ist sehr detailliert überliefert. Er wurde am 28.10.1466 (oder 1469) als zweites Kind der illegitimen Verbindung des Priesters ROTGER GERARD und der verwitweten Arzttochter MARGARETHA VON ZEVENBERGEN in Rotterdam geboren. Der Vater hatte zuvor in Italien gelebt; es ist umstritten, ob er die Priesterweihe bereits vor der Geburt seiner Söhne empfing. Verschiedene Äußerungen lassen darauf schließen, dass ERASMUS unter seinem unehelichen Status sehr gelitten hat. In seinem Leben sicherte er sich wiederholt gegen die rechtlichen Nachteile seiner Herkunft ab.
Den Beinamen ROTERDAMUS nahm er später nach seiner Geburtsstadt an. Zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder war er Schüler an verschiedenen Ordensschulen in Gouda und Deventer. Mit 14 Jahren verlor er die Eltern. Statt auf die Universität kam er nach Herzogenbusch in die Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben. Seine Verwandtschaft drängte ihn, in das Augustinerkloster Steyn bei Gouda einzutreten, was er zwischen 1486 und 1488 tat. Hier hatte er Zugang zu einer Bibliothek, die neben Kirchenvätern auch Klassiker enthielt und begann bildungshungrig mit dem Studium des klassischen Altertums und der Patristik (Wissenschaft von den Schriften und Lehren der Kirchenväter). 1492 nahm er die Priesterweihe entgegen. ERASMUS kam bald in Konflikt mit der erstarrten mittelalterlichen Schulphilosophie (Scholastik) und wurde nach und nach zu einem ihrer Kritiker. ERASMUS litt unter der klösterlichen Disziplin. Seinem ausgeprägten Freiheitsbedürfnis folgend, entfloh er 1493 dem ihm wesensfremden Klosterleben und begann, als Privatlehrer und Dozent zu arbeiten.
1493 trat er in die Dienste des BISCHOFS VON CAMBRAI, für den er als Sekretär arbeitete und der ihn 1495 zum Theologiestudium an die Pariser Universität schickte. Dort widmete er sich bis 1499 dem Studium der Philosophie, der spätscholastischen Theologie, des Griechischen und des Hebräischen. Besonderes Interesse entwickelte er dabei für die griechische Sprache. Nebenbei erteilte er Privatunterricht und ließ seine ersten Schriften drucken.
Ab 1499 begann ERASMUS eine rege Reisetätigkeit. Er besuchte Italien, England, die Schweiz und die Niederlande und widmete sich dort weiteren wissenschaftlichen Studien. Viele der von ihm verfassten Schriften entstanden in diesen Reisejahren. Von einem regen Schriftverkehr mit wichtigen zeitgenössischen Persönlichkeiten aus aller Welt zeugen mehr als 1500 erhaltene Briefe.
Seine Aufenthalte in England als Reisebegleiter eines Lords in den Jahren 1499–1500 brachten ERASMUS in Kontakt mit Vertretern der neuen humanistischen Bildung. Dazu gehörten insbesondere JOHN COLET, der Gründer der Saint Paul's School in London, der Humanist und Lordkanzler THOMAS MORE und der Griechisch-Lehrer WILLIAM GROCYNS in Oxford. Der Überlieferung nach sollen sich ERASMUS und MORE an der Tafel des Oberbürgermeisters von London kennengelernt haben. Ihre Unterhaltung soll sie derart überrascht haben, dass ERASMUS gesagt haben soll: „Ihr müsst More sein oder niemand“ und MORE geantwortet haben soll: „Ihr müsst Erasmus sein oder der Teufel“. Sein späteres Werk „Lob der Torheit“ widmete ERASMUS neben dem Erzbischof von Canterbury, WILLIAM WARHAM, seinem lebenslangen Freund THOMAS MORE „Lordkanzler von England, dessen Seele reiner war als der reinste Schnee, dessen Genius so groß war, wie England nie einen hatte – ja nie wieder einen haben wird, obgleich England eine Mutter großer Geister ist“.
Gemeinsam mit MORE und GROCYNS förderte ERASMUS die Durchsetzung des Humanismus in England. Ihrem Einfluss ist es auch zu verdanken, dass der Gedanke, dass sich christliche Bildung durch das intensive Studium klassischer Sprachen vertiefen lässt, zunehmend Anklang fand.
1504–1505 setzte ERASMUS sein Theologiestudium an der Universität Paris fort. In Italien promovierte er während eines dreijährigen Aufenthaltes als Reisebegleiter des Leibarztes von HEINRICH VIII. im Jahr 1506 an der Turiner Universität zum Dr. theol.
ERASMUS pflegte auch freundschaftliche Beziehungen zu verschiedenen Verlegern. So lernte er in Italien den venezianischen Drucker und Verleger ALDUS MANUTIUS kennen, in Basel, wo er ab 1514 mit Unterbrechungen lebte, den Buchdrucker und Verleger JOHANN FROBEN (JOHANN FROBENIUS). Die Verbindung zu FROBEN war der Hauptgrund dafür, dass sich ERASMUS nach Basel hingezogen fühlte. Nahezu alle seine Schriften wurden in der Erstausgabe vom Verlagshaus Froben herausgegeben. ERASMUS übernahm in Basel u. a. die wissenschaftliche Leitung einer umfangreichen Gesamtausgabe des Kirchenvaters Hieronymus und ließ 1516 sein „Neues Testament“ folgen – im griechischen Originaltext mit eigener lateinischer Übersetzung und einer Fülle von Randbemerkungen. Die Entscheidung für einen Wohnsitz in Basel war auch die Folge politischer und religiöser Erwägungen. ERASMUS glaubte, in der Schweiz das ihm wichtige demokratische Mitbestimmungsrecht zu finden, das er in seinem Geburtsland, den Niederlanden, vermisste und wo er sich zudem zunehmend religiös verfolgt sah. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt von LUTHER bereits abgewendet, zögerte aber, ihn direkt anzugreifen und weigerte sich, seine Kritik kirchlicher Missstände aufzugeben.
ERASMUS wurde 1516 Hofrat des späteren Kaisers KARL V., was ihn zunächst nach Brüssel, später nach Löwen führte. Da er kein öffentliches Lehramt innehatte, konnte er sich in dieser Zeit ganz seinen Studien widmen.
1516 löste ihn der Papst von seinem Gelübde als Augustinerchorherr. 1529 wurde in Basel die Reformation eingeführt, der Rat schaffte die Messe ab und prominente Altgläubige verließen die Stadt. Infolge dieser Entwicklung ließ sich ERASMUS im katholisch gebliebenen Freiburg im Breisgau nieder. Er kehrte 1535 nach Basel zurück, als sich seine Gesundheit akut verschlechterte und der Wunsch aufkam, den Druck seiner letzten Schriften persönlich zu überwachen. Er starb am 11.07.1536 im Hause von HIERONYMUS FROBEN. Sein Vermögen ging in Form einer von BONIFACIUS AMERBACH betreuten Sozialstiftung an die Stadt Basel über, die ihn mit einer Gedenkfeier in Münster, dem Ort seiner Bestattung, ehrte. Vom Verlagshaus Froben wurde ihm mit der Gesamtausgabe seiner Werke in neun Folienbänden (1538–1540) ein würdiges Denkmal gesetzt.
Die „Collectanea adagiorum“ (erstmals erschienen 1500, in erweiterter Fassung 1508) ist eine in Latein geschriebene Sammlung lateinischer und biblischer Sprichwörter mit Erklärungen und Erörterungen. Sie legte den Grundstein für ERASMUS' späteren Ruhm.
Das Werk „Enchiridion militis christiani“ („Handbüchlein des christlichen Soldaten“, 1503) gibt eine methodische Anleitung zum christlichen Leben im Bild eines Kriegsdieners. Die Schrift übt wie viele der frühen Werke ERASMUS' Kritik an den Missständen in der Kirche und an der erstarrten Schulweisheit der katholischen Geistlichkeit und zeigt den Verfasser als Befürworter einer Besinnung auf eine einfache christliche Ethik.
Gleiches gilt für die berühmte und bis heute lebendig gebliebene, THOMAS MORE gewidmete, satirische Schrift „Morias enkomion seu laus stulticiae“ („Das Lob der Torheit“, 1509), ein äußerst gesellschaftskritisches Werk, das vermitteln soll, dass Torheit die wahre Weisheit ist und eingebildete Weisheit wahre Torheit.
ERASMUS vollbrachte die Höchstleistung, den griechischen Text des Neuen Testaments neu in das Lateinische zu übersetzen und dieses Werk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wobei sein Text den der lateinischen „Vulgata“ an Genauigkeit weit übertraf. Sein „Novum instrumentum omne“ (1516) ist darüber hinaus mit einer Unzahl kritischer Anmerkungen versehen – ein literarisches, theologisches und philosophisches Meisterwerk.
Die Schriften „De Ratione Studii“ (1511) und „De Pueris Satim ac Liberaliter Instituendis“ (1529) sollten aufklärend und pädagogisch wirken. ERASMUS gibt seiner Meinung Ausdruck, dass Kinder bereits vor dem Eintritt in die Schule durch die Eltern in den Grundkenntnissen des Lateinischen und der christlichen Religion unterrichtet werden sollten. Die Überzeugung, dass Latein zunächst über Konversation und erst danach anhand grammatischer Regeln erlernt werden sollte, weisen ERASMUS schon zu dieser Zeit als Vertreter neuzeitlicher pädagogischer Prinzipien aus.
Das Werk „Familiarum colloquiorum formulae“ („Colloquia familiaria“, „Gespräche im vertrauten Kreis“, 1518), ursprünglich eine Sammlung lateinischer Phrasen zu Unterrichtszwecken, ist eine seiner umstrittensten Schriften. Die geistreiche und bissige Satire auf die Bräuche, Lebensgewohnheiten und religiösen Gepflogenheiten jener Zeit übt nachhaltig Kritik an kirchlichen Missständen und an abergläubischen Überzeugungen, was zu dem Verdacht führte, ERASMUS könnte Lutheraner sein. Dieser Verdacht war nicht zuletzt eine Folge der Unentschlossenenheit von ERASMUS, der sich nach 1517, als sich der Durchbruch der Reformation unter der Führung MARTIN LUTHERS abzeichnete, zu keiner der streitenden Parteien bekennen wollte. Er blieb beim katholischen Glauben, unterstützte jedoch auch häufig Ziele der Reformation, was schließlich dazu führte, dass ihm alle Seiten mit Misstrauen begegneten. Den Vorwurf einer Sympathisierung mit LUTHER versuchte ERASMUS mit dem Werk „De libero arbitrio diatribe sive collatio“ („Vom freien Willen“, 1524) zu entkräften, in dem er seinen theologischen Standpunkt darlegte und LUTHER angriff.
Zwischen 1517 und 1524 gab ERASMUS Paraphrasen (griech.: verdeutlichende Beschreibung) zum gesamten Neuen Testament (mit Ausnahme der Offenbarung) heraus, außerdem gemeinsam mit zahlreichen Mitarbeitern die Kirchenväter:
Die polemische Schrift „Hyperaspistes“ (1526) ist die Gegenreaktion auf die LUTHERsche Erwiderung auf „De libero arbitrio diatribe sive collatio“. Dieses Werk führte zum endgültigen Bruch mit LUTHER.
ERASMUS hatte großen Einfluss auf zeitgenössische und spätere Persönlichkeiten. In den Zeiten seines Aufenthaltes in Basel wurde ERASMUS – insbesondere durch seine Verbindung zum Verlagshaus Froben – zum Drehpunkt eines bedeutenden Kreises von Humanisten. Dieser Kreis setzte sich aus Freunden und Verehrern aus ganz Europa zusammen. ERASMUS nahestehende Personen in Basel waren BONIFACIUS AMERBACH, BEATUS RHENANUS, GLAREAN, LUDWIG BÄR, KONRAD PELLIKAN, JOHANNES OEKOLAMPAD und SIMON GRYNAEUS.
Von HANS HOLBEIN d. J., den ERASMUS sehr schätzte, wurde er mehrfach porträtiert. HOLBEIN war es auch, der 1515–1516 ein Exemplar von ERASMUS' „Lob der Torheit“ (Erstausgabe 1511) mit Randzeichnungen versah.
ERASMUS' lateinische Übersetzung und Kommentierung des griechischen Neuen Testaments beeinflussten sowohl die Zürcher und die Genfer Bibel als auch die anglikanische Bibelübersetzung, nicht zuletzt den großen Reformator LUTHER.
Insbesondere mit „Enchiridion militis christiani“ („Handbüchlein des christlichen Soldaten, 1503)“, der satirischen Schrift „Morias enkomion seu laus stulticiae“ („Das Lob der Torheit“, 1509) und seiner lateinischen Bibelübersetzung „Novum instrumentum omne“ (1516) übte ERASMUS großen Einfluss auf das theologische und geistige Leben seiner Zeit aus. Er wird daher oft als Wegbereiter der Reformation angesehen, seine Werke wurden später vom Konzil von Trient verboten. Trotzdem waren sein Wirken und seine Werke eher von humanistischen als von theologischen Überzeugungen getragen. Er war eine zentrale Persönlichkeit des Humanismus, gehörte als solche zu den fortschrittlichen Denkern seiner Zeit und hatte damit großen Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte.
Stand: 2010
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