In „Egmont“ (1788; siehe PDF "Johann Wolfgang Goethe - Egmont") wich GOETHE von den tatsächlichen Ereignissen in den Niederlanden ab. Aus dem alten, verheirateten Grafen EGMONT VON GAURE (1522–1568) machte er einen jugendlichen und ungebundenen Helden, der historisch sehr bedacht handelnde EGMONT erscheint bei GOETHE als ungestümer Hitzkopf.
Der Schauplatz des Dramas ist Brüssel. Die Handlung setzt 1566 ein. Egmont von Gaure (1522–1568) und Wilhelm von Oranien (1533–1584) waren die Führer im niederländischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (Achtzigjähriger Krieg, 1568-1648). Unter der Herrschaft der Regentin Margarete von Parma, Tochter Karls V., haben Unterdrückung, Steuern und Religionskämpfe in den Niederlanden zu einer instabilen Situation geführt. Graf Egmont, unter der Bevölkerung sehr beliebt, versucht gemeinsam mit Wilhelm von Oranien die Sorgen des Volkes zu erläutern, sie kehren jedoch ohne Erfolg zurück. Um für Ruhe zu sorgen, wird Herzog Alba mit seiner Armee nach Brüssel gesandt. Oranien ahnt einen Hinterhalt, er warnt Egmont vergeblich, sich in die Hände des Herzogs zu begeben. Egmont vertraut auf seine Stellung bei Hofe und seine bisher erwiesene Treue und nimmt Albas Einladung zu einer Ratssitzung an. Alba hat nun wirklich die Order, alle niederländischen Führer hinzurichten, und setzt diese Vorgabe auch skrupellos durch. Egmont redet sich selbst im Gespräch mit Alba durch Ehrlichkeit und Offenheit um Kopf und Kragen, wird gefangengesetzt, verurteilt und hingerichtet.
Mit 26 Jahren, 1775, beschäftigte sich GOETHE erstmals mit dem Egmont-Stoff, ihn interessierte dabei das stürmerisch-drängerische Verhältnis von Individuum und Welt. Zuvor hatte er sich bereits in „Götz von Berlichingen“ (1773) und zeitgleich in „Torquato Tasso“ (der allerdings erst 1790 fertig wurde) mit dieser Problematik beschäftigt, auch der „Urfaust“ ist davon noch gekennzeichnet,
„Ich scheine“, schrieb er 1778 an CHARLOTTE VON STEIN, „dem Ziele dramatischen Wesens immer näher zu kommen, da mich's nun immer näher angeht, wie die Großen mit den Menschen, und die Götter mit den Großen spielen.“
Aber erst 1787 scheint die Arbeit beendet: „Heute, kann ich sagen, ist 'Egmont' fertig geworden“, schrieb er am 1. September 1787 auf seiner ersten italienischen Reise (1786–1788). 1788 erschien das Trauerspiel in Leipzig. Zwischenzeitlich hatte der junge Mann die zwei wichtigsten zu seiner Zeit auffindbaren Sekundärquellen zum Niederländischen Befreiungskampf studiert:
Als Zeitgenosse der Unruhen in den Österreichischen Niederlanden in den Jahren 1787 und 1788 konnte der Autor zudem direkt auf Zeitgeschichte reagieren:
„Sonderbar ist's, daß sie eben jetzt in Brüssel die Szene spielen, wie ich sie vor zwölf Jahren aufschrieb ... Um mir selbst meinen 'Egmont' interessant zu machen, fing der römische Kaiser mit den Brabantern Händel an“,
(in: Goethe: Italienische Reise)
schrieb er.
„Entweder es sind außerordentliche Handlungen und Situationen, oder es sind Leidenschaften, oder es sind Charaktere, die dem tragischen Dichter zum Stoff dienen; und wenn gleich oft alle diese drei, als Ursach und Wirkung, in einem Stücke sich beisammen finden, so ist doch immer das eine oder das andere vorzugsweise der letzte Zweck der Schilderung gewesen“,
(vgl. PDF "Friedrich Schiller - Über Egmont")
urteilte FRIEDRICH SCHILLER über den klassischen Konflikt (siehe PDF "Friedrich Schiller - Über Egmont") einer klassischen Tragödie. „Egmont“ ist eine tragische Geschichte: Der idealistisch-gutgläubige Volksheld gerät in den Konflikt mit einer finsteren Militärmacht und opfert sein Leben. Dabei hatte es der Autor nicht leicht, aus dem tatsächlichen Geschehen ein Drama zu machen. GOETHE hatte bei der Sichtung des Stoffes „die Wahl,“ wie SCHILLER schrieb,
„entweder eine ganz neue Handlung ... zu erfinden, diesem Charakter, den er in der Geschichte vorfand, irgend eine herrschende Leidenschaft unterzulegen oder ganz und gar auf diese zwei Gattungen der Tragödie Verzicht zu thun und den Charakter selbst, von dem er hingerissen war, zu seinem eigentlichen Vorwurf zu machen.“
Und so sei es geschehen.
Der historische EGMONT hatte eine elfköpfige Familie zu versorgen. Er war außerdem schon recht betagt: Mit 44 Jahren kann man keinen jugendlichen Liebhaber und Ungestüm mehr spielen. Um als Schauspielfigur interessant zu sein, musste GOETHE den historischen Egmont verändern:
„Kein Dichter hat je die historischen Charaktere gekannt, die er darstellte; hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charaktere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.
Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben.“
(JOHANN PETER ECKERMANN: „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“)
Eine Verjüngung der tragischen Figur ließ GOETHE bereits auf der Bühne geschehen, und zwar im „Faust“. Hier ist es dramaturgisches Mittel, im „Egmont“ geschieht sie im Vorfeld, bei der Figurenplanung. Die Figur muss ein klassischer Held werden, dazu taugen alte Männer nicht. Außerdem gehörte schon damals zu jedem guten Theaterstück auch eine Love-Story. In GOETHEs Stück ist es die Liebesgeschichte Egmonts mit dem jungen Klärchen. Wie es sich für eine klassische Tragödie gehört, muss auch sie scheitern. Doch scheitert diese Beziehung nicht an mangelnder Liebe, sondern die Liebe wird der höheren Idee geopfert: Liebe ohne Freiheit ist Illusion. Als Klärchen vom Todesurteil hört, das über Egmont gesprochen wurde, beschließt sie für sich als Ausweg den Tod:
„... mein Weg geht heimlich in dieser Dunkelheit, ihm zu begegnen.“
Wiedervereint sein im Tode, im Jenseits, wenn es kein Recht gibt, die Liebe auf Erden zu leben, ist das Selbstmordmotiv:
„Die Tyrannei ermordet in der Nacht den Herrlichen! vor allen Augen verborgen fließt sein Blut. Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk und träumt von
Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung; indes unwillig über uns sein Geist die
Welt verläßt. Er ist dahin! .... Lebt, ihr Armen, die Zeit noch hin, die keine Zeit mehr ist. Heut steht die Welt auf einmal still; es stockt ihr Kreislauf,...Der Tod vereinigt alles, ..., uns denn auch.“
(vgl. PDF "Johann Wolfgang Goethe - Egmont")
„Egmont“ ist ein Trauerspiel, eine Tragödie. Der Held muss erkennen, dass er nicht mit Vernunft und Toleranz der Tyrannei ein Ende setzen kann. In diesem Sinn scheitert er vor der Welt, auch vor der Geschichte. Das Stück endet jedoch nicht mit dem Tode des Protagonisten, sondern bricht kurz vor der Enthauptung Egmonts ab. Wie später im „Faust – Der Tragödie Zweyter Theil“ hat auch Egmont vor seinem Tod eine Vision:
„Du schönes Bild, das Licht des Tages hat dich verscheuchet! Ja sie waren's, sie waren vereint, die beiden süßesten Freuden meines Herzens. Die göttliche Freiheit, von meiner Geliebten borgte sie die Gestalt; das reizende Mädchen kleidete sich in der Freundin himmlisches Gewand. In einem ernsten Augenblick erscheinen sie vereinigt, ernster als lieblich. Mit blutbefleckten Sohlen trat sie vor mir auf, die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. Es war mein Blut und vieler Edeln Blut. Nein, es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg!“
Egmont scheitert, wie der historische: 1568 wurden die Grafen EGMONT und HOORN, die für die Freiheit der Niederlande gegen die Spanier kämpften, auf dem Brüsseler Grand' Place öffentlich enthauptet.
Auch SCHILLER (siehe PDF "Friedrich Schiller - Über Egmont") beschäftigte sich mit den Protagonisten des Achtzigjährigen Krieges: So äußerte er sich über die historische Figur des EGMONT:
„In der Geschichte ist Egmont kein großer Charakter, er ist es auch in dem Trauerspiele nicht.“
In seinem Werk „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung.“ charakterisierte er GOETHEs Helden so:
„Lamoral, Graf von Egmont und Prinz von Gavre, ein Abkömmling der Herzoge von Geldern, deren kriegerischer Muth die Waffen des Hauses Oesterreich ermüdet hatte. Sein Geschlecht glänzte in den Annalen des Landes; einer von seinen Vorfahren hatte schon unter Maximilian die Statthalterschaft über Holland verwaltet.“
(SCHILLER: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung. Stuttgart: Cotta, 1878)
GOETHEs Egmont scheint ihm nicht mehr als
„prächtig und etwas Prahler, sinnlich und verliebt, ein fröhliches Weltkind“, und „jede Blume aufzulesen, die er auf seinem Wege findet, hindert ihn nicht des Nachts zu seinem Liebchen zu schleichen, das kostet ihm keine schlaflosen Nächte“.
„Hier ist keine hervorstechende Begebenheit, keine vorwaltende Leidenschaft, keine Verwicklung, kein dramatischer Plan, nichts von dem allem; eine bloße Aneinanderstellung mehrerer einzelnen Handlungen und Gemälde, die beinahe durch nichts als durch den Charakter zusammengehalten werden, der an allen Antheil nimmt, und auf den sich alle beziehen.“
(vgl. PDF "Friedrich Schiller - Über Egmont")
Aber immerhin, trotz seiner Skepsis, anerkannte er GOETHEs literarische Leistung, vor allem die Schilderungen der Volksszenen, hoch:
„Wir sehen hier nicht bloß den gemeinen Haufen, der sich überall gleich ist, wir erkennen darin den Niederländer, und zwar den Niederländer dieses und keines andern Jahrhunderts; in diesem unterscheiden wir noch den Brüssler, den Holländer, den Friesen, und selbst unter diesem noch den Wohlhabenden und den Bettler, den Zimmermeister und den Schneider.“
(vgl. PDF "Friedrich Schiller - Über Egmont")
EGMONT ist wohl nicht der niederländische Volksheld geworden, wohl aber ein anderer: Die Niederlande ehren den „Vater der Nation“ WILHELM VON ORANIEN gleich mehrfach: Die „Het Wilhelmus“, ein Heldenlied des 16. Jahrhunderts, wurde zur Nationalhymne, die Farben des Hauses Oranien-Nassau Orange, Weiß und Blau wurden zum Ursprung der späteren Nationalflagge, der „Prinsenvlag“. Später ersetzte man das Orange durch das besser zu erkennende Rot.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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