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- Die Welt als Wille und Vorstellung
„ ,Die Welt ist meine Vorstellung:' – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.“
(Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich: Diogenes, 1977, S. 27)
1814 bis 1818 arbeitete ARTUR SCHOPENHAUER an seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1819, siehe PDF "Arthur Schopenhauer - Die Welt als Wille und Vorstellung").
SCHOPENHAUER, der sich als radikaler Verfechter von IMMANUEL KANTs (1724–1804) Kritizismus (griech. = kritikismós, von kritikí [téchni], „die Kunst der Beurteilung, Unterscheidung, Kritik“) verstand, handelt in seinem Hauptwerk einen einzigen Gedanken ab: „Die Welt ist meine Vorstellung“.
Unter vier verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, ergibt sich aus ihm folgendes philosophisches System:
SCHOPENHAUER machte als Erster den Pessimismus (Pessimismus, von lat. pessimum = das Schlechteste, Böseste, Lebensanschauung von der unverbesserlich schlechten Welt) zum Zentrum seiner Metaphysik. Und diese radikale Thematisierung der Negativität unterschied ihn von der fachwissenschaftlichen Philosophie. Während bei den vorangegangenen pessimistischen Anschauungen die Zerrissenheit des Lebens auf irgendeine Weise schließlich doch noch in eine jenseitige oder diesseitige Versöhnung überführt wurde, hielt SCHOPENHAUER an einem unversöhnbaren Dualismus zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“ der Welt fest. Die Welt als „Erscheinung“ ist die der lebensdienlichen und lebensvernichtenden, instrumentellen Vernunft, des sich selbst erhaltenden Ichs. Alle empirische Erkenntnis – hierin folgte SCHOPENHAUER dem Philosophen KANT – bezieht sich auf die Welt, insofern sie das Konstrukt unserer Wahrnehmung und unseres Verstandes ist, die der Selbsterhaltung dienen. Das „Wesen“ dieser Welt, das freilich nur von einem überindividuellen Standpunkt aus erkennbar wird, ist – und hierin ging SCHOPENHAUER entschieden über Kant hinaus – der blinde Drang des „Willens“.
SCHOPENHAUERs Lehre gründet in der Erfahrung der Gefangenschaft des Ichs in einem Leib, der mit seiner Sinnlichkeit, seinem Begehren, seinem Willen als fremd und bedrohlich erscheint. Von Anfang an suchte SCHOPENHAUER nach einem Weg, diesem im Leib unmittelbar erfahrenen Willen zu entkommen. Der Leib ist für ihn nicht nur, entsprechend der Auffassung seiner idealistischen Vorgänger, eine Vorstellung des denkenden Ich und damit ein Teil der Welt als Erscheinung. Dieses Ich hat nicht nur Vorstellungen von der Welt, es spürt sich zugleich als Lust, Schmerz und Begehren, als Wille. Und da dem Menschen, so SCHOPENHAUER, diese (und nur diese beiden) Erfahrungsweisen þ die Vorstellungen und der Wille þ gegeben sind, ist der Schluss berechtigt, dass auch die Welt insgesamt nicht nur menschliche Vorstellung, sondern zugleich an sich Wille ist.
Der Wille ist das Wesen und die Wahrheit der Welt, aber diese Wahrheit ist das Unerträgliche schlechthin. Der Wille in uns verbindet uns mit der Natur, doch diese Natur hat nichts Tröstendes und Bergendes, nichts von kosmischer Harmonie, sondern alles vom gnadenlosen Kampf ums Dasein. Dem Willen wesentlich ist, dass er sich entzweit und gleichsam selbst verzehrt. Von solcher Übereinstimmung des Menschen mit der Natur ist keine Versöhnung zu erhoffen, und auch nicht von der Vernunft, die nur die Magd des Willens zum Dasein und Wohlsein ist. Das Leben erscheint als unaufhörliches Kampfgetümmel, in dem die einzelnen Individuen dem sinn- und ziellosen Fortbestehen ihrer Gattung geopfert werden. Dieses pessimistische Bild der Welt ist dennoch nicht vollständig trostlos. Denn indem der Wille, in Gestalt der philosophischen Selbstbesinnung, sich seiner inne wird, „ent-spannt“ und verneint er sich. Er kommt zur Einsicht des altindischen „Tat twam asi“: „Das alles bist du“. Andere Formen der Selbstverneinung des Willens sah SCHOPENHAUER in der Kunst, in der Askese und in der moralischen Regung des Mitleids. Sie alle beinhalten eine mehr oder weniger weit gehende Überwindung der Grenzen des Ich.
Mitleid bildete für SCHOPENHAUER den Kern der Moral, weil sich in ihm das Individuum mit einem anderen identifiziert. SCHOPENHAUERs Annahme, dass der Wille sich selbst verneinen könne, ist inkonsequent und konsequent zugleich: Inkonsequent, da der Wille doch das allein Herrschende sein soll, das der Vernunft keinen Raum für ein souveränes Erkennen und Handeln lässt, und konsequent, insofern schon die bloße Möglichkeit der Reflexion des Willens, wie SCHOPENHAUER selbst sie unternimmt, darauf verweist, dass seine Herrschaft nicht grenzenlos sein kann.
Diese Metaphysik des Willens war das düstere Echo auf den Triumph des naturwissenschaftlichen Weltbildes. SCHOPENHAUER griff die traditionell metaphysische Frage nach dem Wesen der Welt, das den vergänglichen und täuschenden Erscheinungen zugrunde liegt, auf, aber seine Antwort benannte keine außerhalb ihrer liegende Instanz der Sinngebung (Gott, Geist, das Absolute) mehr, sondern stieß statt dessen auf die blinde Immanenz der Natur. „Pessimist“ war er, weil er angesichts dieses Befundes noch zutiefst erschauderte.
Im ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde der Pessimismus zur Modephilosophie. Doch schon bald nach SCHOPENHAUER wurde ihm, angesichts der lebensprägenden Erfolge von Naturwissenschaft und Technik, die negativistische Spitze abgebrochen. So proklamierte Eduard von Hartmann einen „wissenschaftlich begründeten Pessimismus“, der zwar mit SCHOPENHAUER noch das Pathos der vollständigen Illusionslosigkeit über die Welt teilte, aber dessen asketische, lustverneinende Konsequenzen vermied. Individuelles Leiden wurde hier im Namen eines erhofften kulturellen Fortschritts doch wieder gerechtfertigt. Von NIETZSCHE angeleitet, emanzipierte sich schließlich der Pessimismus im 20. Jahrhundert von metaphysischen Weltdeutungsansprüchen. Er wurde zu einem illusionslosen Realismus, in dem sich der überkommene Gegensatz zum Optimismus auflöste. Der Mensch galt nun weder als ursprünglich gut noch eigentlich böse, sondern als das nicht festgestellte, formbare Wesen.
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzendeWirkung SCHOPENHAUERs ist vielseitig und weit reichend. Von den späteren philosophischen Strömungen stehen v.a. FRIEDRICH NIETZSCHE (1844–1900) und die Lebensphilosophie (HENRI BERGSON, 1859–1941) unter dem Einfluss SCHOPENHAUERs. Von EDUARD VON HARTMANNs (1842–906) „Philosophie des Unbewußten“ (1869) bis zu SIEGMUND FREUDs Lehre von den unbewussten Trieben findet eine breite Aufnahme in der Psychologie statt. Besonders unter Künstlern wirkt Gedankengut der Philosophie SCHOPENHAUERs prägend nach (in der Musik bei RICHARD WAGNER; in der Literatur bei THOMAS MANN). Nicht zuletzt durch die von PAUL DEUSSEN (1845–1919) 1911 gegründete SCHOPENHAUER-Gesellschaft (Sitz: Frankfurt am Main) erschließt sich sein geistiges Erbe der Gegenwart.
(c) Bibliographisches Institut GmbH, 2005
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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