Die Hundeblume

Wolfgang Borchert

WOLFGANG BORCHERTs Schilderungen der Erfahrungen der verlorenen Kriegsgeneration gehen in ihrem Gehalt weit über ihren unmittelbaren biografischen Bezug hinaus, sie gehören zu den wichtigsten und wirkungsvollsten Kurzprosatexten der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Das kurze Leben des WOLFGANG BORCHERT (1921–1947) war von extremen Leiderfahrungen geprägt. Nach dem vorzeitigen Schulabbruch hatte er auf Wunsch der Eltern eine Buchhändlerlehre begonnen. Seine Leidenschaft galt jedoch dem Theater und er nahm heimlich Schauspielunterricht. Die Denunziation einer Buchhändlerkollegin sorgte dafür, dass er 1940 eine Nacht in einem Gestapo-Keller zubringen musste. Eine von „Rilke-Liebe“ schwärmende Huldigungsode an den Dichter RAINER MARIA RILKE war als Dokument für eine mutmaßliche homosexuelle Orientierung Borcherts verstanden worden. Homosexuelle und vermeintliche Homosexuelle wurden im Nationalsozialismus verfolgt.

1941 hatte er ein kurzes Engagement an der Wanderbühne Osthannover. Die glückliche Zeit wurde jedoch durch seine Einberufung, zunächst zu einer Nachrichten-Ersatzabteilung in Weimar-Lützenorf, dann an die Ostfront nach Kaliningrad, jäh unterbrochen. Im Januar 1942 erlitt er eine Handverletzung, wiederum brachte ihm eine Denunziation – er habe sich absichtlich selbst verletzt – eine Gefängnishaft und die Androhung der Todesstrafe wegen Selbstverstümmlung ein. Sechs Wochen saß er in Nürnberg in Einzelhaft und wartete auf sein Urteil.

Frontbewährung und Haft

BORCHERT war ein exzentrischer Charakter, der sich zum Künstler berufen fühlte und es liebte, aufzufallen. Nie machte er auch einen Hehl aus seiner Abneigung gegen militärischen Drill und den Krieg. Diese Haltung hat ihm sicherlich Misstrauen und manche Feindschaft eingebracht unter den vaterlandsergebenen Landsern und Aufsehern. Man kontrollierte BORCHERTs Post. Zwar wurde das Todesurteil zurückgenommen, aber als man in seinen Briefen staatsgefährdende Äußerungen gefunden zu haben glaubte, wurde er zu vier Monaten verschärfter Haft mit anschließender „Frontbewährung“ verurteilt.

Er musste an die Ostfront nach Russland und kam nach der Winterschlacht von Toropez im Januar 1943 mit Fußerfrierungen und Fleckfieberverdacht ins Seuchenlazarett Smolensk. Fieber und Gelbsucht hatten seine Gesundheit zu diesem Zeitpunkt bereits zerrüttet. Nachdem er zur weiteren Pflege und Genesung nach Deutschland in den Harz überstellt worden war, entließ man ihn Mitte 1943 als nicht mehr „frontdiensttauglich“ in die Heimatstadt Hamburg. Er trat hier mit Chansons in einem Kabarettkeller auf. Kurz bevor er an ein Fronttheater abkommandiert werden sollte, wurde er wegen einer Parodie auf den Reichspropagandaminister GOEBBELS wieder verhaftet. Diesmal saß er während der Luftangriffe auf Berlin neun Monate in der Haftanstalt Berlin-Moabit ein. Im September 1944 wurde er erneut zur „Frontbewährung“ entlassen und im Frühling 1945 in der Nähe von Frankfurt am Main von den französischen Truppen gefangen genommen. Ihm gelang die Flucht und zu Fuß schlug er sich entlang der Frontlinie 600 km nach Hamburg durch. Vollkommen erschöpft, hungernd und krank kam er zu Hause an und fand Aufnahme bei seinen Eltern. Die Lebererkrankung war durch die Strapazen und Entbehrungen so weit fortgeschritten, dass BORCHERT die ihm verbleibenden zwei Jahre fast ausschließlich im Krankenhaus oder zu Hause im Bett verbrachte.

In dieser Zeit entstanden seine Kurzgeschichten, die er zum Teil seinem Vater diktierte, und das erschütternde Kriegsheimkehrer-Drama „Draußen vor der Tür“.

„Die Hundeblume“

Im Januar 1946 schrieb er die Erzählung „Die Hundeblume“ nieder (erschienen 1947 in Hamburg), in der er vor allem jene schwere Zeit der Einzelhaft in Nürnberg festgehalten hat.

Am Beginn der Erzählung „Die Hundeblume“ schildert der Ich-Erzähler, wie hinter ihm eine Tür geschlossen wird, eine hässliche, mit Eisenblech beschlagene Tür, „stolz und unnahbar“,die sich auch von Gebeten nicht erweichen lässt. Die Tür ist personifiziert, oft greift BORCHERT zu diesem expressionistischen Stilmittel. Es lässt, wie auch die fiktiven Gespräche des Eingeschlossenen mit einer Spinne, mit Gott und sich selbst, die Einsamkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins unmittelbar spürbar werden.
Die Tür trägt die Nummer 432 und nun ist klar: Der Ich-Erzähler befindet sich in einer Zelle, eingeschlossen mit einem Wesen, vor dem er am meisten Angst hat - mit sich selbst.
Im Folgenden stellt er Betrachtungen an über seine trostlose Situation in der kahlen Zelle ohne jedes andere Ding oder die Möglichkeit zur Beschäftigung. Mit dem Bemühen um Ironie „Ich fand mich aber allmählich doch ganz unterhaltsam und vergnüglich -“ versucht der Ich-Erzähler seiner Verzweiflung Herr zu werden; die allerdings bricht immer wieder hervor:

Man schlägt wohl ein paar Stunden an Wand und Tür - aber wenn sie sich nicht auftun, sind die Fäuste bald wund, und der kleine Schmerz ist dann die einzige Lust in dieser Öde.“

Der Eingesperrte hat sich an seine Situation allmählich gewöhnt:

Ich fühlte, wie ich langsam leerlief von der wirklichen Welt und voll wurde von mir selbst.

Da beginnt mit dem Durchbrechen seiner Isolation der zweite Teil der Erzählung. Er und andere Männer werden auf einen spärlich mit Gras bewachsenen Hof geschubst, wo sofort ein „Bellen explodiert“. Das Bellen kommt von blassblauen Uniformen, den Gefängniswärtern, die er „Wachthunde“ nennt. Er billigt ihnen nicht den Status von Personen zu, im Gegensatz zu der Tür oder der Spinne. Die Bewacher sind für ihn Tiere, während er leblose Dinge zu seinesgleichen macht und bei ihnen Trost sucht. Im unpersönlichen „man“ schildert er nun, wie die Gefangenen in Holzpantoffeln eine halbe Stunde im Kreis herumlaufen. Bald ist die kleine Freude über den Hofgang aufgebraucht und „man“ empfindet die Leidensgenossen als wandernde Leichen, als gesichtslose „Latten“ in einem „Lattenzaun“, in den man selbst „eingelattet“ ist.

Entindividualisierung

Die psychische Belastung scheint sich zu verschärfen, die Entindividualisierung des Menschen schreitet unter den unmenschlichen Haftbedingungen voran. Seine innere Bedrängnis steigert sich zu irrationalem Hass auf seinen Vordermann, von dem er nichts kennt als den Rücken und die glanzlose, wie tot wirkende Glatze, weshalb er ihn „Perücke“ nennt. Er quält seinen Vordermann, indem er ihm in die Hacken tritt und üble Geräusche macht. Dass die Perücke zu feige ist, sich nach ihm umzudrehen, steigert seinen Hass nur. Er stellt bei den Hofgängen Spekulationen über das Vergehen der Perücke an, über ihr Aussehen, malt sich aus, wie er sie ermorden würde. All diese Gedanken sind von tiefstem Abscheu erfüllt.

Um diesen Hass und die psychische Notlage zu erklären, aus der heraus er entsteht, wendet sich der Erzähler in direkter Anrede an den Leser.

Denke nicht, dass mein Hass auf meinen Vordermann, auf die Perücke, hohl und grundlos ist –

Die Menschen dürfen keine Beziehung zueinander aufbauen, sindentwürdigt und entmenschlicht und dazu degradiert, nichts weiter als des anderen Vorder- oder Hintermann zu sein. So entgleiten die Emotionen in unkontrollierte Aggression. Doch unversehens kann der Ich-Erzählerpositive Gefühle entwickeln, als er zwischen den ihm zunickenden Grashalmen eine kleine gelbe Blume entdeckt, einen Löwenzahn, eine Hundeblume. Sein ganzes Sinnen und Trachten richtet sich bald auf diese Blume und das Bemühen, seine Leidenschaft unentdeckt zu lassen.

Ich konnte nicht mehr ohne sie leben – da oben zwischen den toten Wänden!

Ihm gelingt es, den Weg des täglichen Rundgangs um einige Schritte an die kleine Blume heran zu verlegen, die trottenden Männer folgen ihm.

Das Unfassliche

Am Tag, als er die Blume pflücken will und sich ihr auf den letzten Schritten nähert, geschieht das Unfassliche: Die Perücke hebt die Arme und dreht sich zu ihm, seinem Hintermann, um, verdreht die Augen und fällt tot um.

Eine Latte war aus dem Zaun gebrochen – und der Tod war haarscharf an mir vorbeigepfiffen – …

„Theologe“

Sein Vorhaben, in den Besitz der Blume zu gelangen, ist fürs Erste in die Ferne gerückt. Er bekommt einen neuen Vordermann, den er wegen seines verlogenen Aussehens „Theologe“ nennt. Dieser „Theologe“ ist entweder verrückt oder er spielt seine Verrücktheit, denn jedes Mal, wenn er an den blassblauen Uniformstandbildern vorbeikommt, verbeugt er sich und wünscht „Gesegnetes Fest, Herr Wachtmeister!“, was sogar deren starren Kläfferschnauzen ein Grinsen abnötigt. Der Ich-Erzähler muss nun alle Kraft aufbieten und dem Zwang widerstehen, es seinem Vordermann gleichzutun. Um nicht verrückt zu werden, simuliert er eines Tages das Verlieren seines Holzpantoffels und bekommt durch das Zurückbleiben einen anderen Vordermann. Der ist lang und wirft einen so enormen Schatten, dass er sich in dessen Schutz ganz geborgen fühlt und länger als sonst die Hundeblume ansehen kann. Er liebt diesen Vordermann dafür, kann großzügig über seine Eigenarten hinwegsehen und verzichtet sogar darauf, ihm einen Beinamen zu geben. Und eines Tages gibt er vor, seinen herunterrutschenden Strumpf hochzuziehen, wobei er blitzschnell die „erschrockene“ Blume pflückt. Dieser Abschnitt ist aus der auktorialen Erzählperspektive dargeboten, wie auch der dritte Teil der Erzählung.

Ein blasierter, reuiger Jüngling aus dem Zeitalter der Grammophonplatten und Raumforschung ...hält mit seinen vereinsamten Händen eine kleine gelbe Hundeblume in den schmalen Lichtstrahl …

Behutsam und zärtlich geht der jungen Mann mit der Blume um und stellt die Ermattete in seinen Trinkbecher, er fühlt zum ersten Mal Trost und Glück und ist gelöst und kann für einen Moment sein Leid abtun:

… die Gefangenschaft, das Alleinsein, den Hunger nach Liebe, die Hilflosigkeit seiner zweiundzwanzig Jahre, die Gegenwart und die Zukunft.

In Bildern und Traum-Symbolen, die unschuldiges Leben im „wilden“ Naturzustand heraufbeschwören, erhebt er sich über sein Elend.

Zeichen der Hoffnung

Die Erzählung endet in einem Traum voller Hoffnungssymbolik, Blumen brechen aus ihm hervor. Aus der tiefsten Verzweiflung, aus Lethargie und dumpfem Hass gewinnt der junge Mann Lebenswillen zurück durch die Anwesenheit einer kleinen Blume, die als Zeichen der Hoffnung, als Symbol der menschlichen Liebesfähigkeit Bedeutung gewinnt. Schauplatz der Erzählung ist das Gefängnis, zunächst nur die Zelle, dann erweitert um den Gefängnishof.

Novellistische Struktur

Trotz des eingeschränkten äußeren Handlungsrahmens hat die Erzählung eine novellistische Struktur. Spannung gewinnt sie durch die Entdeckung der Blume und die Verwirklichung des Planes, in den Besitz der Blume zu gelangen. Retardierende Momente wie der Tod seines ersten Vordermannes, der „Perücke“, und das merkwürdige Benehmen des zweiten Vordermannes, des „Theologen“, verzögern die Handlung und steigern die Spannung bis zum Moment, da er die Blume pflücken kann. Dann fällt der Spannungsbogen ab und löst sich in dem Glückserleben des jungen Häftlings auf.

Schilderung der inneren Vorgänge

Breiten Raum nimmt die Schilderung der inneren Vorgänge des Ich-Erzählers ein.
Andere Personen oder Handlungen erscheinen nur aus der Perspektive seiner durch die psychische Ausnahmesituation gleichermaßen verschärften wie eingeschränkten Wahrnehmung. Der Wechsel der Erzählperspektive von der Ich-Erzählung zur Er-Erzählung und zur appellativen Anrede des Lesers steigern die innere Dramatik ebenso wie die ungewöhnlichen Epitheta (schmückenden Beiwörter), die Unbelebtes personifizieren und Personen auf tierische Eigenschaften oder herausgehobene Absonderlichkeiten reduzieren. Die Wärter sind die Blauen, Wachthunde, Uniformen. Sich und seine Leidensgenossen bezeichnet er als Latten in einem Lattenzaun, die durch die Haft ausgeprägten Eigenheiten seiner Vordermänner steigern sich für ihn ins Unerträgliche. Wirkungsvolle Stilmittel sind zudem Wiederholungen und Kontraste, der stärkste ist der zwischen den bedrohlichen kahlen Gefängnismauern und der zaghaft hoffnungsvoll sich zeigenden Natur.

Der Tonfall BORCHERTs wechselt zwischen Emphase, verzweifelter Klage, bitterer Ironie, aggressivem Sarkasmus, Verzagtheit und zärtlicher Schilderung. Er scheut weder das Pathos noch das Einstreuen niederdeutscher Umgangssprache („hinterherdammeln“, „festgebackt“).

Die Erzählung ist eine berührende Schilderung des Ausgeliefertseins und der Verlorenheit, der Einsamkeit und Verzweiflung des Menschen, aber auch deren Überwindung durch Lebenswillen, Hoffnung und die Macht der Liebe.

(Alle Zitate aus: Borchert, Wolfgang: Die Hundeblume. In: ders.: Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt.2009)

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