Begriffe der Dramenpoetik

Begriffe

Je nach Perspektive des Betrachters unterscheidet man innerhalb der Dramenpoetik die Begriffe

  • Person,
  • Rolle,
  • Charakter und
  • Figur.

Die vier Begriffe sind keineswegs gleichbedeutend, sondern heben jeweils ein bestimmtes Bedeutungsmerkmal der künstlich geschaffenen literarischen Gestalt hervor.

1. Person

Person: Ursprünglich bedeutet das lateinische Wort „persona“ soviel wie die „Maske“ des Schauspielers. Das Tragen von Masken im antiken Theater war üblich, auch um eine bestimmte soziale Rolle der Figur (z. B. der Arzt, der Politiker, der Rechtsanwalt) zu verdeutlichen. Dabei darf der Begriff Person auf das Drama bezogen nicht mit den heute gebräuchlichen Begriffen Persönlichkeit (Bezeichnung der leiblichen und seelischen Ganzheit eines Menschen) oder Individuum (der Mensch in seiner besonderen Eigenart) verglichen werden. Diese Termini waren in der Antike unbekannt. Der ursprüngliche Wortgebrauch findet sich heute noch in den Programmheften der Theater, wenn von Personen und ihren Darstellern gesprochen wird und macht deutlich, dass mit Person die Rolle gemeint ist, die eine Figur im Zusammenspiel mit anderen Figuren im Drama zu spielen hat.

2. Rolle

Als Rolle bezeichnet man zunächst die Aufgabe, die der Schauspieler berufsbedingt in einer kollektiven Theaterproduktion zu übernehmen hat. Das gleichnishafte Verhältnis zwischen dem Bühnengeschehen im Theater und dem Leben, sowie umgekehrt, wird dabei schon von SHAKESPEARE um 1600 in seinem Stück „Wie es euch gefällt“ hervorgehoben:

„Die ganze Welt ist Bühne,
Und alle Frau'n und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen,
Durch sieben Akte hin. ...“.

(Shakespeare, William: Wie es euch gefällt. 2. Akt, 7. Szene, in: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Herausgegeben von Anselm Schlösser. Berlin: Aufbau, 1975S. 673f. )

CALDERÓN lässt in seinem geistlichen Festspiel „Das große Welttheater“ (1675, siehe PDF "Pedro Calderón de la Barca - Das große Welttheater") den Figuren vom Spielmeister im Namen Gottes Berufs- und Standesrollen zuteilen (z. B. König, Minister, General, Mönch, Verbrecher, Edelmann, Bauer, Dame, Bettler). Rollenspiel ist demnach nicht nur Grundbedingung des Menschen im täglichen Leben und des Schauspielers auf der Bühne, sondern auch der fiktiven Figuren im Drama. Dabei sehen sich die Figuren häufig mit dem Problem konfrontiert, die Rollen keineswegs nacheinander zu spielen, sondern vielfach gleichzeitig in verschiedenen Rollen zu agieren.

So ist Eve in KLEISTs „Der zerbrochene Krug“ (siehe PDF "Heinrich von Kleist - Der zerbrochene Krug") nicht nur das Opfer des seine Macht missbrauchenden Richters, sondern sie schlüpft gleichzeitig in die Rolle der treuen Verlobten Ruprecht gegenüber sowie die der gehorsamen Tochter ihrer Mutter. Die Figur des Adam spielt gar die Rolle des Richters und des Angeklagten in einer Person. Unausweichlich geraten die fiktiven Figuren im Drama in Rollenkonflikte, genau so wie Personen im realen Leben.
Für viele Schauspieler und auch Zuschauer erscheinen die Rollenkonflikte in älteren Dramen heute schwer nachvollziehbar. Die Ursache dafür ist in den veränderten sozialen Strukturen und Wertvorstellungen unserer Zeit zu suchen. Die Analyse des Rollenspiels der Figuren erscheint also nötig, um ein Drama angemessen verstehen zu können.

3. Charakter

Der Begriff stammt ursprünglich vom griechischen Wort Charakter ab und bedeutet so viel wie „Stempel“, „Gepräge“, „Eigenart“. Unter dem Einfluss des Französischen vollzog sich die Übertragung auf die in die Seele eines Menschen einprägenden Eigenschaften.

Im heutigen Sprachgebrauch kann die Verwendung des Begriffes in drei Bereiche unterschieden werden:

  • Sprechen wir vom Charakter einer Landschaft oder eines Menschen, meinen wir die typische Eigenart bestimmter Erscheinungen.
  • Für einen verantwortlichen, sittlich handelnden Menschen benutzen wir die Redewendung „Ein Mensch von Charakter“, wobei eine ethische Komponente zum Tragen kommt.
  • Der psychologische Begriff Charakter bezeichnet die seelischen Anlagen eines Menschen, die seine individuelle Prägung ausmachen.

In diesem Spannungsfeld zwischen typischer Eigenart und individueller Ausprägung bewegt sich auch der Charakterbegriff in der Dramengeschichte.

Der ARISTOTELESschüler THEOPHRAST (371–287 v. Chr.) beschrieb in einer Schrift mit dem Titel „Charaktere“ dreißig allgemeine, häufig vorkommende Verhaltenstypen für die Komödie wie

  • den Geizhals,
  • den Heuchler,
  • den Prahlhans usw.

Die Komödiendichter haben sich quer durch alle literarischen Epochen immer wieder aus diesem Vorrat bedient. Sie stellten die typischen Verhaltensmuster einer Figur in jeweils immer neue historische und soziale Gegebenheiten.

Ein Charakter mit individueller Ausprägung entsteht, wenn in einer Bühnenfigur mehrere typische Eigenschaften kombiniert werden.
In der Figur des Richters Adam werden zunächst der Typ des korrupten Richters wie auch der des lüsternen Alten sichtbar. Die Unverwechselbarkeit dieses Charakters entsteht aber gerade durch die Vermischung von Behäbigkeit und Gerissenheit, von sinnlicher Begierde und Angst vor der Entdeckung, amtlicher Arroganz und Unterwürfigkeit gegenüber dem Vorgesetzten.

Das Auftreten standardisierter Figurentypen als Verkörperung menschlicher Verhaltensmuster hat eine lange Tradition und ist auch für den Zuschauer ein Vorteil, da es für einen gewissen Wiederkennungseffekt sorgt. Dieses Verfahren ermöglicht es dem Rezipienten weiterhin, sich stärker auf die Geschichte des Dramas zu konzentrieren. Ohnehin war der Theaterbetrieb bis in unser Jahrhundert hinein traditionell durch Rollenfächer bestimmt, z. B:

  • erster Liebhaber,
  • der Naive,
  • die komische Alte usw.

Modernere Autoren stellen zunehmend nicht nur das Allgemeine, Typische einer dramatischen Figur in den Mittelpunkt, sondern arbeiten die Individualität des dramatischen Charakters heraus.
Die Figur agiert nicht einfach in einer bestimmten Situation entsprechend einem dem Zuschauer bekannten und von ihm erwarteten Verhaltensmuster. Vielmehr wird der Frage nachgegangen, welche individuellen Besonderheiten das Handeln einer Figur bestimmen. Warum verhält sie sich anders, als eine andere Figur in der gleichen Situation?

4. Figur

Der Begriff Figur, mit dem wir die dramatische Person bezeichnen, lässt sich vom lateinischen Wort „figura“ (Gebilde, Gestalt, Erscheinung) herleiten, dem wiederum das Verb „fingere“ (bilden, formen, ersinnen, erheucheln) zugrunde liegt.
Dem gleichen Wortstamm zugehörig sind auch die Worte fingieren (vortäuschen, unterstellen) und fiktiv (erdichtet, nur angenommen).

Diese Herleitung macht deutlich, dass es sich bei der Dramenfigur nicht um eine reale Person handelt, sondern vielmehr um ein reines Phantasieprodukt des Dramatikers, um ein literarisches Konstrukt.

Moderne Sichtweisen auf dramatische Figuren
Der Begriff des Charakters erfährt bei BRECHT eine Wandlung. Eine Definition als Summe aller Verhaltensweisen lehnt er als allzu mechanische Auffassung ab. Er betont, dass der Mensch keinen einmal vorgegebenen, unveränderbaren Charakter habe, sondern sich im Laufe seines Lebens oft sehr widerspruchsvoll verhalte. Für die Charakterisierung seiner dramatischen Figuren benutzt BRECHT deshalb den Begriff der „Verhaltensweise“, gibt ihnen damit die Möglichkeit, sich in bestimmten Situationen anders zu verhalten, als es ihrem Charakter eigentlich entspräche. So gelingt es ihm, die Widersprüche, denen sich der Mensch unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt sieht, deutlicher herauszuarbeiten. Seine „Mutter Courage“ weigert sich beispielsweise, ihre Offiziershemden als Verbandsmaterial für Verwundete zur Verfügung zu stellen:

„Ich kann nix geben. Mit all die Abgaben, Zölle, Zins und Bestechungsgelder! ... Ich gib nix, ich mag nicht, ich muss an mich selbst denken...“
(Brecht, Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder [5. Bild]. in: Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 6, S. 59)

Der gesellschaftliche Widerspruch wird deutlich, als die behinderte Katrin, die keine derartigen Bedenken plagen, ihre Mutter bedroht. Die Courage erweist sich nicht als hartherzig, ihr Verhalten entspricht nicht ihrem Charakter. Die Lage, in der sie sich befindet, das gesellschaftliche Umfeld zwingt sie zu diesem Verhalten.

Das absurde Theater

Das absurde Theater (IONESCO, BECKETT) erweitert die Möglichkeiten der dramatischen Figur um eine weitere Facette. Die Figur stellt keinen Typus dar und beweist keinen Charakter, sie wird zur Marionette. Als solche erkennt sie vielleicht noch ihre Situation, kämpft aber nicht gegen die Umstände, die sie zur Marionette machen. Erste Anzeichen für diese Entwicklung finden sich schon bei BÜCHNER.
In „Dantons Tod“ lässt er die Titelfigur der Ehefrau erklären:

„Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen - man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.“
(Georg Büchner: Dantons Tod, II, 5. In: Werke und Briefe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Frankfurt a.M.: Insel, 1979, S. 45)

Die Figuren des Iren BECKETT, Wladimir und Estragon, in „Warten auf Godot“ verhalten sich vollends willenlos und apathisch.

Die beiden Vagabunden warten das ganze Stück über auf einen gewissen Godot, der nie auftaucht. Sie langweilen sich und ersinnen allerhand Zeitvertreib. Sie ziehen ihre Schuhe an und aus, setzen den Hut auf und ab, streiten und vertragen sich wieder. Die Handlung dreht sich im Kreis, weder ein Anfang, noch ein Ende sind zu erkennen. Nicht einmal die Botschaft:

„Herr Godot hat mir gesagt, ihnen zu sagen, dass er heute Abend nicht kommt, aber sicher morgen“, (Beckett, Samuel: Warten auf Godot. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag; 1979, S. 36f.)

durch einen Jungen übermittelt, ändert das Verhalten der beiden. Das Stück endet, wie es begann, die Vagabunden warten vergeblich auf Godot.
Für den Rezipienten scheinen die Figuren der Situation des Wartens ohnmächtig ausgeliefert. Es gibt kein Entrinnen, keinen Versuch, die Lage zu verändern, auszubrechen. Wladimir und Estragon reden nicht in wohlgesetzten Dialogen über die Sinnlosigkeit des Lebens, sondern sie stellen es auf der Bühne sprachlich und szenisch dar. Sie werden außengelenkte Marionetten, ihr Verhalten richtet sich nicht nach eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Überzeugungen, sie entsprechen lediglich den Forderungen und Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden. Das Auszusagende und die Form der Aussage stimmen völlig überein. Dialog und Spiel der Figuren sind sinnlos, haben keine Beziehung mehr. Eine Handlung im Sinn des früheren Dramas gibt es nicht.

EUGÈNE IONESCO spricht von seinen Dramenfiguren als „Personen ohne Charakter“, „gesichtslosen Wesen“. Der in seinen Stücken parodierte Kleinbürger versteht nicht, was mit ihm passiert, aber lässt es geschehen.

„Absurd ist etwas, das ohne Ziel ist ... Wird der Mensch losgelöst von seinen religiösen, metaphysischen und transzendentalen Wurzeln, so ist er verloren, all sein Tun wird sinnlos, absurd, unnütz, erstickt im Keim“
(zitiert nach: Killinger, Robert: Literaturkunde: , Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky; 1996, S. 269)

Anlage dramatischer Figuren

Anlage dramatischer Figuren: Folgende Möglichkeiten bieten sich an, wenn man die Eigenschaften bzw. Merkmale einer Dramenfigur herausarbeiten will:

  • Konzeption
    Wie konzipiert der Autor die Figur in Hinblick auf die Handlung des Dramas?
  • Charakterisierung
    Welche Handlungen, Verhaltensweisen und Reden weist der Autor der Figur im Stück zu? Wird eine Charakterisierung der Figur durch eine andere Figur vorgenommen? Welche Perspektive nimmt die charakterisierende Figur ein? Wie schätzt die Figur das eigene Handeln ein, wie bewertet sie?
  • Konstellation und Konfiguration
    In welchem Verhältnis zur Gesamtheit der handelnden Figuren eines Stückes steht die Figur? Mit welchen anderen Figuren tritt die zu charakterisierende Figur wann auf?

Figurenkonzeption

Figurenkonzeption: Entsprechend der Entscheidung des Autors kann eine Figur im Verlauf eines Dramas eine Entwicklung durchlaufen oder ihre Ansichten und Einstellungen beibehalten. Wir sprechen von

  • dynamischer Figurenkonzeption oder
  • statischer Figurenkonzeption.

BRECHTs „Mutter Courage“ bleibt eher statisch. Am Ende des Dramas will sie am Krieg noch immer verdienen, scheint aus der Handlung nicht klüger geworden zu sein. SCHILLERs „Maria Stuart“ (siehe PDF "Friedrich Schiller - Maria Stuart") dagegen wandelt sich von der schönen Verführerin am Beginn des Stückes zur „schönen Seele“, die gefasst in den Tod geht. Häufig sind es gerade die Konflikte zwischen statischen und dynamischen Figuren, die im Drama zur Steigerung der Spannung bzw. zur Katastrophe führen.

Legt der Autor die Figur mit wenigen Merkmalen fest, die alle eine bestimmte Eigenschaften hervorheben, handelt es sich um eineeindimensionale Figurenkonzeption. Ist die Figur wandlungsfähig und lässt in verschiedenen Situationen immer neue Seiten ihres Wesens erkennen, deutet das auf einemehrdimensionale Figurenkonzeption hin. LESSINGs „Minna von Barnhelm“ (siehe PDF "Gotthold Ephraim Lessing - Minna von Barnhelm") beispielweise erhält die Möglichkeit, im Verlaufe des Stücks verschiedenste Merkmale dieser Figur in den Vordergrund zu rücken. Zunächst ganz stolze Adlige, beweist sie auch Großzügigkeit und Warmherzigkeit, distanziertes Verhalten zur Zofe weicht gelegentlich freundschaftlicher Verbundenheit, zielstrebiges und zweckbestimmtes Verhalten paart sich mit List und einer ordentlichen Portion schauspielerischer Fähigkeiten.

Eine geschlossene Figurenkonzeption strebt der Autor an, wenn er die Figur so gestaltet, dass kaum Interpretationsspielraum für Zuschauer und Darsteller bleibt. Minna von Barnhelm ist eine geschlossen konzipierte Figur, trotz ihrer beschriebenen Mehrdimensionalität. Es bleiben dem Rezipienten keine Fragen. Alles über die Figur wird im Stück gesagt, ihr Auftreten in der Regieanweisung genauestens festgelegt. Mehrdeutigkeit dagegen ermöglicht die offene Figurenkonzeption. Die Titelhelden SHAKESPEAREs sind meist nicht auf eine einzige Deutung festgelegt. Gerade diese Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten macht offensichtlich für Darsteller wie Zuschauer den besonderen Reiz seiner Stücke aus.

Die Frage, ob es sich um rationale Figurenkonzeption oderpsychologische Figurenkonzeption handelt, kann ebenfalls beantwortet werden.

Figuren wie beispielweise LESSINGs Nathan (PDF 5) bewältigen problematische Situationen mit Rationalität und Vernunft. Nur mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, in einem Monolog eine Antwort auf Saladins spitzfindige Frage nach der wahren Religion zu finden, ohne dabei dessen Zorn auf sich zu ziehen. Eine psychologische Konzeption liegt hingegen in ZUCKMAYERs Wilhelm Voigt im „Hauptmann von Köpenick“ vor. Er berichtet nicht im Monolog über sein Vorhaben, sondern teilt es bruchstückhaft und nicht in letzter Konsequenz einem Verwandten mit. Sein Plan wird dem Zuschauer aber trotzdem indirekt angekündigt. Schon in den ersten beiden Akten erlebte er die magische Bedeutung militärischer Uniformen in allen Bereichen der Gesellschaft. Er ist also ausreichend psychologisch vorbereitet auf die Tat des Schusters.

Figurencharakterisierung

Möglichst viele Informationen über die Personen sind nötig, um den Handlungsverlauf für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen. Werden diese Informationen vom Autor selbst gegeben, wird dasauktoriale Figurencharakterisierung genannt. Sie kann durch Nebentext geschehen, wie in HANS CHLUMBERGS „Die Führer“ (1919):

„Bergmann sitzt vor seinem Schreibtisch. Er ist ein hochgewachsener, streng aber zuverlässig aussehender Mann von etwa 54 Jahren, mit ruhiger Sorgfalt gekleidet. Er spricht langsam, mitunter scharf
pointiert und erweckt durch eine selbstverständliche Offenheit seines Auftretens und seiner Sprache unbedingtes Vertrauen.“

(Chlumberg, Hans: Die Führer. Wien, Leipzig: Verlag Karl Harbauer, 1919, S. 21.)

Figuren können sich aber auch selbst charakterisieren oder durch andere Figuren, also figural, charakterisiert werden. In SHAKESPEARs Drama „König Richard III.“ (siehe PDF "William Shakespeare - König Richard III.") wird die Charakterisierung der Hauptfigur als Ausbund der Hässlichkeit, mit festen Vorsätzen, ein Bösewicht zu werden, schon im Eingangsmonolog deutlich:

„Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Dass Hunde bellen, hink` ich wo vorbei.“

(William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 3, Herausgegeben von Anselm Schlösser. Berlin: Aufbau, 1975, S. 793)

Eine weitere Möglichkeit der Unterteilung verschiedener Charakterisierungstechniken ergibt sich bei der Beantwortung der Frage, ob die Informationen über eine Figur explizit gegeben werden, das heißt direkt über sie und ihren Charakter gesprochen wird, oder der Zuschauer den Charakter aus der Gesamtheit der sprachlichen und außersprachlichen Mittel entnehmen muss, die Information also nicht ausdrücklich oder implizit gegeben wird.

auktorial
(vom Autor an
den Zuschauer)
 figural
(von Figur selbst an
den Zuschauer)

- Figurenbeschreibung im Nebentext
- sprechende Namen der Figur

explizit
(ausdrücklich)
- Figur kommentiert sich selbst im Monolog oder im Dialog mit einer anderen Figur
- andere Figuren kommentieren die Figur
- Hervorhebung der Merkmale einer Figur durch Übereinstimmung oder Kontrast zu anderen Figurenimplizit
(indirekt, enthalten)
- außersprachliche Mittel (Mimik, Gestik, Masken, Kostüme, Verhalten, Umgebung)
- sprachliche Mittel (Satzbau, Wortwahl, Dialekt, Stimmqualität)

Im Drama treten die einzelnen Charakterisierungstechniken selten in reiner Form auf. Die Kombination einzelner Techniken ermöglichen die Darstellung vielschichtiger dramatischer Konflikte aus unterschiedlichen Perspektiven. Gerade diese Spiegelung des Charakters einer Figur durch andere Figuren führt dem Zuschauer die Komplexität der Handlungssituation vor Augen. Das Verhalten einer Figur in Entscheidungssituationen stellt sich als besonders aufschlussreich dar. Schwankt GOETHEs Gretchen im „Faust“ (siehe PDF "Johann Wolfgang von Goethe – Faust I") zwischen Bedenken und Hingabe, so entscheidet sie sich im Moment, da Faust ihr den Schlaftrunk reicht für ihre Liebe:

„Seh' ich dich, bester Mann, nur an, Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt; Ich habe schon so viel für dich getan, Dass mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt.“
(Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg: Christian Wegener, 1948 ff. S. 112)

Da sich Dramen in der Regel auf einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung konzentrieren, sind die Motive einer Figur, sich „richtig“ oder „falsch“ zu entscheiden, von besonderem Interesse beim Erfassen einer Dramenfigur. Nicht nur die vordergründigen Handlungsanlässe sind hierbei in Betracht zu ziehen, sondern vor allem die Hintergründe und die oft im Verborgenen bleibenden Zusammenhänge. Um die Besonderheiten einer literarischen Figur herauszuarbeiten sollte man folgende Fragen beantworten:

  • Was hebt die Figur von anderen Figuren ab, die schon in Dramen auftraten?
  • Was unterscheidet die Figur von anderen Figuren mit gleichen Interessen im Stück?
  • Mit welchen Gegenfiguren im Stück lässt sich die Figur im Stück kontrastierend vergleichen?
  • Ist die Figuren mit realen Menschen oder Personen in der Geschichte vergleichbar?

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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