Anekdote

Die Anekdote (griech.: anekdoton = das nicht Herausgegebene) ist eine epische Kleinform, deren Name sich von den „Anekdota“ des PROKOPIUS VON CAESAREA aus dem 6. Jahrhundert ableitet, in denen er nach dem Tod des römischen Kaisers JUSTINIAN (DER GROSSE, ca. 482–565 n. Chr.) nicht autorisierte Indiskretionen über ihn verbreitete. Und bereits PLUTARCH (um 46–um 120) schmückte seine Geschichtswerke mit Anekdoten über berühmte Männer.

Als sich im ausgehenden Mittelalter Schwank, Fabel und Novelle herausdifferenzierten, etablierte sich auch die Anekdote als eigenständiges Genre in der deutschen Literatur, wobei sie von der Kalendergeschichte, die eine beliebte Form der volkstümlichen Belehrung und Unterhaltung war, zunächst kaum abzugrenzen war. Die Form des pointierten Kurztextes pflegte bereits MATHIAS CLAUDIUS in seinem „Wandsbeker Bothen“, den er von 1770–1775 herausgab.

Seit dem 18. Jahrhundert erscheint die Anekdote in ihrer heutigen Gestalt:

  • Sie berichtet Details aus dem Leben berühmter Persönlichkeiten oder Begebenheiten am Rande historischer Ereignisse, die beispielhaft über charakteristische Züge dieser Person oder dieses Ereignisses Auskunft geben können.
  • Die kleinen Episoden sind auf eine Pointe hin erzählt, mitunter moralisierend, oft witzig, wobei das Humorvolle nicht vordergründiger Komik entspringt, sondern tieferer menschlicher Weisheit.
  • Anekdoten haben oft einen anonymen Verfasser und werden mündlich überliefert, ehe sie auf die eine oder andere Weise schriftlich fixiert werden.

So blühte etwa im 18. und 19. Jahrhundert nach dem Tode deutscher Herrscher jeweils die Anekdotenliteratur, welche deren Leben und Taten lobpreiste und das aufzeichnete, was man sich bis dahin erzählt hatte.

JOHANN PETER HEBEL („Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“, 1811) und HEINRICH VON KLEIST, der zahlreiche Anekdoten (Audio 1) für die „Berliner Abendblätter“ 1810–1811 verfasste, führten die Anekdote Anfang des 19. Jahrhunderts auf einen literarischen Höhepunkt, der für BERTHOLD AUERBACH, JOHANN ANZENGRUBER, JEREMIAS GOTTHELF und THEODOR FONTANE vorbildhaft wurde.

Die Anekdote ist ein bis heute gepflegtes Genre, das, ähnlich wie der Witz, auch noch in der mündlichen Wiedergabe fortlebt. In der schnelllebigen Zeit der Moderne kommen die knappen Texte, die gleichermaßen das Informations- wie das Unterhaltungsbedürfnis befriedigen, den Wünschen einer breiten Leserschaft nach leicht konsumierbarer Lektüre sehr entgegen. Vor allem der Journalismus trug zur Verbreitung der Anekdote bei. Anekdoten sind zudem beliebte illustrierende Einsprengsel in geschichtlichen oder biografischen Werken.

Beispielanekdote

In folgender Beispielanekdote eines unbekannten Verfassers über den Reichskanzler BISMARCK zeigen sich sehr anschaulich die typischen Merkmale des Genres. Eine kleine Episode aus dem Leben des großen preußischen Politikers ist ausgewählt. Sie zeigt den „eisernen Kanzler“ als leutselig und kinderfreundlich, aber sie bringt auf ironische Weise auch den Hinweis auf die enorme Macht und das politische Geschick dieses Mannes sowie auf die tatsächlichen Machtverhältnisse im preußischen Staat.

Bismarck und unser Kronprinz
Eines Tages erschien der Reichskanzler im Schloss, um sich zum Vortrage bei Seiner Majestät Wilhelm II. zu begeben. Während er angemeldet wurde, trat er in die angelehnte Tür eines Nebenzimmers, aus welchem ihm fröhliche Kinderstimmen entgegen schallten.

Es war das Spielzimmer der kaiserlichen Kinder, und der Kanzler sah mit Freude, wie der Kronprinz einen Leierkasten drehte, nach dessen Klängen die beiden jüngeren Prinzen zu tanzen versuchten. Kaum erblickten sie den Kanzler, als Prinz Eitel Friedrich auf ihn zukam und ihn anredete: „Bitte, bitte, Fürst Bismarck, tanz einmal mit uns!“

Lächelnd wehrte der Fürst den stürmischen Knaben ab und sagte: „Nein, nein, dazu bin ich zu alt. Das kann ich wirklich nicht, aber wenn der Kronprinz mittanzen will, dann will ich so lange die Drehorgel spielen.“ Der Vorschlag wurde mit Jubel aufgenommen. Fürst Bismarck drehte den Leierkasten im Schweiße seines Angesichts – und die Prinzen tanzten danach.

Da öffnet sich plötzlich die Tür, und herein tritt der Kaiser, das seltsame Bild mit Staunen und Rührung betrachtend. „Nun, das muss ich sagen“, hub der Kaiser an, „es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, lieber Fürst, sich mit den Kindern abzugeben. Aber – “ und dabei erhob der Kaiser scherzhaft drohend den Zeigefinger – „ei, ei, Sie fangen bei Zeiten an! So früh schon soll der künftige Thronerbe nach Ihrer Pfeife tanzen lernen? Das ist ja schon die vierte Generation, der Sie sich widmen.“ Der Fürst lachte, entschuldigte sich und folgte dem Kaiser in das Vortragszimmer.

audio

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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