In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Europa tief greifende politische und wirtschaftliche Veränderungen. Im März 1848 hatte die bürgerliche Revolution alle deutschen Staaten ergriffen. In den Folgejahren fand die industrielle Revolution in Europa ihren Abschluss. 1866 erkannte WERNER VON SIEMENS das elektrodynamische Prinzip und dessen Bedeutung für die Technik. Dadurch wurde es möglich, elektrischen Strom durch Hochspannungsleitungen zu führen (ab 1882). THOMAS EDISON erfand die Glühbirne. Mit diesen wichtigen Erfindungen und Entwicklungen entstand auch ein neuer Industriezweig, die Elektroindustrie, die Elektromotoren, Dynamomaschinen, Kabel, Schaltanlagen, Glühlampen usw. herstellte.
Die Erkenntnisse der Chemie wurden zunehmend ebenfalls industriell genutzt. Durch neue großtechnische Verfahren der Eisenherstellung, z. B. des BESSEMER-Verfahrens, wurde die Herstellung neuer und besserer Maschinen möglich. Der belgische Chemiker ERNEST SOLVAY schuf die technischen Voraussetzungen für die großtechnische Herstellung von Soda. ADOLF VON BAEYER gelang erstmals die Synthese des beliebten Naturfarbstoffs Indigo, er legte damit die Grundlage für dessen großtechnische Herstellung. In Deutschland wurden Chemieunternehmen wie BAYER oder BASF gegründet, die noch heute zu den größten Unternehmen in der Chemiebranche zählen.
Neben der Entdeckung des Periodensystems der Elemente durch MENDELEJEW und MEYER und der Begründung der organischen Strukturchemie durch KEKULÉ erlebte besonders die physikalische Chemie eine bemerkenswerte Entwicklung. Die drei Hauptsätze der Thermodynamik wurden formuliert und die Grundlagen der Katalyse von OSTWALD systematisch untersucht und für großtechnische Prozesse genutzt. Dass die zugrunde liegenden chemischen Reaktionen sehr oft Gleichgewichtsreaktionen sind, erkannte man frühzeitig. Wie diese Gleichgewichte quantitativ beschrieben werden können und auf welche Weise diese beeinflusst werden können, wurde auch von CATO MAXIMILIAN GULDBERG und PETER WAAGE untersucht.
CATO MAXIMILIAN GULDBERG wurde am 11. August 1836 in Christiania, dem heutigen Oslo (Norwegen), als Sohn eines Buchhändlers und Druckereibesitzers geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt. Da sein Vater zeitweise Minister der norwegischen Regierung war, konnte er seinem Sohn eine gute Ausbildung zukommen lassen. GULDBERG studierte von 1854 bis 1859 Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Christiania. Ab 1860 unterrichtete er als Lehrer für Mathematik an norwegischen Militärhochschulen. Daneben beschäftigte er sich gemeinsam mit seinem Schwager, dem Chemiker PETER WAAGE, mit der Erforschung der „chemischen Affinität“. Darunter verstand man damals die Triebkräfte chemischer Reaktionen und die Möglichkeit ihrer Beeinflussung.
Bereits in ihrer ersten grundlegenden Arbeit formulierten GULDBERG und WAAGE 1864 wichtige Aussagen zur Lage von chemischen Gleichgewichten in Abhängigkeit von den Reaktionsbedingungen Masse und Temperatur. 1867 erkannten sie, dass die Reaktionsgeschwindigkeit proportional zur „aktiven Masse“, also der Zahl der Moleküle pro Volumeneinheit, und damit ihrer Konzentration, ist. Diese Arbeiten blieben jedoch lange Zeit unbeachtet und wurden erst 1877 von OSTWALD und VAN'T HOFF aufgegriffen.
Dadurch in ihren Ergebnissen bestätigt, publizierten GULDBERG und WAAGE 1879 das „Gesetz der Massenaktion“, das später als Massenwirkungsgesetz (MWG) bezeichnet wurde. Es besagt, dass eine Reaktion bei einer bestimmten Temperatur scheinbar zum Stillstand kommt, wenn das Verhältnis aus dem Produkt der Konzentrationen der Reaktionsprodukte und dem Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffe einen konstanten Wert erreicht. In diesem dynamischen Gleichgewichtszustand sind die Geschwindigkeit der Hinreaktion und der Rückreaktion gleich groß. Mit der Formel für die Gleichgewichtskonstante lässt sich die Lage jedes chemischen Gleichgewichts quantitativ beschreiben (Rechenbeispiel 1).
Diese Formel beschreibt auch die „Konzentrationsabhängigkeit“ des chemischen Gleichgewichts. Da bei einer gegebenen Temperatur konstant ist, führt eine Konzentrationsänderung eines Stoffes d azu, dass sich auch die Konzentrationen der anderen Stoffe ändern müssen, damit auch konstant bleibt. So führt eine Konzentrationserhöhung des Ausgangsstoffs A dazu, dass auch mehr Reaktionsprodukte C und D gebildet werden müssen. Verringert man die Konzentration des Reaktionsprodukts C, dann müssen mehr Ausgangsstoffe A und B verbraucht werden.
In beiden Fällen ändert sich der Wert der Konstante und damit die Lage des Gleichgewichts nicht, wohl aber die Ausbeute der Reaktion.
Die Abhängigkeit der Lage des Gleichgewichts von der Temperatur und dem Druck wurde in den Folgejahren von LE CHATELIER und BRAUN untersucht. Sie formulierten 1887 das Prinzip des kleinsten Zwangs, das nur wenig mit dem Massenwirkungsgesetz zu tun hat, da es sich auf qualitative Aussagen beschränkt.
Den quantitativen Zusammenhang zwischen der Gleichgewichtskonstante und der Temperatur entdeckte erst VAN'T HOFF mit der nach ihm benannten Gleichung (Rechenbeispiel 2).
GULDBERG wurde 1867 an die Universität von Christiania berufen und lehrte dort angewandte Mathematik. Neben seinen Arbeiten zum Massenwirkungsgesetz erforschte er die Thermodynamik heterogener Systeme (1870), die Natur von Dissoziationsvorgängen (1872) und den Zusammenhang zwischen dem Siedepunkt von Flüssigkeiten und ihrer kritischen Temperatur (1890). Bereits 1867 – also 19 Jahre vor VAN'T HOFF – konnte GULDBERG ebenfalls weitgehend unbeachtet die ideale Gasgleichung ableiten. Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt er 1877 die Ehrendoktorwürde der renommierten schwedischen Universität von Uppsala. Außerdem war er viele Jahre lang Vorsitzender der norwegischen Gesellschaft der Wissenschaften.
GULDBERG starb am 14. Januar 1902 in seiner Heimatstadt Christiania (Oslo).
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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