Die Ligandenfeldtheorie am Beispiel von oktaedrischen Komplexen

Den besonderen Bindungscharakter der Komplexverbindungen erkannte bereits ALFRED WERNER im Jahr 1893. Er fand heraus, dass Liganden und Zentralteilchen in einer „inneren Sphäre“ miteinander wechselwirken, während die elektrostatische Anziehung zwischen Zentralion und Gegenion in der äußeren Sphäre stattfindet.
Die Komplexbindung zwischen Zentralteilchen und Liganden unterscheidet sich von der gewöhnlichen kovalenten Bindung z. B. dadurch, dass sie auch in wässrigen Lösungen sehr stabil ist. Außerdem können bis zu zwölf Liganden an ein Zentralteilchen gebunden werden, sodass diese über weit mehr als 8 Valenzelektronen verfügen.

Aufbau einer kationischen Komplexverbindung

Aufbau einer kationischen Komplexverbindung

Warum ein Eisen(II)- oder ein Eisen(III)-Ion wie in den Hexacyanoferraten(II) und -(III) jeweils sechs Cyanidliganden L binden kann, ist nicht ohne weiteres verständlich.
Dazu müssen wir uns die Elektronenkonfiguration der Zentralteilchen Z genauer anschauen. Bei den Nebengruppenelementen fallen zunächst die teilweise besetzten d-Energieniveaus (n: Hauptquantenzahl 3, 4, 5) des Zentralatoms oder -ions auf (Bild 2).
Die schrittweise Besetzung der d-Niveaus (auch d-Orbitale genannt) mit insgesamt 10 Elektronen ist für die Nebengruppenelemente charakteristisch. Es stehen aber mit vergleichbarer Energie auch noch andere Niveaus, nämlich die (n + 1)s-Niveaus und die (n + 1)p-Niveaus für die Wechselwirkung mit den Liganden zur Verfügung.
Zentralteilchen sind Ionen oder Atome mit freien Orbitalen, d.h. Elektronenpaarakzeptoren . Liganden sind Ionen oder Moleküle mit nicht bindenden Elektronenpaaren, d. h. Elektronenpaardonatoren .
Die Liganden, die Elektronenpaardonatoren sind, können auch als Lewis-Basen betrachtet werden. Zentralteilchen, die über leere Energieniveaus verfügen, sind dagegen Lewis-Säuren, sodass sie mit den Liganden im Sinne einer LEWIS-Säure-Base-Reaktion wechselwirken.
Während bei Nichtmetallverbindungen wie HCl die Bindung zwischen Wasserstoff und Chlor dadurch zustande kommt, dass jedes der Atome ein Valenzelektron für das s-Bindungselektronenpaar bereitstellt, stammt das Bindungselektronenpaar bei Komplexverbindungen vom jeweiligen Liganden. Diese Bindungsart wird auch als dative oder koordinative Bindung bezeichnet.

Theorien der Komplexbindung

Um die Bindungsverhältnisse in Komplexverbindungen zu erklären, wurden verschiedene Modelle entwickelt:
Bei der Valenzbindungstheorie (VB-Theorie) wird von kovalenten Wechselwirkungen zwischen den Zentralteilchen Z und den Liganden L ausgegangen.
Die Ligandenfeldtheorie stellt anders als das VB-Modell rein elektrostatische Kräfte zwischen den Elektronenpaaren der Liganden und den d-Elektronen des Zentralions in den Mittelpunkt. Sie soll im Folgenden näher erklärt werden.
Außerdem kann die Komplexbindung mit der Molekülorbitaltheorie (MO-Theorie) beschrieben werden. Diese Betrachtung ist jedoch aufgrund der Vielzahl der beteiligten Orbitale sehr anspruchsvoll und mit hohem Rechenaufwand verbunden.

Die Ligandenfeldtheorie

Mithilfe der Ligandenfeldtheorie können die speziellen magnetischen Eigenschaften von Komplexen und ihre Farbigkeit anschaulich erklärt werden. Hierbei werden die elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen den d-Orbitalen des Zentralteilchens und den Elektronenpaaren der Liganden betrachtet.

Elektronenkonfigurationen von Eisen(III)-Komplexen

Elektronenkonfigurationen von Eisen(III)-Komplexen

Die Zentralteilchen in Komplexen sind normalerweise Nebengruppenelemente. Ihre Valenzelektronen besetzen hauptsächlich die fünf d-Niveaus. Die Aufenthaltsräume (Orbitale) der d-Elektronen haben eine unterschiedliche Geometrie. In einem kartesischen Koordinatensystem sind zwei der fünf d-Orbitale (d ( x 2 y 2 ) , d z 2 ) entlang der Achsen und drei der Orbitale d xy , d xz , d yz entlang der Raumdiagonalen ausgerichtet (Bild 3). Die fünf d-Orbitale weisen die gleiche Energie auf, man sagt, sie sind entartet.

Form ausgewählter d-Orbitale

Form ausgewählter d-Orbitale

Die Liganden werden modellhaft als punktförmige negative Ladungen betrachtet, zwischen denen eine elektrostatische Abstoßung wirkt. Die negativen Ladungen können von Anionen (Cl-, CN-) oder von Dipol-Molekülen (H2O, NH3) stammen. Die Liganden stoßen sich deshalb untereinander ab und können sich dem Zentralteilchen des Komplexes nur bei maximaler Entfernung untereinander annähern. Bei sechs Liganden entspricht diese Annäherung genau den Spitzen eines Oktaeders und erfolgt auf den Achsen des kartesischen Koordinatensystems (Bild 4).

Da sich auf den Achsen die Orbitale d ( x 2 y 2 ) und d z 2 des Zentralions befinden, wird es zu einer stärkeren Wechselwirkung der negativ geladenen Liganden mit diesen Orbitalen kommen. Die Wechselwirkung mit den Orbitalen d xy , d xz , d yz , deren Ausrichtung zwischen den Achsen des Koordinatensystems erfolgt, ist geringer.
Die elektrostatische Abstoßung zwischen den Liganden und den Elektronen in den d-Orbitalen entlang der Achsen ist größer als die Abstoßung entlang der Raumdiagonalen. Im oktaedrischen Ligandenfeld bilden sich daher aus den entarteten, d. h. energetisch gleichwertigen fünf d-Orbitalen zwei Gruppen von Energieniveaus. Das Modell geht davon aus, dass die Gesamtenergie aller d-Orbitale durch die Komplexbildung nicht verändert wird.

Die drei Orbitale d xy , d xz , d yz , die als d ε –Orbitale bezeichnet werden, sind energetisch abgesenkt, also stabilisiert. Die zwei Orbitale d ( x 2 y 2 ) und d z 2 , die d γ –Orbitale , werden dagegen energetisch angehoben, also destabilisiert.

Die Annäherung der Liganden an die d-Orbitale ist bei oktaedrischen Komplexen unterschiedlich stark.

Die Annäherung der Liganden an die d-Orbitale ist bei oktaedrischen Komplexen unterschiedlich stark.

Die Energiedifferenz zwischen den beiden Gruppen von Orbitalen ist die Ligandenfeldaufspaltung Δ . Da für die Aufspaltung der d-Orbitale im elektrischen Feld der Liganden insgesamt keine Energie aufgewendet wird, müssen die drei d ε –Orbitale um je 2/5 Δ energetisch abgesenkt und die beiden d γ  –Orbitale um je 3/5 Δ angehoben werden (Bild 5).

Die Ligandenfeldaufspaltung Δ ist abhängig von der Ladung des Zentralteilchens und von der Art der Liganden. Es gibt Liganden, die ein starkes Ligandenfeld, d. h. eine große Aufspaltung erzeugen (CN , CO) und solche, bei denen die Aufspaltung nur gering ist (OH , F ) .
Die Reihung der Liganden mit steigender Ligandenfeldstärke wird als spektrochemische Reihe bezeichnet.

I < CL < Br < F < OH < H 2 O < NH 3 < CN CO Ligandenfeldstärke zunehmend

Die d-Niveaus im oktaedrischen Ligandenfeld werden nun entsprechend dem PAULI-Prinzip und der hundschen Regel mit Elektronen besetzt. Sind drei d-Elektronen vorhanden, werden also die drei niedriger gelegenen d ε –Orbitale mit je einem Elektron besetzt.

Kommt ein viertes Elektron hinzu, so ergeben sich zwei Möglichkeiten, abhängig von der Größe der Ligandenfeldaufspaltung Δ . Ist diese nur klein, ist es energetisch günstiger, zunächst eines der beiden d γ –Niveaus zu besetzen als die Spinpaarungsenergie aufzuwenden, die zur doppelten Besetzung eines Orbitals nötig wäre. In diesem Fall entsteht ein Komplex mit vier ungepaarten Elektronen.
Ist Δ in einem starken Ligandenfeld hoch, so wird dagegen das vierte Elektron unter Spinpaarung in eines der entarteten d ε –Orbitale eingeordnet. Es liegen zwei ungepaarte Elektronen vor.

Diese unterschiedliche Besetzung kann durch magnetische Messungen festgestellt werden. Im ersten Fall wird ein Paramagnetismus von 4 Bohr-Magnetonen ermittelt, was vier ungepaarten Elektronen entspricht. Im zweiten Fall beträgt der Paramagnetismus 2 Bohr-Magnetonen, d. h. es sind zwei ungepaarte Elektronen vorhanden.

Bei 4-7 Elektronen in den d-Niveaus der Metallionen können je nach der Stärke D des Ligandenfeldes Komplexe mit einer unterschiedlichen Anzahl von ungepaarten Elektronen entstehen.
Komplexe, die über eine größtmögliche Zahl von ungepaarten Elektronen verfügen, werden high-spin-Komplexe genannt.
Liegt die Elektronenkonfiguration mit der geringstmöglichen Zahl von ungepaarten Elektronen vor, so werden die entsprechenden Komplexe low-spin-Komplexe genannt.

Früher wurden die high-spin-Komplexe wie FeF6 3- mit einem magnetischen Moment von fünf ungepaarten Elektronen als „magnetisch normal“ bezeichnet, weil sie die gleiche Zahl ungepaarter Elektronen hatten wie das „freie“ nicht komplexierte Ion. Der low-spin-Komplex [Fe(CN)6]3- mit nur einem ungepaarten Elektron wurde daher als magnetisch anormal bezeichnet.

Besitzt das Zentralion 8-10 d-Elektronen, so ist - wie bei 1-3 d-Elektronen - nur eine Elektronenkonfiguration möglich. Es gibt bei diesen Metallionen daher keine Unterscheidung zwischen high-spin- und low-spin-Komplexen.

Farbigkeit von Komplexverbindungen

Eine auffallende Eigenschaft von Komplexen der d-Elemente ist ihre Farbigkeit. Eine Erklärung dafür ist mithilfe der Ligandenfeldtheorie möglich.

Die beobachtete Farbe rührt daher, dass die Lösung aus dem weißen Licht (polychromatischem Licht), mit dem sie durchstrahlt wird, einen bestimmten Wellenlängenbereich absorbiert. Wir sehen dann die entsprechende Komplementärfarbe. So hat der Kupfertetrammin-Komplex sein Absorptionsmaximum bei etwa 600 nm im gelb-orangen Bereich. Die Lösung sieht daher blau aus.

Bild

Die Energie des sichtbaren Lichts liegt im Bereich von etwa 1,5 bis 3,3 eV. In dieser Größenordnung liegt aber nun auch die Energiedifferenz ΔE zwischen den dγ-Orbitalen und den dε-Orbitalen in einem oktaedrischen Ligandenfeld. Durch das absorbierte Licht werden Elektronen in dem Komplexion in ein höheres Energieniveau angehoben. Man kann daher die Lichtabsorption mit der Anregung von Elektronen aus den dε-Orbitalen in die dγ-Orbitale erklären.
Da die Liganden einen Einfluss auf die Größe der Aufspaltung haben, ändert sich mit einem Ligandenwechsel zwangsläufig auch die Farbe.

Ligandenfeldstabilisierungsenergie

Wenn Elektronen in die energetisch abgesenkten d ε –Orbitale eingefügt werden, bedeutet das einen Energiegewinn für das Komplexsystem. Diesen Energiegewinn bezeichnet man als Ligandenfeldstabilisierungsenergie (LFSE).
Beträgt die Aufspaltung beispielsweise 2,3 eV, so ergibt sich für ein Ion mit drei d-Elektronen wie Cr 3+ ein Energiegewinn von 0,4*3*2,3 = 2,76 eV.

Besonders groß ist die LFSE für Komplexe, bei denen nur die energieärmeren d ε –Orbitale besetzt sind, d. h. für Komplexe mit drei d-Elektronen und low-spin-Komplexe mit sechs d-Elektronen. Die entsprechenden Komplexe, zu denen beispielsweise die oktaedrischen Komplexe von Chrom(III) und Cobalt(III) gehören, sind besonders stabil.

Ligandenfeldtheorie bei nicht oktaedrischen Komplexen

Bei Komplexen, die nicht oktaedrisch aufgebaut sind, funktioniert die Ligandenfeldtheorie analog zum oben beschriebenen. Je nach räumlichem Bau des Komplexes sind es unterschiedliche d-Orbitale, denen sich die Liganden besonders stark nähern.
Bei tetraedrischen Komplexen ist es beispielsweise genau umgekehrt wie bei den oktaedrischen Komplexen: Hier treten die Liganden vor allem mit den Orbitalen d xy , d xz , d yz , deren Ausrichtung zwischen den Achsen des Koordinatensystems liegt, in Wechselwirkung. Daraus ergibt sich, dass diese drei Orbitale energetisch angehoben werden, während die Orbitale d ( x 2 y 2 ) und d z 2 auf den Achsen entsprechend im Niveau abgesenkt werden. Die Aufspaltung selbst ist aber geringer als im Oktaederfeld.
Bei quadratisch planaren Komplexen ist es deutlich komplizierter: Durch die Annäherung der Liganden an die d-Orbitale des Zentralions ergeben sich hier insgesamt vier unterschiedliche Energieniveaus für die fünf d-Orbitale.

Die unterschiedlich starke Annäherung der Liganden  führt zur Aufspaltung der d-Energieniveaus im oktaedrischen Ligandenfeld.

Die unterschiedlich starke Annäherung der Liganden führt zur Aufspaltung der d-Energieniveaus im oktaedrischen Ligandenfeld.

Unterschiedliche Besetzung der d-Orbitale bei 4 bis 7 d-Elektronen

Unterschiedliche Besetzung der d-Orbitale bei 4 bis 7 d-Elektronen

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