Kooperation, Affen

Das Leben in der Gruppe hat sich für viele Primatenarten im Gegensatz zur solitären Lebensweise als evolutionsstabile Lebensform etabliert, da für alle Gruppenmitglieder der Nutzen im Durchschnitt größer als die Kosten ist.

Beziehungen zwischen weiblichen Primaten werden durch komplexe Faktoren wie z. B. Rangposition, Verwandtschaftsverhältnis und Alter der Individuen beeinflusst. Im Bemühen, individuellen Zugang zu knappen Ressourcen (z. B. Futter, Fortpflanzungspartner) zu erlangen, kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen Weibchen, deren Ausgang durch verschiedene Verhaltensmuster beeinflusst werden kann. Wie werden diese Konflikte gelöst?

Die Beobachtungen für eine Verhaltensstudie zu dieser Problematik fanden in der Zeit von Juli bis November 1990 statt und werden weiter unten im Text beschrieben.

Steckbrief des Dscheladas (Blutbrustpavian, Theropithecus gelada)

Natürliche Verbreitung des Dscheladas
Der Dschelada oder Blutbrustpavian (Theropithecus gelada) gehört zur Familie der Cercopithecidae. Obwohl die deutsche Bezeichnung Blutbrustpavian auf eine nahe Verwandtschaft zur Gattung Papio (Pavian) schließen lassen könnte, ist der Dschelada der einzige noch rezente Vertreter einer eigenen Gattung Theropithecus, die sich vermutlich im Pliozän vom basalen Papio-Zweig getrennt entwickelt hat.

Das heutige Verbreitungsgebiet des Dscheladas beschränkt sich auf die alpinen, nahezu baumlosen Gras- und Felslandschaften des äthiopischen Amhara-Plateaus nordwestlich von Addis Abeba. In dieser von Nordosten nach Südwesten von ca. 5 000 auf 2 000 m abfallenden Hochebene haben sich wasserreiche Flüsse wie der blaue Nil und der Takase-Fluss in tiefen, cañonartigen Tälern eingeschnitten.

Das Plateau mit seinen gewaltigen steilen Bruch- und hohen Erosionsstufen wird dadurch in große Einzellandschaften geteilt, die nur schwer zugänglich sind. Der Dschelada hat sich an die extremen Klima- und Umweltbedingungen des Hochgebirges gut angepasst. Nachts zieht er sich in die steilen, schützenden Felswände zurück, und tagsüber steigt er in Gruppen auf die Grasflächen des Plateaus hinab, um dort auf Nahrungssuche zu gehen.

Letzte Schätzungen aus den 1970er-Jahren (infolge der über Jahre anhaltenden, instabilen politischen Lage in Äthiopien gibt es keine aktuelleren Untersuchungen) gehen von einem Bestand von ca. 600 000 Tieren aus. Aufgrund der geografisch bedingten Isolation der Dscheladas gilt diese Affenart als besonders bedroht.

Ursachen für die unaufhaltsame Dezimierung des Bestandes sind in erster Linie

  • die fortschreitende Lebensraumzerstörung (landwirtschaftliche Nutzung durch die Bauern),
  • das Bejagen der ausgewachsenen Männchen (die lange Schultermähne der ausgewachsenen Männchen dient bei zeremoniellen Festen als „löwenmähnenartiger“ Kopfschmuck).

Durch die Errichtung von Nationalparks wird zwar versucht, die Restpopulation zu schützen, daraus ergeben sich jedoch Probleme, die die Durchsetzung dieses Zieles erschweren. Die Bauern fühlen sich durch die Errichtung solcher Parks „beschnitten“, sie fühlen sich um ihre traditionellen Landrechte betrogen. Für sie stellen alle Affen eine zerstörerische Plage dar, die die Ernte schädigt und daher beseitigt werden muss. Hinzu kommt, dass in diesem unzugänglichem Gebiet der Einsatz von Schutzpatrouillen fast unmöglich ist. Aufgrund der schlechten ökonomischen sowie sehr unsicheren politischen Situations Äthiopiens sind auch die finanziellen Mittel zur Erhaltung von bedrohten Tierarten sehr begrenzt.

Körpergröße und Aussehen der Dscheladas
Weibchen und Männchen unterscheiden sich bei den Dscheladas sehr stark. Die Männchen sind wesentlich kompakter gebaut und deutlich schwerer (21 kg) als die Weibchen (14 kg). Beide Geschlechter haben sanduhrförmige, nackte Hautstellen an Kehle und Brust. Während bei den Männchen diese Bereiche von weißen Haaren umgeben sind, werden die Hautpartien bei den Weibchen von kleinen, Flüssigkeit enthaltenden Bläschen, auch Vesikel genannt, umrandet, die durch ihre relativ gleichmäßige Anordnung den Eindruck einer Perlenkette hinterlassen und deren Größe sich mit dem Menstruationszyklus ändert. Diese Vesikel sind ein optisches Merkmal für die bevorstehende Ovulation (Eisprung), da sie zu diesem Zeitpunkt durch den hohen Flüssigkeitsanteil am deutlichsten sichtbar sind. Die adulten (= erwachsenen) Weibchen besitzen zusätzlich nackte Hautstellen in Höhe der Schambeine und ventral der Sitzschwielen.

Das ausgewachsene Männchen dagegen zeichnet sich durch eine lange Mähne aus, die besonders im Schulterbereich wie eine Art Mantel herabhängt. Auffallend sind auch seine verlängerten spitzen Eckzähne, mit denen er Raubfeinden und anderen Eindringlingen gefährliche Verletzungen zufügen kann. Die Lebenserwartung eines Dscheladas liegt im Freiland für das Männchen durchschnittlich bei 12,3 und für das Weibchen bei 13,8 Jahren.

Das Männchen erlangt seine Geschlechtsreife mit 6 Jahren, ist aber erst mit 8–9 Jahren voll ausgewachsen. Das Weibchen dagegen ist mit ca. 3,5 Jahren geschlechtsreif (Zeitpunkt der Menarche = 1. Monatsblutung zwischen 3. und 4. Lebensjahr, Zeitpunkt der 1. Geburt: ca. 4. Lebensjahr), hat aber seine körperliche Entwicklung erst mit 6 Jahren voll abgeschlossen.

Schwangerschaft und Geburt

Die durchschnittliche Dauer des Menstruationszyklus eines Dschelada-Weibchens beträgt 34,6 Tage. Eine Schwangerschaft dauert ca. 6 Monate und der Abstand zwischen den Geburten beträgt im Freiland 2,1 Jahre. Im Freiland werden das ganze Jahr über Kinder geboren, allerdings gibt es zwei eindeutige Geburtenpeaks im Juni/Juli und im November/Dezember.

Ernährung

Dscheladas sind hochspezialisierte Grasfresser. Entsprechend der Hauptnahrungsquelle, die zu ca. 90 % aus Gras besteht (bevorzugt Halme, aber auch Samen und Wurzeln), halten sich Dscheladas vorwiegend am Boden auf. In Trockenperioden, in denen die Verdaulichkeit des allmählich vertrockneten Grases um 50 % herabgesetzt ist, weichen Dscheladas auf andere Nahrungsquellen aus. Während dieser Zeit ernähren sie sich überwiegend von Knollen, Wurzeln und zum Teil von Kräutern und Früchten, in Ausnahmefällen sogar von Insekten.

Die Hände der Dscheladas, speziell die Finger, eignen sich hervorragend zum Graben nach Rhizomen (Wurzeln), aber auch zum Selektieren der Nahrung, Kies und Sand wird so nicht aufgenommen. Es werden also die Substanzen vermieden, die eine Abnutzung der Zähne beschleunigen würden.

Da Gras in der Regel schwer verdaulich ist und der Dschelada keine spezifische symbiontische Mikrofauna im Verdauungstrakt aufzuweisen hat, die durch Fermentation für die Aufschließung der Nahrung verantwortlich ist, versucht er mit seinen großen Backenzähnen, die Nahrung so lange zu kauen, bis die Zellwände in kleinere Fragmente zerfallen und somit leichter verdaulich sind. Außerdem muss sehr viel Nahrung aufgenommen werden, um auf diese Weise die reduzierte Nährstoffaufnahme auszugleichen. Dscheladas müssen daher einen Großteil der zur Verfügung stehenden Tageszeit mit der Nahrungssuche und -aufnahme verbringen.

Sozialstruktur

Die Sozialstruktur der Dscheladas wird als 3-Stufen-Gesellschaft beschrieben:

Die kleinste Einheit (1. Stufe) stellt die sogenannte bisexuelle Ein-Männchen-Gruppe („one-male-group“) oder der Harem dar. Größe und Zusammensetzung dieses Harems können stark variieren. Ein adultes Männchen bildet mit durchschnittlich vier reproduzierenden Weibchen (Bandbreite der Anzahl der Weibchen in einem Harem: 1–12) und deren Nachwuchs eine Reproduktionseinheit, die gelegentlich von „followern“ (Nachfolgern) begleitet wird. Bei diesen Nachfolgemännern handelt es sich entweder um sehr junge, geschlechtsreife Männchen, die auf diese Weise versuchen, die Aufmerksamkeit eines Weibchens, das noch nicht geschlechtsreif sein muss, auf sich zu lenken. Nachfolgemänner können aber auch alte Männchen sein, die von dem jetzigen Haremsführer abgelöst wurden und mit einem der Weibchen noch im Sozialkontakt stehen.

Diese „follower“ stehen zwar regelmäßig mit der Reproduktionseinheit im Kontakt, halten sich aber eher an der Peripherie (im Randgebiet der Gruppe) auf und haben in der Regel keinen sexuellen Zugang zu den Weibchen.

Die Ein-Männchen-Gruppen bewohnen kleine Territorien von ca. 1,5–2,5 k m 2 Größe.

Während die Weibchen in ihrer Geburtsgruppe bleiben und somit die matrilineare Stammgruppe bilden, verlassen die heranwachsenden Männchen ihre Geburtsgruppe und schließen sich zu sogenannten „all-male-groups“ oder Junggesellenverbänden zusammen. Sie verbringen einen Großteil der Zeit mit Umherwandern oder aber in der Nähe eines benachbarten Harems. Als junge Adulte (Erwachsene) kehren sie meist in ihre Ursprungsgruppe zurück (damit ist die 2. Stufe = band gemeint), um dort zu einem günstigem Zeitpunkt mit jungen Weibchen einen neuen Harem zu gründen.

Mit zunehmender Größe der Reproduktionseinheit nimmt die Anzahl der Kontakte der einzelnen Tiere zueinander ab, daraus resultiert ein geringerer Zusammenhalt, der zur Aufspaltung der Gruppe führen kann (im Freiland etwa alle 8,5 Jahre).

Zwischen den Gruppenmitgliedern dieser neu entstehenden Ein-Männchen-Gruppen bleiben weiterhin soziale Kontakte bestehen. Miteinander im Kontakt stehende Ein-Männchen-Gruppen schließen sich mit benachbarten „all-male-groups“ zur nächsthöheren Einheit, den „teams“ (Zwischenstufe) zusammen. Mehrere dieser „teams“ bilden eine „band“ (2. Stufe). Die Größe einer solchen „band“ schwankt zwischen 30 und 262 Tieren und ist somit sehr variabel. Der Dschelada-Forscher R. I. M. DUNBAR gibt eine Durchschnittsgröße für die „band“ von 9,8 Reproduktionseinheiten (Harems) und 1,4 „all-male-groups“ (113,5 Tiere) an, die ein gemeinsames Gebiet bewohnen und somit eine ökologische Einheit bilden, da sie Nahrungsplätze und Wasserstellen gemeinsam nutzen. Man geht davon aus, dass die Harems und Junggesellenverbände, die eine „band“ bilden, gemeinsame Vorfahren haben und durch die sich immer wiederholende Aufspaltung von Reproduktionseinheiten entstehen. Verwandtschaftliche Bindungen scheinen also für den Zusammenhalt einer „band“ mit verantwortlich zu sein.

Wenn die Nahrungsressourcen knapp werden, können die „bands“ vorübergehend in ihre Grundbausteine zerfallen: Harems und „all-male-groups“ gehen allein auf Nahrungssuche, bis sich die Bedingungen verbessert haben. Da sich die Lebensräume verschiedener „bands“ häufig überschneiden, kann man in diesen überlappenden Bezirken die Bildung von „herds“ oder Herden (3. Stufe) bis zu 600 Tieren beobachten. Als Herde wird also eine Ansammlung von „one-male-groups“ und „all-male-groups“ verschiedener „bands“ bezeichnet, die keine zeitliche Stabilität aufweist.

Das stabile Element in dieser matrilinearen Dschelada-Sozietät (Weibchen bleiben in ihrer Geburtsgruppe und sind daher miteinander verwandt) bilden die Weibchen. Durch die Stärke ihrer sozialen Bindungen bilden die Weibchen den stabilen Kern der Reproduktionseinheit und sind somit für den Zusammenhalt, aber auch für die Entstehung neuer Harems verantwortlich.

Diese engen Bindungen werden durch die verwandtschaftlichen Beziehungen, den ständigen sozialen Kontakt der Tiere untereinander und den daraus resultierenden langfristigen Vertrautheitsgrad aufrechterhalten. Das Dschelada-Männchen hat im Harem relativ wenig reale Macht und kann meist nur noch auf ablaufende Prozesse reagieren. Sein Aufgabenbereich ist eher an der Peripherie zu finden, er hat eine wichtige Rolle für den Gruppenzusammenhalt, da er bei Auseinandersetzungen unter Umständen schwache Gruppenmitglieder gegen stärkere verteidigt und den Harem vor Eindringlingen zu schützen versucht (siehe dazu auch Video 1).

Gründe dafür, dass das „herding“ (eine Verhaltensweise bzw. Hütetechnik, die v. a. bei Pavianen häufiger zu beobachten ist, wenn adulte Männchen durch Nackenbisse und Jagen versuchen, Weibchen, die sich zu weit entfernen, zusammenzuhalten) bei den Dscheladas sehr selten zu beobachten ist und die Weibchen sich beim versuchten „herding“ des Männchens oft zusammenschließen, um das Männchen gemeinsam zu jagen, können folgendermaßen formuliert werden:

  • periphere Rolle des Haremsführers
  • begrenzter sozialer Zugang des Haremsführers zu den Gruppenmitgliedern seines Harems (Männchen besitzt in der Regel nur zu ein oder zwei Weibchen des Harems ausgeprägten Sozialkontakt, er interagiert zwar mit allen Weibchen, die Intensität ist jedoch sehr unterschiedlich)
  • Weibchen bevorzugen weibliche Sozialpartner, die sie gegen andere Haremsmitglieder und ggf. auch gegen den Haremshalter unterstützen

Die Beziehungen der Weibchen untereinander sind durch eine lineare Dominanzhierarchie charakterisiert, die anhand agonistischer Verhaltensweisen der Weibchen zueinander bestimmt werden kann (= zum agonistischen Verhalten zählt man alle beobachtbaren aggressiven und submissiven bzw. unterwürfigen Verhaltenskategorien*). Unabhängig von dieser Rangordnung unter den Weibchen ist der Haremshalter in der Regel über alle Weibchen dominant.

*Folgende aggressiven Verhaltensweisen wurden bei den Dscheladas beobachtet:

  • Leichte Drohgebärde: Durch Heben der Augenbrauen werden die blassen oberen Augenlider und ein Stück heller Haut darüber sichtbar. Dieses „Brauenziehen“ erfolgt ohne begleitende Mund- oder Körperbewegung.
  • Mittlere Drohgebärde: Das Heben der Augenbrauen wird von einer Öffnung des Mundes begleitet. Dabei werden die Lippen so stark an die Zähne gepresst, dass diese nicht sichtbar sind. Die Öffnung des Mundes kann lautlos oder aber mit spezifischen Drohlauten erfolgen.
  • Starke Drohgebärde: Neben dem Heben der Augenbrauen ist hier das Hochziehen oder Umklappen der Oberlippe zu beobachten. Die Zähne sind deutlich sichtbar. Kommt es zum Umklappen der Oberlippe, so ist die helle Innenseite der oberen Lippe über weite Entfernungen gut zu sehen. Diese Drohgebärde ist meist in einem Verfolgungskontext zu beobachten.
  • Verjagen
  • Jagen
  • Kontaktaggression (Beißen, Schlagen)
     

Submissive bzw. unterwürfige zu beobachtende Verhaltensweisen sind

  • Ausweichen
  • Duckhaltung: Die Aktorin presst ihren Oberkörper oder ihren ganzen Körper gegen den Boden. Sie verharrt bewegungslos und in der Regel stößt sie einen lauten Schrei bei weit geöffnetem Mund aus. Die Augenlider können hochgezogen sein. Die Schwanzhaltung ist meist aufrecht. Im Gesicht können unterschiedliche Reaktionen beobachtet werden: Die Aktorin zieht z. B. die Oberlippe hoch oder klappt sie um. Die Mundwinkel werden dabei nicht zurückgezogen. Der Kiefer kann aber auch weit geöffnet sein, die Mundwinkel stark zurückgezogen, sodass die Oberlippe eine gerade Linie bildet und der Mund dadurch eine dreieckige Form bekommt. Meist folgen Lippen-Zungen-Bewegungen der Aktorin, die eine Beschwichtigungsgebärde darstellen.

Zur Lösung von Konflikten können unterschiedliche Taktiken oder Strategien eingesetzt werden. In dieser Untersuchung werden nur die aggressiven Auseinandersetzungen berücksichtigt. Im Vordergrund des Interesses stehen jene Einmischungen durch Dritte, die man als Unterstützungen bezeichnen würde.

Unter einer Unterstützung wird folgender Verhaltenskomplex verstanden: Ausgangspunkt einer Unterstützung bildet ein aggressiver Konflikt zwischen zwei Individuen. Ein drittes Tier interveniert, indem es einen der konfliktaustragenden Individuen unterstützt. Das könnte folgendermaßen aussehen:

A droht B, C unterstützt darauf hin entweder den Aggressor A oder das Opfer B. Wenn das sich einmischende Tier C den Aggressor A unterstützt, wird diese Allianz auch als Aktor-Allianz bezeichnet.

Wenn dagegen das Tier C Aggressionen gegenüber dem Aggressor A zeigt und somit das Opfer B unterstützt, so wird diese Form der Unterstützung Reaktor-Allianz genannt.

Folgende Problemkreise sollten in dieser Verhaltensstudie näher untersucht werden:

  1. Wie wirkt sich die Rangordnung oder Dominanzhierarchie unter den Dschelada-Weibchen auf die Struktur der Unterstützungen aus?
  2. Inwieweit beeinflusst Verwandtschaft die Bildung von Allianzen?
  3. Unterscheiden sich Allianzen, Koalitionen bzw. Kooperation bei Auseinandersetzungen innerhalb eines Harems von denen zwischen den beiden Harems?

Die Beobachtungen für diese Untersuchung fanden in der Zeit von Juli bis November 1990 statt. Ort der Untersuchung war ein ca. 2 200 Quadratmeter großes Gehege im Tierpark Rheine. Es wurden alle juvenilen (1,5–3,5 Jahre alt), subadulten (3,5–6 Jahre alt) und adulten (ab 6 Jahre) Weibchen der Art Theropithecus gelada, zu deutsch Blutbrustpavian oder Dschelada – dabei handelte es sich um 8 Tiere – einer insgesamt 21 Tiere umfassenden Population beobachtet.

Die Beobachtungsbedingungen


Die Anlage bestand aus einem ca. 600 Quadratmeter großen befestigten Felsgehege, in dem die Dscheladas mit einer größeren Gruppe von Mähnenspringern (Ammotragus lervia) vergesellschaftet waren und sich mit diesen sehr gut arrangierten. Hinzu kam ein wesentlich größeres etwa 1 600 Quadratmeter begrastes Hügelgelände, das nur von den Dscheladas aufgesucht werden konnte, die Mähnenspringer hatten keinen Zugang dazu.

Felsanlage im Tierpark Rheine Petra Schuchardt (aufgenommen im Tierpark Rheine) Grasanlage im Tierpark Rheine Petra Schuchardt (aufgenommen im Tierpark Rheine) Skizze der Dschelada-Anlage im Tierpark Rheine

Die Population bestand aus 21 Tieren, die in 2 Harems lebten.

  • Der Harem I setzte sich aus drei nicht miteinander verwandten Weibchen, ihrem Nachwuchs und dem adulten Männchen zusammen.
     
  • Der Harem II dagegen setzte sich aus zwei Matrilinien mit insgesamt 4 Weibchen zusammen, von denen 3 miteinander verwandt waren. Zusätzlich war diesem Harem eine Junggesellengruppe angegliedert, deren Anführer gleichzeitig „follower-Funktionen“ ausübte. Die Anzahl der potenziellen Interaktionspartner innerhalb des Harems war daher deutlich größer.

Von jedem dieser 8 Weibchen wurden 92 halbstündige Verlaufsprotokolle angefertigt, sodass für die Auswertung insgesamt 368 Beobachtungsstunden vorlagen.

Die Rangordnung oder Dominanzhierarchie der adulten Weibchen war linear und stabil, Rangwechsel wurden in dieser Zeit nicht beobachtet. Die Weibchen beider Harems verbrachten die meiste Zeit mit verwandten Haremsmitgliedern im Körperkontakt oder hielten sich bevorzugt in deren Nähe auf.

Unter verwandten Tieren konnten auch die intensivsten Grooming-Beziehungen beobachtet werden. Im Deutschen spricht man in diesem Zusammenhang von „lausen“ oder „soziale Fellpflege betreiben“; wichtig für das Verständnis ist jedoch, das „groomen“ mehr als nur reines Lausen, sprich die Entfernung von Ungeziefer aus dem Fell des Kontaktpartners, darstellt. Es steht meist in einem sozialen Kontext, wird auch beobachtet, wenn es kein Ungeziefer im Fell des Interaktionspartners gibt, und tritt häufiger zwischen Tieren auf, die sich sozial nahe sind, z. B. zwischen Mutter/Tochter oder aber auch zwischen Haremshalter und bevorzugtem Kontaktweibchen.

In dieser Untersuchung wurden nur die triadischen Unterstützungsformationen (3 Tiere waren beteiligt) ausgewertet, da nur für die Triaden eindeutig festgemacht werden konnte, wer wen gegen ein drittes Individuum unterstützte. Eine Unterstützung wurde nur dann als erfolgreich bezeichnet, wenn dadurch beim jeweiligen Gegner submissives (= unterwürfiges) Verhalten ausgelöst wurde.

Zusammenfassung der Ergebnisse

1. Wie wirkt sich die Rangordnung oder Dominanzhierarchie unter den Dschelada-Weibchen auf die Struktur der Unterstützungen aus?
Während ranghohe Weibchen bei Unterstützungen am häufigsten als Aktoren registriert werden, sind ihnen untergeordnete Weibchen meist Rezipienten der Aggression und die juvenilen (= heranwachsenden) Weibchen überwiegend Nutznießer der Unterstützungen.

2. Inwieweit beeinflusst Verwandtschaft die Bildung von Allianzen?
Bei knapp 50 % aller beobachteten triadischen Auseinandersetzungen handelt es sich um Unterstützungen, in denen Mütter ihren eigenen Nachwuchs unterstützen. Dieser befindet sich dabei meist in der Lage des Opfers und nur selten in der des Aggressors.

Unterstützungen sind wesentlich häufiger als erwartet unter verwandten Tieren zu finden als unter nicht verwandten.

Unterstützungen unter nicht verwandten Individuen werden überwiegend zwischen Weibchen mit einer überdurchschnittlichen Kontakt- und Groomingbeziehung beobachtet. Diese vorliegenden Ergebnisse unterstützen somit das von WILLIAM D. HAMILTON (1936–2000) und JOHN MAYNARD SMITH (1920–2004) formulierte Phänomen der „kin selection“ (Verwandtenbevorzugung), weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass Unterstützungen auch unter nicht verwandten Individuen von Bedeutung sind, sich hier aber eher auf der Basis von Gegenseitigkeit und Vertrautheit ausbilden und eine Verlässlichkeit der Unterstützungspartner voraussetzen. Also auch Bekanntschaft spielt durchaus eine Rolle.

Zusammensetzung des Harems I

Zusammensetzung des Harems I

Zusammensetzung des Harems II

Zusammensetzung des Harems II

Verwandte Haremsmitglieder werden aggressiver unterstützt als nicht verwandte. Nur in Verwandtenallianzen oder aber in Auseinandersetzungen zwischen den Harems wurden Verhaltensweisen wie „Jagen“ oder sogar „Beißen“ gegen andere Haremsmitglieder registriert.

3. Unterscheiden sich Allianzen, Koalitionen bzw. Kooperation bei Auseinandersetzungen innerhalb eines Harems von denen zwischen den beiden Harems?
Unterstützungen innerhalb des Harems (meist eindeutiges „zwei gegen eins“-Verhältnis) sind meist erfolgreich, während Auseinandersetzungen zwischen den Harems trotz vehementer Unterstützung durch Haremsmitglieder häufig ausufern, Gegenaggression hervorrufen und unentschieden ausgehen.

Während es in Intraharemskonflikten (Konflikten innerhalb eines Harems) in 1. Linie um die Aufrechterhaltung bzw. Stabilisierung der Rangposition und die Verteidigung von Jungtieren geht (siehe Video und Bilder 13–17), scheint es in Interharemskonflikten (Konflikten zwischen den beiden Harems) von größerer Bedeutung zu sein, einem Haremsmitglied, das mit fremden Gruppenmitgliedern in einen Konflikt gerät, beizustehen (unabhängig von den Verwandtschafts- oder Rangverhältnissen).

Im Video 1 wird sehr schnell deutlich, wie komplex eine solche Unterstützung aussehen kann, vor allem, wenn mehr als drei Individuen beteiligt sind. Es handelt sich hierbei um eine sogenannte polyadische Allianz (mehr als drei Tiere sind involviert), ausgelöst durch einen Konflikt zwischen den drei Weibchen des G-Clans (Gerda, Gesa und Gertje).

Gesa sitzt mit ihrem Sohn Götz bei ihrer Mutter Gerda, die ihren noch nicht entwöhnten Sohn Gizmo bei sich hat. Götz geht spielen und Gesa sieht, dass ihre jüngere Schwester Gertje sich annähert, vielleicht droht Gertje ihr auch (ist nicht zu erkennen, da sie sich die meiste Zeit außerhalb des Filmausschnitts befindet), Gesa droht Gertje, ihre Mutter Gerda kann das aber nicht sehen. Gertje nähert sich und Gesa greift sie schließlich an. Sie jagt Gertje und beißt sie. Ein heranwachsendes Männchen Max (Spiel- und Kontaktpartner) geht kurz auf Gesa los, um seine Sozialpartnerin Gertje zu unterstützen, zieht sich jedoch sofort zu Clemens zurück, als Gerda eingreift. Jetzt schaltet sich die Mutter ein und unterstützt ihre jüngere Tochter Gertje gegen Gesa. Gerda jagt Gesa, die nur von ihrem Sohn Götz unterstützt wird, der während des ganzen Konfliktes auf ihrem Rücken sitzt. Er unterstützt seine Mutter durch bloße Anwesenheit oder aber durch Drohgebärden, die er – wie seine Mutter – gegen Gerda und Gertje zeigt.

Als Gerda mit Unterstützung ihrer Tochter Gertje nicht mehr von Gesa ablassen und sich die Lage nicht zu beruhigen scheint, schaltet Willi, der Haremsführer, sich ein und geht auf Gerda und anschließend auf Gertje los, um wieder Ruhe in seinen Harem zu bringen. Während des Konfliktes zwischen Gesa und Gerda ist interessant zu beobachten, dass Gertje, als zuerst Bedrohte, sich bei dem Kampf zwischen Mutter und Schwester an den Schwanz ihrer Mutter hängt und durch ihre Unterstützung droht und sich gegen Gesa wendet. Am Ende laufen alle auseinander, Gertje und Gerda sitzen nebeneinander und in einiger Entfernung sitzen Gesa und Götz und fressen. Der Konflikt scheint ausgetragen zu sein. Die Mutter Gerda hat also ihre junge heranwachsende Tochter Gertje gegen ihre älteste Tochter Gesa unterstützt, Willi hat Gesa unterstützt und sich gegen Gerda und Gertje gerichtet. Max hat kurzfristig Gertje unterstützt und nur der kleine Götz war auf der Seite seiner Mutter.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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