- Lexikon
- Biologie Abitur
- 2 Grundbausteine des Lebens
- 2.5 Von Zellen zu Geweben und Organen
- 2.5.3 Vielzeller haben differenzierte Zellen
- Zell- und Gewebekulturtechniken
Pflanzliche und tierische Zellkulturen sind heute nicht nur für die Grundlagenforschung und das Verständnis der Zelle von Interesse. Auch die Züchtung, die Biotechnologie, die Medizin profitieren von ihnen und bereichern sie mit ihren experimentellen Arbeiten. Und sie hegen große Erwartungen in künftige Entwicklungen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es zunächst Botaniker, die sich an die Kultur pflanzlicher Embryonen oder embryonaler Teilorgane wagten. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt zur Zell- und Gewebekultur. Der Pflanzenphysiologe GOTTLIEB HABERLANDT (1854-1945) kultivierte um die Jahrhundertwende Chloroplasten tragende Zellen und farblose Pflanzenhaarzellen über längere Zeit. Zur Teilung konnte er sie jedoch noch nicht veranlassen.
ROSS GRANVILLE HARRISON (1870-1959) und ALEXIS CARREL (1873-1944) nutzten dann Stücke tierischen Gewebes als Primärexplantate. Ihnen gelang dadurch die Etablierung von tierischen Gewebekulturen durch Auswanderung und nachfolgende mitotische Teilung von Zellen. Sie erzielten damit ab 1910 bahnbrechende Ergebnisse in der Züchtung von Gewebekulturen in Nährlösungen außerhalb des Körpers.
Aus diesen Anfängen sind in einem Jahrhundert zahlreiche Verfahren und Techniken zur Kultivierung von Zellen und Geweben hervorgegangen. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt sich das Gebiet in einem rasanten Tempo. Bei nahezu allen Verfahren handelt es sich um die Kultivierung von Pflanzen- und Tiermaterial unter sterilen Bedingungen, in der Regel auf oder in sterilen Nährmedien von manchmal sehr spezifischer Zusammensetzung. Die Verfahren werden mit zum Teil sehr unterschiedlicher Zielstellung angewandt.
Bei Pflanzen unterscheidet man:
- Embryonenkulturen,
- Sprossspitzenkulturen,
- Meristemkulturen,
- Kalluskulturen,
- Einzelzellkulturen sowie
- Protoplastentechnik.
Durch Züchtung kann der Ertrag von Obst- und Gemüsepflanzen gesteigert werden. Es werden sowohl eine höhere Anzahl an Früchten als auch eine gesteigerte Größe der Früchte in kürzerer Zeit erzielt.
Während bei der Embryonen-, Sprossspitzen-, Meristem- und Kalluskultur dem Ausgangsmaterial Organteile oder Gewebekomplexe entnommen und in oder auf das Kulturmedium übertragen werden, zerlegt man im Fall der Einzelzellkultur und Protoplastentechnik das Ausgangsgewebe. Die Zellwand tragenden (Einzelzellkultur) oder von der Wand befreiten Einzelzellen (Protoplastentechnik) werden in Suspensionen oder auf festen Nährmedien mit zahlreichen Zusätzen für weiteres Wachstum und Regeneration kultiviert.
Embryonen-, Sprosspitzen- und Meristemkulturen dienen der klonalen Massenvermehrung von Pflanzen. Die Vermehrung ist unter sterilen Bedingungen und unabhängig vom Freiland möglich. In jedem Fall kann die Generationszeit verkürzt werden. Mit der Embryonenkultur lässt sich überdies die Samenruhe brechen. Die Entnahme von Meristemen (Bildungsgeweben) erlaubt im günstigen Fall auch die Anzucht völlig Bakterien-, Pilz- und vor allem Virus-freien Materials. Aus verschiedenen Explantaten gewonnene Kalli lassen sich unter dem Einfluss von Phytohormonen zu ganzen Pflanzen regenerieren oder als Ausgangsmaterial für Suspensions- oder Einzelzellkulturen verwenden. In Bioreaktoren können solche mit Kalli geführten Suspensionskulturen zur Stoffproduktion genutzt werden. Digitoxin, Digoxin und Codein sind derart gewonnene Wirkstoffe für Arzneimittel.
Bei Pflanzen gelingt die Kultur von Zellen und Geweben, ggf. bis zur vollständigen Regeneration des Organismus aus frühembryonalem und meristematischem Gewebe und wenig differenzierten, noch totipotenten Zellen. Beim Anlegen sowohl pflanzlicher als auch tierischer Zellkulturen ist je nach dem Ausgangsmaterial eine mechanische oder enzymatische Abtrennung von Zellen nötig. Während auf mechanischem Weg nur ohnehin locker miteinander verbundene Zellen, oftmals kombiniert mit der Einwirkung von Enzymen, getrennt werden können, führen Enzympräparate wie Cellulase, Pektinase, Trypsin, Lysozym und Elastase zur Isolierung von fest miteinander verbundenen Zellen.
Eine besonders in den letzten Jahrzehnten intensiv entwickelte Technik ist die der Gewinnung und Kultivierung von pflanzlichen Protoplasten. Wird mittels enzymatischen Abbaus die Zellwand einer Pflanzenzelle entfernt, ist bei geeigneten osmotischen Bedingungen die Isolierung des nur noch vom Plasmalemma umgebenen Zellinneren möglich. Diese als Protoplast bezeichnete „nackte“ Zelle ist die Grundlage vieler Ansätze zur Genübertragung. Erstmals gelang COOKING 1960 die Isolierung und Kultur einer großen Anzahl von Protoplasten aus Gewebe von Tomatenwurzeln mithilfe einer Pilzcellulase.
Zehn Jahre später wurden isolierte Protoplasten fusioniert und damit die Voraussetzungen auch für die somatische Hybridisation geschaffen. 1971 wurden die ersten aus Mesophyllprotoplasten regenerierten Tabakpflanzen vorgestellt. (Aus weiteren Versuchen gewann man die Erkenntnis, dass sich Solanaceen gut für diese Methode eignen. Bei anderen Pflanzenfamilien wie beispielsweise Fabaceen missglückten die Zuchtversuche zunächst.)
Aus einem Gramm Blattfrischmasse der Tabakpflanze können mittels geeigneter pektinolytischer und cellulytischer Enzyme 10 bis 100 Millionen Mesophyllprotoplasten gewonnen werden. Neben dem Zweischritt-Isolierungsverfahren, bei dem zunächst das die Mittellamelle auflösende Enzym (Pektinase) einwirkt und dieses darauffolgend durch ein die Cellulose spaltendes Enzym (Cellulase) ersetzt wird, kommt das Einschritt-Verfahren, bei dem ein Enzymgemisch auf das Gewebe einwirkt, häufig zur Anwendung.
Frisch isolierte Protoplasten sind geeignete Objekte zur Lösung physiologisch-biochemischer Fragestellungen, so bei Permeabilitätsuntersuchungen, Infektionsversuchen und zur Isolierung von Zellorganellen. Teilungs-, Fusions- und aufgrund der Totipotenz auch Regenerationsvermögen haben pflanzliche Protoplasten zu wertvollen Objekten der Genetik und Züchtung werden lassen.
Für tierische Zell- und Gewebekulturen wird als Ausgangsmaterial bevorzugt Material von Vögeln oder Säugetieren genutzt. Bebrütete Hühnereier und aus Versuchstierhaltung stammende Nager liefern das Material. Nicht zuletzt liegt diese Auswahl in den Interessen und Zielstellungen der Humanmedizin begründet. Auch vom Menschen entnommene Gewebe können Ausgangspunkt kontinuierlich vermehrter Zelllinien sein. Die aus dem Gebärmutterkarzinom der 1949 verstorbenen Afroamerikanerin HENRIETTA LACKS angelegte HeLa-Zelllinie wird bis heute in Kultur gehalten und ist in vielen Laboratorien der Welt Untersuchungs- und Testobjekt.
Tierische Zellkulturen können als adhärente (aneinanderhängende) Einzellschichten, sogenannte Monolayer, oder in Suspension gehalten werden. Monolayer bedeutet, dass sich die Zellen an einem verfügbaren Substrat, Glasflächen oder dem Kunststoffboden des Kulturgefäßes anheften und sich erst unter dieser Voraussetzung vermehren und ausbreiten können. Sie sind für die meisten tierischen Zellen die gängige Kultur- und Wuchsform. Von der Anheftung unabhängig wachsen Zellen in Suspensionskulturen.
Vorwiegend die Erfordernisse der Praxis (z. B. Impfstoffe) sowie kommerzielle Aspekte wie die Entwicklung pharmazeutischer Produkte trieben die Entwicklung der tierischen Zell- und Gewebekulturtechniken in den letzten Jahrzehnten voran und haben ihrerseits zu völlig neuartigen Produkten und Prinziplösungen geführt. Die Herstellung antiviraler Impfstoffe, die Vermehrung und Diagnostik von Viren, die Hybridomatechnik zur Erzeugung monoklonaler Antikörper, Wirkstoffprüfungen, Forschungen zu Neubildungen von Geweben und zur Tumorbiologie, die Übertragung isolierten genetischen Materials u.a.m. sind auf Zell- und Gewebekulturen angewiesen. In technischem Maßstab können mit geeigneten Zelllinien oder gentechnisch veränderten Zellen Säugerproteine als Impfstoffe und Medikamente hergestellt werden. Als Beispiel mag die Produktion von Impfstoff gegen die Maul- und Klauenseuche dienen: Jährlich sind im Weltmaßstab etwa 1,5 Milliarden Impfungen an Rindern gegen das Maul- und Klauenseuche-Virus durchzuführen. Der dafür benötigte Impfstoffbedarf ist nur durch großtechnische Produktion zu decken. In Fermentern werden virusinfizierte Hamsternierenzellen (BHK 21-Dauerzelllinien) in Suspensionskultur gehalten. Sie vermehren das Virus, dass in inaktivierter Form als Impfstoff zum Einsatz kommt.
Biotechnisch gewonnen werden auch der Gewebeplasminogen-Aktivator (TPA) zur Behandlung von Thrombosen und Herzinfarkten mithilfe von Epithel- und Fibroblasten-Zelllinien sowie der Faktor VIII zur Behandlung der Bluterkrankheit durch Säugerleber- oder Hamsternierenzellen.
Nicht alle Erwartungen wurden bisher durch die Zell- und Gewebekulturtechniken erfüllt. So ist es bisher nicht gelungen, Nervenzellen in vitro (im Reagenzglas) zur Vermehrung zu bringen.
Die Vorteile, die Zell- und Gewebekulturen bieten, werden einerseits in den definierten und kontrollierbaren Kulturbedingungen und dem geringen Bedarf an Agenzien, andererseits in der Homogenität der Zelllinien nach einigen Kulturpassagen gesehen. In manchen Versuchsreihen können sie Tierexperimente ersetzen oder zumindest die Anzahl der Versuchstiere minimieren. Diesen Vorteilen stehen auch Nachteile gegenüber. Dazu gehören der große Arbeitsaufwand und die hohen Kosten, die z. T. geringen Ausbeuten an Zellen oder von ihnen erzeugten Produkten und die Instabilität kontinuierlicher Zelllinien. Gerade die Instabilität von Zelllinien kann zu Veränderungen führen, die die Eignung der Zellen für bestimmte Fragestellungen und Leistungen infrage stellen. Hauptursache dieser Instabilität sind Abweichungen vom normalen Chromosomen- bzw. Genbestand.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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