- Lexikon
- Biologie Abitur
- 8 Evolution und biologische Vielfalt
- 8.3 Evolutionsfaktoren und ihre Wirkung
- 8.3.2 Die Evolutionstheorie wird weiterentwickelt
- Weiterentwicklung der synthetischen Theorie und alternative Theorien
Neuere Erkenntnisse zeigten, dass auch die synthetische Theorie einer Ergänzung und Erweiterung bedarf. So dürften der Koevolution und der Kooperation eine genau so wichtige Rolle im Evolutionsgeschehen zufallen wie der Konkurrenz. Auch wurden die Beziehungen zwischen Ontogenie und Phylogenie in der synthetischen Theorie nicht ausreichend berücksichtigt. Ebenso gilt dies für die Bedeutung des Verhaltens (von Tieren) auf die Evolution. Die Möglichkeit der Tiere, aufgrund von Wahrnehmungsapparat und Bewegungsfähigkeit aktiv bestimmte Umwelten auszuwählen, hat Rückwirkungen auf ihre genetische Substanz und damit auf ihre Evolution. In besonders starkem Maße gilt dies für den Menschen („Kulturevolution“). Die Evolution selbst ist ein dynamischer Prozess. Es geht nicht darum, dass sich ein Gleichgewicht zwischen Population und Umwelt einstellt, sondern darum, dass ständig wechselnde Bedingungen stetigen Wandel verursachen. Der hierzu notwendige Informationsaustausch betrifft alle Ebenen von den Molekülen über die Gene, Zellen, Individuen und Populationen.
Etwa ab 1970 bekam man durch die Entwicklung der Gelelektrophorese eine neue diagnostische Möglichkeit zur Unterscheidung ähnlicher Proteine. Es zeigte sich dabei eine bisher nicht vermutete Variabilität in Lebewesen. Der Zufall scheint bei der Entwicklung dieser vielen verschiedenen Isoenzyme eine viel größere Rolle zu spielen als man bis dahin angenommen hatte. Offensichtlich breiten sich neutrale oder fast neutrale Mutationen, die vom Filter der Selektion kaum beeinflusst werden, ständig in Populationen aus. Dies veranlasste MOTOO KIMURA (1924-1994) im Jahr 1983, ein im wesentlich auf Diffusionsgesetzen aufbauendes Modell zur Erklärung der Ausbreitung selektiv neutraler Mutationen in natürlichen Populationen zu entwickeln.
Nach der als Soziobiologie bezeichneten Lehre sind nicht die Individuen oder die Populationen, sondern die einzelnen Gene die Einheiten der Evolution. Verschiedene verhaltensbiologische Phänomene wie Altruismus zwischen Verwandten oder Kindstötung bei Rudelübernahme können auf dieser Basis „eigennütziger Gene“ gut erklärt werden. Eine derartige Sichtweise, die auf RICHARD DAWKINS (geb. 1941) zurück geht (1982), kann allerdings zu keinem besseren Verständnis der Entstehung und Weitergabe von Merkmalen führen, die auf Wechselwirkungen zwischen Genen beruhen. Eine solche dynamische Verknüpfung einzelner Gene im Netzwerk des Genoms ist aber die Voraussetzung für die Einheit des Organismus und seines Phänotyps. Trotz Mutationen und Rekombinationen des genetischen Materials stellen Organismen bzw. ihre Phänotypen erstaunlich konstante, manchmal über Jahrmillionen gleichbleibende Systeme dar. Das bedeutet, dass eine spezifische Kombination aus genetischem Material so gut aufeinander abgestimmt ist, dass sie trotz Mutationsdruck, Anpassungsselektion und Zufallsselektion in Millionen von Replikationsprozessen nicht zerstört werden konnte. Dies kann man z. B. damit erklären, dass zu der äußeren Selektion eine innere Selektion hinzu kommt: Innerhalb eines morphologischen oder physiologischen Systems sind nur bestimmte Abänderungen möglich, andere nicht.
Die sogenannte kritische Evolutionstheorie „Frankfurter Schule“ von W.G. GUTMANN und anderen Mitarbeitern des Senckenberg-Museums in Frankfurt betont besonders solche inneren Vorgaben, die der Evolution eine Richtung geben.
Auch die Keimesentwicklung, die Ontogenie der Organismen, wirkt sich über innere Selektion auf Evolutionsprozesse aus. RUPERT RIEDL (geb. 1925) vergleicht das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Selektion mit dem zwischen Betriebs- und Marktselektion bei Wirtschaftsunternehmen.
Im Gegensatz zu den Evolutionstheorien, bei denen das einzelne Gen im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, nennt man die Theorien, bei denen die Wechselwirkungen der Gene besonders beachtet werden, auch Genomtheorien der Evolution. Eine besondere Bedeutung für die Entwicklung solcher Theorien war die Entdeckung von GILBERT 1978, dass die Gene von Eukaryoten gestückelt sind: Sie sind aus vielen einzelnen Abschnitten zusammengesetzt, die durch andere DNA-Abschnitte getrennt werden, die für die Proteinbiosynthese keine Rolle spielen (Exons und Introns). Um aus dem primären Transkriptionsprodukt im Kern eine funktionierende, die Proteinsynthese bewirkende m-RNA zu machen, muss diese RNA weiterbearbeitet werden. Diesen Vorgang nennt man Spleißen (engl. Splicing).
Offensichtlich stehen die einzelnen Exons eines Gens für unterschiedliche Proteinabschnitte, die auch als Domänen bezeichnet werden und die bestimmte Merkmalsträger eines Proteins sind. Sie sind im Durchschnitt nur 30 bis 40 Aminosäuren lang. Rekombination verschiedener Exons innerhalb eines Gens - z. B. durch Crossing over - ist eine zusätzliche Quelle phänotypischer Mannigfaltigkeit, indem sie Domänen neu kombiniert. Aber auch die durch Sexualität und Diploidie schon lange bekannten sehr vielfältigen Rekombinationsmöglichkeiten lassen den Schluss zu, dass bei Eukaryoten Rekombinationsvorgänge für die Evolution wichtiger sind als Mutationen. Möglicherweise waren die meisten Gene schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Evolution - eventuell noch vor Entstehung der Eukaryoten - vorhanden. Später wurde die Evolution vor allem durch die neue Kombination dieser lange erprobten Vererbungseinheiten vorangetrieben. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Menge des genetischen Materials bei höheren Lebewesen statistisch um einen Mittelwert von Basenpaare (Mensch: 3 x ) schwankt, auch wenn vereinzelt sehr viel höhere Werte vorkommen.
Birkenspanner: Der dunkle Falter ist eine Mutationsform.
Während DARWIN und seine frühen Nachfolger eine allmähliche (graduelle) Veränderung der Organismen annahmen, wurde von den Wiederentdeckern der mendelschen Regeln zum ersten Mal die These vertreten, dass Erbsprünge, große Mutationen, für die wichtigen Veränderungen im Laufe der Evolution verantwortlich waren. Diese „Saltationstheorie” wurde von Paläontologen aufgrund der Fossilfunde noch prägnanter formuliert. Großmutationen sollten die großen Abstände im Organismenreich, z. B. zwischen den einzelnen Stämmen des Tierreiches, bewirkt haben (E. SCHINDEWOLF). Durch den sogenannten Punktualismus (z. B. S.J. GOULD) wurde die Saltationstheorie spezifiziert: Nach GOULD kennt die Evolution Phasen, in denen sie besonders schnell voran schreitet, die dann wieder von Phasen der Stagnation abgelöst werden. J. REICHHOLF versuchte dies mit einem Wechselspiel von Überfluss und Mangel zu erklären. Der Überfluss eines Stoffes, z. B. eines Stoffwechselendproduktes wie Calciumcarbonat, führt zur Evolution völlig neuer Strukturen (z. B. Knochenplatten und Skelett). Mangel führt demgegenüber zur Herausbildung von Vielfalt (adaptive Radiation).
CHARLES DARWIN (1809-1882)
Vererbung erworbener Eigenschaften (Lamarckismus)
Der entscheidende Unterschied zwischen den Evolutionstheorien von LAMARCK und DARWIN war, dass LAMARCK die Vererbung erworbener Eigenschaften für möglich hielt. DARWIN hatte diese Möglichkeit nicht völlig ausgeschlossen. Sie wurde aber dann von seinen Nachfolgern, insbesondere von WEISMANN (1882), dogmatisch abgelegt. Dieses Dogma haben auch die Vertreter der synthetischen Theorie übernommen. Alle Evolutionstheorien, die eine Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften in Betracht ziehen, werden als „Neolamarckismus“ bezeichnet. In der UdSSR wurden neolamarckistische Ideen von MITSCHURIN gefördert und später von LYSSENKOW wieder belebt.
LYSSENKOW wurde von der sozialistischen Partei der Sowjetunion, insbesondere unter STALIN und CHRUSTSCHOW, gefördert. Später aber wurden seine angeblichen Forschungsergebnisse als Betrug entlarvt F. SCHMIDT betont in seiner „kybernetischen Evolutinstheorie“ ebenfalls die Wechselwirkung von Umwelt und Organismus, die im Ergebnis ähnlich funktionieren soll wie die Vererbung erworbener Eigenschaften. Z. B. wird von ihm die Möglichkeit erwogen, dass zweckgerichtete Gene im Gehirn als eine Art Gedächtnisstoff erzeugt werden und in die Keimzellen übergehen. Solche Rückkopplungsmechanismen werden auch schon für einfachste Lebewesen angenommen, doch sollen sie mit der Differenzie-rung der Organismen zunehmen. Es gibt jedoch keine eindeutigen Befunde, die eine solche Hypothese rechtfertigen.
Einen weitere, außerhalb der derzeit anerkannten Wissenschaftstheorien liegende Hypothese wird von RUPERT SHELDRAKE vertreten. Nach ihm werden alle Formen in der Natur - anorganische wie organische - durch „morphogenetische Felder“ bestimmt, die eine Art „Gedächtnis der Natur“ darstellen. Durch morphogenetische Resonanz steht jedes Individuum bzw. jede Form mit diesen Feldern in Verbindung. Je mehr Einzelformen, desto stärker wird das morphogenetische Feld. „Die natürliche Auslese spielt gewiss eine bedeutende Rolle. Aber sie ist nicht ... die große schöpferische Kraft, Formprinzipien werden den Lebewesen nicht von außen aufgezwungen, sondern sie sind in ihnen selbst...“ formuliert SHELDRAKE. Auch für diese Hypothese gibt es bisher keine Beweise.
Schließlich spielt nach wie vor - vor allem in den Vereinigten Staaten - der sogenannte Kreationismus eine wichtige Rolle. Dieser mit wissenschaftlichen Argumenten untermauerte Schöpfungsglaube gründet sich auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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