Die Gaia-Hypothese: Die Erde ist ein Organismus

„Als wir die Gaia-Hypothese in den 70er Jahren vorstellten, gingen wir davon aus, dass sich die Atmosphäre, die Meere, das Klima und die Erdkruste auf Grund der Verhaltensweise von lebenden Organismen so regulieren, dass Leben möglich ist. Genauer ausgedrückt besagt die Gaia-Hypothese, dass die Temperatur, der Oxidationszustand, der Säuregehalt und bestimmte Aspekte von Gesteinen und Gewässern zu jeder Zeit konstant bleiben und dass sich diese Homöostase durch massive Rückkopplungsprozesse erhält. Diese Prozesse werden von der Lebenswelt unwillkürlich und unbewusst in Gang gesetzt. Für die geeigneten Lebensbedingungen sorgt die Sonnenenergie. Die Bedingungen bleiben allerdings nur kurzzeitig konstant. Sie entwickeln sich entsprechend den wechselnden Erfordernissen in einer Welt von Lebewesen, die sich ebenfalls entwickeln. Leben und seine Umgebung sind so eng miteinander verflochten, dass die Evolution immer Gaia betrifft und nicht die Organismen oder deren Umgebung für sich genommen.“ (LOVELOCK, J.E.: Das Gaia-Prinzip. Die Biografie unseres Planeten. Artemis und Winkler, Zürich/München 1991, S. 43)

Der Physiker, Chemiker und Ingenieur JAMES LOVELOCK (geb. 1919) arbeitete seit den frühen 60er Jahren für die Weltraumforschung der NASA. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten konzentrierte sich darauf, wie man auf Grund der Analyse der Oberflächen und Atmosphären von Planeten eventuell feststellen könnte, ob es auf diesen Planeten Leben gibt oder nicht. Auf Grund der sehr unterschiedlichen Zusammensetzung der Erdatmosphäre und der Atmosphären von Venus und Mars sowie der mutmaßlichen Zusammensetzung der Erdatmosphäre heute, wenn auf der Erde nie Leben existiert hätte, formulierte LOVELOCK den Ausgangspunkt seiner Hypothese.

Zwar wurden ähnliche Gedanken schon viel früher geäußert, zu Beginn des 20. Jahrhunderts z. B. von dem Ukrainer WLADIMIR GALAKTIONOWITSCH KOROLENKO (1853–1921) und seinem Cousin WLADIMIR WERNADSKIJ (1863–1945). Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, 1785, hatte der schottische Naturwissenschaftler JAMES HUTTON (1726–1797) die Ansicht geäußert, dass die Erde ein riesiger Organismus sei und eigentlich von Physiologen erforscht werden müsste. Sein Argument war der Kreislauf der Stoffe in der Atmosphäre, im Ozean und im Boden, den er mit der Zirkulation des Blutes im Körper verglich.

Diese Vorgänger waren LOVELOCK nicht bekannt, als er seine Hypothese 1972 zum ersten Mal formulierte. Er ging davon aus, dass die Zusammensetzung der Atmosphäre und der Meere, das Klima und die Erdkruste auf Grund der Verhaltensweisen von lebenden Organismen so reguliert werden, dass Leben möglich ist. Dies wird nach LOVELOCK durch Rückkopplungsprozesse erreicht. Dabei heißt „Gleichgewicht“ (Homöostase) in diesem Zusammenhang nicht, dass alles konstant bleibt, im Gegenteil: Die ständige Evolution der Lebewesen und der ganzen Biosphäre sind Teil dieser Homöostase. Die lebenden Bestandteile der Biosphäre ändern sich im Laufe der Erdgeschichte, dabei tragen sie aber ständig dazu bei, dass insgesamt für das Leben günstige Bedingungen aufrechterhalten werden. Auch plötzlich durch Katastrophen – z. B. einem Meteoriteneinschlag – bedingte drastische Veränderungen können allmählich wieder ausgeglichen werden.

Seine Untersuchungen über die Zusammensetzung und die Stoffkreisläufe in der Biosphäre brachten LOVELOCK auf einen bis dahin nicht bekannten Zusammenhang. Im Phytoplankton und in den Makroalgen der Meere kommt in erheblichem Maße Dimethylsulfonpropionat vor. Dieses schwefelhaltige Betain hilft den Lebewesen vermutlich, Salzkonzentrationen und Salzkonzentrationsschwankungen zu ertragen. Wenn Algen absterben, zerfällt das Dimethylsulfonpropionat rasch in Acrylsäure-Ionen und Dimethylsulfid. Es konnte nachgewiesen werden, dass auf diese Weise vor allem über den offenen Meeren der Südhalbkugel große Mengen Dimethylsulfid in die Atmosphäre abgegeben werden. Bei der raschen Oxidation des Dimethylsulfids in der Atmosphäre entstehen über dem Meer Kerne, die für die Kondensation von Wasserdampf zur Wolkenbildung gebraucht werden. Es ist naheliegend, dass jegliche Einwirkung auf die Wolkendecke über den Meeren das Klima großflächig stark beeinflussen kann, da sie die Sonneneinstrahlung hemmt. So ergibt sich folgender Regelmechanismus:
Je höher die Sonneneinstrahlung, desto mehr Algen entwickeln sich und desto mehr Dimethylsulfid wird an die Atmosphäre abgegeben. Dieses Dimethylsulfid führt zur Wolkenbildung. Damit wird die Sonneneinstrahlung gebremst und das Algenwachstum ebenso. So kommt es zu weniger Dimethylsulfidbildung, die Wolkenbildung geht zurück und die Sonneneinstrahlung wird wieder stärker usw. Viele ähnliche Rückkopplungsprozesse werden vermutet oder konnten auch schon nachgewiesen werden.

Um seine Vorstellungen von den selbstregulativen Kräften Gaias einem breiten Publikum verständlich zu machen entwickelte LOVELOCK das Modell „Daisy-World“:

„Stellen Sie sich einen Planeten von der Größe der Erde vor, der sich um seine Achse dreht und sich in demselben Abstand wie die Erde um einen Stern von der Masse und Leuchtkraft der Sonne bewegt. Dieser Planet unterscheidet sich von der Erde lediglich darin, dass er eine größere Landfläche und weniger Meer hat. Die Wasserversorgung ist jedoch gut und es wachsen fast überall auf dem Lande Pflanzen, wenn das entsprechende Klima herrscht. Dieser Planet ist Daisy-World, so genannt, weil seine hauptsächliche Pflanzenart Gänseblümchen in den verschiedensten Farben sind: einige sind dunkel, andere hell, wieder andere haben eine unbestimmte Farbe irgendwo dazwischen. Der Stern, der Daisy-World mit Wärme und Licht versorgt, weist wie unsere Sonne die Eigenschaft auf, dass sich seine Wärmeentwicklung mit den Jahren verstärkt. Als sich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren auf der Erde Leben zu entwickeln begann, war die Leuchtkraft der Sonne noch um 30 % geringer als heute. In ein paar weiteren Milliarden Jahren wird es auf der Erde so glühend heiß sein, dass alles Leben, das wir kennen, erlischt, oder sich einen neuen Heimatplaneten suchen muss. Die mir ihrem Alter zunehmende Strahlungsintensität der Sonne ist ein allgemeines, unbestrittenes Phänomen von Sternen. Wenn ein solcher Stern Wasserstoff (seinen nuklearen Brennstoff) verbrennt, sammelt sich Helium an. Helium lässt in Gestalt von gasförmiger Asche weniger Strahlungsenergie durch als Wasserstoff und hemmt auf diese Weise den Hitzestrom von dem nuklearen Schmelzofen im Zentrum des Sterns. Dort steigt die Temperatur an, wodurch wiederum mehr Wasserstoff verbrannt wird. Das geht so lange, bis sich ein neues Gleichgewicht zwischen der im Sternzentrum erzeugten und der von der Sonnenoberfläche abgestrahlten Hitze herausgebildet hat. Im Unterschied zu einem normalen Feuer verstärkt sich die Hitze bei nuklearen Bränden in der Größenordnung von Sternen mit der Zunahme der Asche. Manchmal explodiert ein solcher Stern. Daisy-World ist vereinfacht in bestimmter Weise sicherlich auch reduziert. So beschränkt sich die Umgebung auf eine einzige Komponente, die Temperatur, und die Lebenswelt auf eine einzige Art, die Gänseblümchen. Unterhalb einer Temperatur von 5 °C können Gänseblümchen nicht wachsen. Am besten gedeihen sie bei etwa 20 °C. Eine Temperatur über 40 °C ist zu heiß für sie. ... Die Kohlendioxidmenge in Daisy-World wird als Konstante vorausgesetzt. Sie soll groß genug sein, dass die Gänseblümchen wachsen können aber nicht so groß, dass sie das Klima beeinträchtigt. Desgleichen soll die Einfachheit des Modells nicht durch eine Tagesbewegung gestört werden. Regen fällt nur während der Nachtzeit. Die mittlere Temperatur im Reich der Gänseblümchen wird also ganz einfach durch die durchschnittliche Farbschattierung des Planeten bestimmt, durch sein Albedo. ... Bei einer dunklen Tönung oder niedriger Albedo absorbiert der fiktive Planet mehr Wärme aus dem Sonnenlicht und heizt sich an der Oberfläche auf. Bei heller Farbe ... werden möglicherweise 70 bis 80 % des Sonnenlichts in den Weltraum zurückgestrahlt. ... Die Albedos schwanken zwischen 0 (ganz schwarz) und 1 (ganz weiß). Dem unbedeckten Boden Daisy-Worlds wird ein Albedowert von 0,4 zugeordnet, so dass 40 % des darauf fallenden Sonnenlichts absorbiert werden. Die Farbtönung der Gänseblümchen reicht von dunkel (Albedo 0,2) bis hell (0,7).
Versetzen Sie sich zurück in Daisy-Worlds graue Vorzeit. Die Wärmestrahlung des Sterns war damals noch geringer, so dass nur in der Äquatorregion am Boden eine mittlere Temperatur von 5 °C herrschte, die ein Wachstum ermöglichte. Hier sprossen und blühen langsam die Gänseblümchen. Nehmen wir an, dass in der ersten Wachstumsperiode die bunten wie die hellen und dunklen Arten in gleichem Maß vertreten waren. Noch ehe die Blütezeit aber vorüber war, sah man die dunklen schon in der Überzahl. Auf Grund ihrer höheren Sonnenlichtabsorption erwärmten sie sich an ihren Standorten auf über 5 °C. Die hellen Gänseblümchen dagegen gerieten ins Hintertreffen. ... In der nächsten Blütezeit hatten die dunklen Gänseblümchen bereits einen deutlichen Vorsprung. ... Bald schon wärmte ihr Vorhandensein nicht nur sie selbst. Während sie wuchsen und sich auf dem blanken Untergrund ausbreiteten, erhöhte sich auch die Temperatur des Bodens und der Luft – erst in einigen Orten, dann in der ganzen Region. ... Während der Stern, der über Daisy-World strahlt, älter und heißer wird, verschiebt sich das Verhältnis von dunklen zu hellen Gänseblümchen immer weiter. Schließlich aber ist die Strahlung so groß, dass auch die weißeste Blumenpracht die Temperatur des Planeten nicht mehr unter der kritischen Wachstumsmarke von 40 °C halten kann. An diesem Punkt reicht die Flower-Power nicht mehr aus, der Planet beginnt wieder zu veröden und die Hitze ist so stark, dass sie den Gänseblümchen keinen erneuten Start ins Leben gestattet.“

Wie deutlich wird, kommt es bei diesem einfachen Modell zu einem lange anhaltenden, konstanten Temperaturwert auf der Erdoberfläche, obwohl sich die Einstrahlung ständig erhöht. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation sieht LOVELOCK als das entscheidende Merkmal des Lebens an. LOVELOCK nimmt an, dass auf der Erde kurz nach ihrer Entstehung mehr oder weniger zufällig ein kurzer Zeitraum existierte, in dem für das Leben oder für die Lebensentstehung günstige Bedingungen herrschten. Das sich dann explosionsartig entwickelnde Leben nahm nun starken Einfluss auf die weitere Entwicklung der Erde und die beschriebenen Netzwerke und Rückkopplungen entstanden. Sie führten dazu, dass sich die Biosphäre über viele Jahrmillionen und sogar Jahrmilliarden in einem mehr oder weniger konstanten Milieu halten konnte.

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