Christiane Nüsslein-Volhard

Leben und Wirken

Ich wurde während des Krieges geboren, am 20. Oktober 1942, als das zweite von fünf Kindern. Mein Vater, ROLF VOLHARD, war ein Architekt. So beginnt CHRISTIANE VOLHARD ihre Autobiografie, geschrieben zur Nobelpreisverleihung 1995. In Madgeburg zur Welt gekommen, wuchs sie in Frankfurt am Main auf in einer Wohnung mit Garten und einem nahe gelegenen Wald. Ihr Elternhaus beschreibt sie als musisch, Vater wie Mutter spielten verschiedene Instrumente und malten. Ihre Geschwister ergriffen später durchweg künstlerische Berufe.

CHRISTIANE interessierte sich früh für Pflanzen und Tiere und fühlte sich zu den Naturwissenschaften hingezogen. Sie versorgte den Garten, hielt einige Haustiere und erwarb sich das nötige Wissen aus Büchern. Mit 12 Jahren stand ihr Berufswunsch fest: sie wollte Biologin werden. Sie hatte viele Interessen, aber besonders horchte sie auf im Biologieunterricht bei Genetik, Evolution und Verhaltensforschung – das waren die Themen, die später ihren Berufsweg bestimmen sollten.

1962, im Jahr, in dem JAMES WATSON (*1928) und FRANCIS CRICK (1916-2004) den Nobelpreis erhielten, schrieb sich CHRISTIANE an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität für Biologie, Physik und Chemie ein. Später wechselte sie nach Tübingen und belegte dort das noch junge Fach Biochemie. Ihr Diplom erlangte sie 1968 am Tübinger Max-Planck-Institut für Virusforschung, 1973 promovierte sie an der Universität Tübingen und begann 1975 mit ihren Forschungen über biologische Gestaltbildung.

Diese begann sie 1975 bis 1976 im Labor von Prof. Dr. WALTER GEHRING am Biozentrum in Basel und führte sie weiter 1977 im Labor von Dr. KLAUS SANDER an der Universität Freiburg. Von 1978 bis 1981 leitete sie eine Arbeitsgruppe am Europäischen Labor für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg, danach (1981-1984) betrieb sie Forschungen am FRIEDRICH-MIESCHER-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in Tübingen. 1985 schließlich wurde CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD wissenschaftliches Mitglied der MPG und leitet seit diesem Jahr die Abteilung Genetik im Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen.

Erste Auszeichnungen erhielt die Forscherin 1986, so den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1989 die Carus Medaille der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina, 1991 den Lasker Award und 1995, zusammen mit den Amerikanern EDUARD B. LEWIS (1918-2004) und ERIC F. WIESCHAUS (*1947), der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie.
Diese höchste wissenschaftliche Auszeichnung würdigte ihre Forschungsarbeit an Mutanten der Taufliege Drosophila melanogaster. CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARDs, zusammen mit ERIC F. WIESCHAUS, am EMBL in Heidelberg begonnene Untersuchungen galten der Kernfrage der Entwicklungsbiologie „Wie bilden sich Muster aus? Wie entstehen aus einer einfach strukturierten Eizelle verschiedenartige Zellen?“ Durch Ausschaltung bestimmter Gene gelang es, Faktoren zu identifizieren, die die Entwicklung des Fliegenorganismus maßgeblich steuern.

Seit Mitte der 1980er-Jahre steht auch der Zebrafisch im Mittelpunkt ihres Interesses. Dabei erwiesen sich die Tübinger Genforscher um CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD auch bei der Namensgebung äußerst kreativ. Ungewöhnliche Bezeichnungen, abgeleitet vom Phänotyp der erzeugten Mutanten, hielten Einzug in die sonst nüchterne Wissenschaftssprache. So taufte man Gene nach mutanten Larvenformen der Drosophila, die Ähnlichkeit zu langen dünnen Objekten hatten, spätzle und nudel, Mutanten des Zebrafischs mit farblosem oder blassem Blut erhielten Namen wie riesling, cabernet, pinotage, merlot, freixenet und chardonnay.

CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD, Mitglied der Royal Society in England und der National Academy, versteht sich als Grundlagenforscherin. Seit 2001 gehört sie dem nationalen Ethikrat der Bundesregierung an. Ihre Meinung ist gefragt, denn „Ergebnisse auf dem Gebiet der Embryologie und Genetik eröffnen prinzipiell neue Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Leben des Menschen“. Ihre 2003 und 2004 veröffentlichten Bücher geben eine Einführung in die wichtigen Vorgänge der Embryonalenentwicklung mit besonderem Schwerpunkt der Rolle der Gene bei der Steuerung der Entwicklung. Sie nimmt darin auch Stellung zu aktuellen Problemen der Gen- und Embryonalforschung.

Wissenschaftliche Leistungen: Bedeutung für die Genforschung

„Obwohl ich als Molekularbiologin viele Erfahrungen gesammelt hatte, langweilte mich mein Projekt nach der Fertigstellung der Doktorarbeit“, so CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD in ihrer Autobiografie, ich sah mich um nach einem Organismus, bei dem sich genetisches Wissen auf Fragen der Entwicklung anwenden lässt, und entdeckte Beschreibungen von Drosophila-Mutanten“. Die Verbindung von Genetik und Entwicklungsbiologie wurde zum bestimmenden Thema der jungen Forscherin.

Zusammen mit ihrem Kollegen WIESCHAUS untersuchte sie die Entwicklung von Fliegenembryonen und war von dieser Arbeit begeistert. „Ich liebte meine Arbeit mit den Fliegen. Sie faszinierten mich und verfolgten mich bis in meine Träume.“ Mithilfe neuer Techniken suchten sie und WIESCHAUS systematisch nach Fliegenstämmen, bei denen einzelne Gene verändert waren (Mutanten). Sie untersuchten die Auswirkungen auf die Fliegenembryonen der nächsten Generation – den Phänotyp – aus dem sich wichtige Schlüsse über die Funktion einzelner Gene ziehen ließen.

Insgesamt untersuchte das Forscherteam die Fehlbildung der Larven von mehr als 20 000 unterschiedlichen mutanten Linien. Dadurch konnten insgesamt 120 Gene entdeckt werden, die für die Bildung des normalen Larvenkörpers unabdingbar sind.

Die Entwicklungsbiologie beschäftigte sich seit den 1920er-Jahren intensiv mit der Frage, wie aus einer einfachen Zelle ein kompletter Organismus entsteht, dessen Einzelteile perfekt aufeinander abgestimmt sind. Dem Biologen HANS SPEMANN (1869-1941) gelang dabei die wohl aufregendste Entdeckung. Der spätere Nobelpreisträger (1935) experimentierte mit Amphibien-Eiern und stellte bei Transplantationen von embryonalem Gewebe fest, dass die Entwicklung des Transplantats von der Wirtsumgebung mitbestimmt wird. Offen blieb jedoch die Frage, welche stofflichen Grundlagen diese Ausprägungen steuern.

Erst CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD gelang die Aufdeckung dieses Funktionsmechanismus. Bei ihren Arbeiten mit dem „Modellorganismus der Genetik“, der Drosophila, entdeckte sie, dass über die Fliegenmutter in der Eizelle Substanzen platziert werden, die sich von einer Quelle am vorderen Ende nach hinten ausbreiten (diffundieren). Das dabei entstehende Konzentrationsgefälle bewirkt die Übersetzung unterschiedlicher Quantitäten einer solchen Substanz in unterschiedliche Qualitäten von Zellen. Dabei werden durch unterschiedliche Konzentrationen verschiedene Gene an- oder abgeschaltet. Mechanismen wie Gradienten und Signalübertragungsketten, deren biochemische Komponenten durch Gene bestimmt sind, bewirken so die genetisch vorbestimmte Gestalt des Fliegenembryos.

Seit Mitte der 1980er-Jahre weitete CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD ihre Versuche auf den Zebrafisch aus, der als Wirbeltier weitaus komplexer als die Taufliege aufgebaut ist und dem menschlichen Organismus näher steht. 1992 wurde in Tübingen ein Fischhaus mit 7 000 Aquarien eingeweiht. Bis 1995 konnten 1 200 Zebrafisch-Mutanten isoliert werden, es entstand eine der umfassendsten genetischen Datenbanken eines Wirbeltiers. Die Auswertung der Experimente ergab überraschende Parallelen: Die Entwicklung des Zebrafischs wird durch analoge biochemische Prozesse gesteuert wie die Embryogenese bei der Taufliege.

Hinsichtlich der Anwendungen ihrer Forschungen auf die Humanmedizin bleibt CHRISTIANE NÜSSLEIN-VOLHARD skeptisch. Die Entwicklungsvorgänge beim Menschen sind um vieles komplizierter, auch wenn sich in der Grundstruktur Ähnlichkeiten mit der Taufliege und dem Zebrafisch ergeben. Das biotechnisch Machbare unterliegt der ethischen Normsetzung einer Gesellschaft, „die Wissenschaft kann aber Auskunft geben über Grade, Stufen der Entwicklung und vielleicht auch Empfehlungen aussprechen“.

Wissenschaftliche Preise / Ehrungen / Mitgliedschaften (Auswahl)

Leibnizpreis (1986)
Albert Lasker Medical Research Award (1991)
Nobelpreis für Medizin oder Physiologie (1995)
Pour le mérite (1997)
Mitglied der Royal Society London (1990)
Mitglied der National Academy of Sciences Washington (1990)
Mitglied der Leopoldina (1991)

Aktuelle Veröffentlichungen (Auswahl)

Nüsslein-Volhard, C.:„Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern“, C. H. Beck Verlag, München 2004; 210 Seiten
Nüsslein-Volhard, C. : „Von Genen und Embryonen“, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2004

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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