Der Begriff Bionik wurde 1958 auf einem Kongress in Dayton/Ohio vom amerikanischen Luftwaffenmajor J.E. STEELE geprägt. Er sollte das „Lernen aus der Natur für die Technik“ kennzeichnen. Oder, wie der deutsche Vorreiter der Bionik, WERNER NACHTIGALL (*1934), es formulierte: Lernen von der Natur für ein eigenständiges technisches Gestalten.
Wenngleich der Begriff neu war, bezeichnete er doch nur eine seit Jahrhunderten immer wieder versuchte Verfahrensweise. Schon das Allroundgenie LEONARDO DA VINCI (1452–1519) entwarf um das Jahr 1500 eine Reihe von Flugapparaten nach dem Vorbild von Vogelschwingen und den rotierenden Samen des Ahornbaums. Bis sich jedoch ein Mensch mit Flügel ähnlichen Konstruktionen tatsächlich in die Luft erhob, sollte es noch rund 400 Jahre dauern, denn DA VINCIs Apparate waren nicht flugtüchtig. Zu sehr beruhten sie noch auf einer bloßen Nachahmung des natürlichen Vorbilds, ohne Berücksichtigung von fundamentalen physikalischen Gesetzen.
Hätte IKARUS, der „fliegende Mensch“ der griechischen Mythologie, die wichtigsten Prinzipien der heutigen Bionik gekannt, wäre er vielleicht nicht abgestürzt. Der Sage nach schmolzen dessen genau nach dem Vorbild des Vogelflügels konstruierten Flügel aus Federn und Wachs, weil er der Sonne zu nahe kam, und ließen ihn abstürzen. Und auch in der Realität waren viele Jahrhunderte hindurch die Versuche des Menschen, die Natur zu kopieren, meist zum Scheitern verurteilt. Zwar gibt es Ausnahmen wie den Kunststoffschwamm oder den Klettverschluss, die auf einer rein morphologischen Nachahmung beruhen – doch die Regel sind sie nicht.
Für WERNER NACHTIGALL, den renommiertesten deutschen Bioniker ist die Ursache dafür klar: „Die Natur liefert keine Blaupausen für die Technik. Die Meinung, man bräuchte die Natur bloß zu kopieren, führt in eine Sackgasse.“ Ähnlich formuliert es auch der Engländer JULIAN VINCENT: „Eine exakte Kopie der Natur wäre unklug, denn die Natur ist nicht nur unglaublich komplex, in ihr herrschen auch völlig andere Bedingungen.“
Bioniker stehen daher vor der Herausforderung, erst einmal zu verstehen, welche physikalischen Prinzipien hinter einer erfolgreichen natürlichen Konstruktion stecken. Wer fliegen will wie ein Vogel, muss zunächst analysieren, warum der Vogel überhaupt fliegen kann. Erst dann kann die daraus gewonnene Erkenntnis in eine technische Struktur umgesetzt werden. „Entscheidend ist“, so betont auch WERNER NACHTIGALL, „dass wir mit dem Know-how der Technik und Physik an die Natur herangehen, und die richtigen Fragen stellen.“
Und Fragen an die Natur haben im Moment Hochkonjunktur: Nicht mehr nur die klassischen Ingenieursdisziplinen wie Flugzeug- und Schiffsbau oder die Architekten suchen dort nach Anregungen und Impulsen, auch Materialwissenschaftler, Klimatechniker und Informatiker orientieren sich immer mehr an natürlichen Vorbildern. Denn die Konstruktionen der Natur sind vor allem eins: effektiv bei maximaler Energie- und Materialausnutzung. Im Zeitalter schwindender Ressourcen und drohender Klimaveränderung sind es vor allem diese Eigenschaften, die das Vorbild Natur interessanter denn je machen.
Die Bionik, auch Biomimetik (im angelsächsischen Sprachraum oft biomimetics oder biomimicry genannt), umschreibt einen Wissenschaftszweig, der sich der vergleichenden Betrachtung biologischer und technischer Systeme widmet. Die Bionik befasst sich also mit den Möglichkeiten der Anwendung von biologischen Funktionsprinzipien in der Technik. Technische Systeme können durch die Ergebnisse dieser Wissenschaft eine Erhöhung der Qualität und eine Erweiterung im Allgemeinen erfahren. Im Mittelpunkt des Interesses stehen vor allem biomechanische Probleme, sowie Prinzipien der Nachrichtenverarbeitung und -übertragung und letztendlich die Energieumwandlungsmechanismen von autotrophen Organismen.
Lebenden Systemen werden ihre eigens entwickelten Problemlösungen abgeguckt und anschließend in sich daraus ergebenden konstruierten technischen Systemen verwirklicht bzw. simuliert. Dafür gibt es eine ganze Menge an Beispielen, wie etwa die Überdachungskonstruktionen nach dem Bauprinzip von Schneckenhäusern oder den Mikrostrukturen von Kieselalgen und Radiolarien.
Die Bionik ist ein Wissenschaftszweig der Zukunft, der dem Wissenschaftler unzählige Anwendungsmöglichkeiten bietet. Forscher versuchen auf den unterschiedlichsten Segmenten die „Arbeitsweisen der Natur“ für den wirtschaftlichen Gebrauch nutzbar zu machen. Diese ausgeklügelten technischen Lösungen nach dem Vorbild der Natur sind ein vielversprechender Ansatz mit begrenzten Ressourcen sparsamer umzugehen und somit letztendlich die Umwelt zu schonen.
Die Natur hat für die unterschiedlichsten Fragestellungen aus Industrie und Technik erstaunliche Lösungen parat. Durch ihre im Laufe der Evolution entstandenen optimierten „Erfindungen“ bietet sie Konstruktionsprinzipien von sehr hoher Leistungsfähigkeit bzw. Wirksamkeit.
Aber auch unabhängig voneinander haben Natur und Ingenieure oft täuschend ähnliche Strukturen entwickelt. Diese Analogien beruhen darauf, dass, wie in der Natur selbst auch, bestimmte Probleme unter gleichen oder ähnlichen Voraussetzungen gelöst werden müssen.
In der Natur haben Jahrmillionen der Evolution dafür gesorgt, dass nur solche Konstruktionen und Methoden überlebten, die mit einem Minimum an Energie und Material auskommen. Organismen, die möglichst effektive Methoden der Nahrungsgewinnung, Fortpflanzung oder Fortbewegung entwickelten, hatten einen Vorteil gegenüber der weniger effektiv „wirtschaftenden“ Konkurrenz und setzten sich langfristig durch.
Nicht viel anders ist der Prozess in der Technik: Erfindungen und Entwicklungen werden in der Regel nur dann von der Industrie oder dem freien Markt angenommen, wenn sie mit möglichst wenig Kosten für Energie, Produktion oder Material verbunden sind. Dies führte dazu, dass Architekten und Ingenieure häufig die energie- oder materialsparenden Konstruktionsprinzipien der Natur reproduzierten, ohne sich dessen bewusst zu sein – sie erfanden das Rad neu.
Eines der bekanntesten Beispiele ist das 1972 vom Architekten FREI OTTO (*1925) erbaute Dach des Münchener Olympiastadions. Die Glas- und Stahlkonstruktion des Daches ist frei an Masten aufgehängt, die unterschiedliche Krümmung der Dachfläche verleiht ihm trotz der leicht und luftig wirkenden Form große Festigkeit. Erst später stellten die Ingenieure fest, dass die Natur bereits eine ganz ähnliche Konstruktion hervorgebracht hatte – das zwischen Gräsern aufgehängte Netz der Zitterspinnen. Wie beim Dach des Stadions müssen die dünnen Fäden des Netzes nur Zugbelastungen standhalten, die Druckbelastungen übernehmen die „Masten“ der Grashalme.
Auch bei anderen Leichtbauweisen scheinen die Architekten Anschauungsunterricht bei der Natur genommen zu haben. Viele ältere Eisenbahnbrücken, wie die Brücke über den schottischen Firth of Forth, wurden in Stahlbauweise konstruiert. Statt massiven Steins tragen hier verstrebte Eisenträger das Gewicht. Verblüffenderweise gleicht diese Art der Verstrebung dabei bis in die Details den Versteifungen im Inneren von vielen hohlen Vogelknochen, darunter vor allem den Becken der Laufvögel. Beide, Brücke und Becken sind darauf ausgerichtet, hohen Belastungen mit minimalem Materialaufwand standzuhalten – daher auch die Analogie der Form.
Solche Konvergenzen zur Natur finden sich aber nicht nur in der Architektur sondern auch in nahezu jedem Haushalt: So sind die ringförmigen Rippen des Staubsaugerschlauchs kein Zufall. Sie haben die Aufgabe, den Schlauch auch dann noch offenzuhalten, wenn in ihm ein deutlicher Unterdruck herrscht und er dazu stark gebogen wird. Ein normaler Schlauch ohne Rippen knickt in einem solchen Fall leicht ab und verschließt damit die Öffnung im Inneren. Nach dem gleichen Prinzip sind in der Natur auch die Luftröhre und die Bronchien bei Säugetieren, die Tracheen der Insekten oder die Wasserleitungsbahnen in Pflanzenstängeln stabilisiert.
Vorstellungen aus Sciencefiction-Romanen oder Filmen scheinen allmählich Wirklichkeit zu werden. So sind bestimmte Häuser bereits in der Lage, ihre Temperatur zu steuern und sich bei einem Erdbeben so zu bewegen, dass sie nicht zusammenstürzen. Ein anderes Beispiel sind Flugzeuge, die für Start und Landung selbstständig ihr Flügelprofil dicker oder dünner werden lassen und bei denen die Steuerklappen somit überflüssig geworden sind. Man könnte auch noch die Schiffe erwähnen, die anstelle der herkömmlichen Schrauben Flossen ähnliche Konstruktionen aufweisen, die einem Frachter tatsächlich ermöglichen zum Rennschiff zu werden.
Viele Wissenschaftler arbeiten voller Enthusiasmus an sogenannten „mitdenkenden“ Wertstoffen, die unter Insidern auch als „Smarties“ bezeichnet werden. So wie Tiere und Menschen in der Lage sind, äußere Reize über Nervenbahnen zum Gehirn weiterzuleiten, diese dort zu verarbeiten und dann mit Muskelbewegungen auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren, so sollen sich auch tote Wertstoffe in Zukunft verhalten können. Auch dem Immunsystem ähnliche Mechanismen sollen geschaffen werden, die bei Verletzung oder Beschädigung in der Lage sind, die Objekte zu heilen bzw. instand zu setzen. Man benötigt dafür drei unterschiedliche Materialien:
Wenn man diese Materialien mit elektronischen Steuersystemen verbindet, können sie sich ähnlich verhalten wie Lebewesen.
Die einfachste Form von sogenannten Gedächtnismetallen finden sich in automatischen Sicherungen, die Stromkreise vor Überlastung schützen. Zwei unterschiedliche Metalle, die sich verschieden stark ausdehnen, sind zu einem Bimetallstreifen verbunden. Während bei normaler Raumtemperatur der Streifen gerade ist, sodass der Strom fließen kann, kommt es bei überhöhtem Stromfluss zu einer Erhitzung und das eine Metall dehnt sich stärker aus als das andere: Der Streifen beginnt sich zu krümmen, der Strom wird unterbrochen.
Ein gerader Draht aus Nitinol (Nickel-Titanium-Legierung) wird erst erhitzt, dann zur Spirale gedreht oder sogar zu einer Büroklammer gebogen. Beim Erkalten streckt sich der Draht wieder. Wird er nun abermals erhitzt, formt er sich zu einer Klammer, die Atome erinnern sich sozusagen an die bei Wärmezufuhr „einprogrammierte Gitterstruktur“ und springen in diese zurück. Das uns allen bekannte Stahlimperium Krupp nutzte sehr schnell die „Fähigkeiten dieses Gedächtnismetalles“. Rohre wurden auf diese Art und Weise zusammengefügt und Fenster konnten mit diesem Mechanismus geöffnet und geschlossen werden. Ja, sogar neue Antriebsformen konnten durch diese Gedächtnismetalle erfunden werden. Sogar in High-Tech-Bereichen wurden Gedächtnismetalle eingesetzt:
Schon im Jahr 1880 wurde herausgefunden, dass sich die im Sand enthaltenen Quarzkristalle in kleine Kraftwerke verwandeln können, wenn sie zusammen gequetscht werden. Im Normalzustand herrscht im entsprechenden Kristallgitter des Quarzes absolute Symmetrie. Alle Bausteine befinden sich an ihrem normalen Platz. Die Ladungen verschieben sich jedoch sofort, sobald durch Druck oder Zug leichte Deformierungen stattgefunden haben. Die Oberflächen laden sich elektrisch gegensätzlich auf, eine elektrische Spannung wird erzeugt. Feuerzeuge lassen auf diese Weise ihre Funken sprühen.
Die Kristalle können aber auch eine Doppelfunktion ausüben: Ihre stromspendende Eigenschaft wird umgekehrt. Bei der Zugabe von Elektrizität kommt es zu einer Volumenänderung, diesen Effekt nutzt man bei in Schwingung gebrachten Lautsprechermembranen von Telefonhörern. Die piezoelektrischen Stoffe oder auch „Piezos“ sind also gleichzeitig Sinnesorgan und Muskel: Ein mechanischer Stoß von außen wird in einen Stromstoß umgesetzt und durch einen zugeführten Stromstoß verformen sie sich. Heute verwendet man statt der Quarze Keramiken. Während diese verwendeten Piezos ihre Form im Gegensatz zu den Gedächtnismetallen nur zu 1 % statt satter 10 % verändern können, sind sie enorm schnell: In einer 1000stel Sekunde können sie ihren Bizeps viele hundert Male anspannen, während die erwähnte Roboterhand für einen solchen Kraftakt eine ganze Sekunde benötigt.
Bei den verformbaren Gelen handelt es sich z. B. um Polymere, die aus langen Molekülketten bestehen. Forscher können diese Ketten manipulieren, die Temperatur wird geändert oder es werden elektrische oder magnetische Felder angelegt. Enthaltenes Lösungsmittel wird aufgesaugt oder die Ketten verknäulen regelrecht miteinander. Wechsel zwischen flüssig und fest sind nichts Besonderes, ein rhythmisch zuckender Muskel tanzt in elektrischen Wechselfeldern umher.
Organische Ventile oder Filter bzw. Kunstherzen werden so geschaffen, Stoßdämpfer können so funktionieren (weich auf harten Schotterpisten, hart auf einer Autobahn).
Es gibt Modellhäuser in den USA, in Japan und auch in Deutschland, bei denen Konstruktionsprinzipien der Bionik verwirklicht worden sind: Die Fenster sind aus einem Sandwich-Glas, in dessen Mitte sich Polymere befinden. Je größer die Sonnenhitze ist, die auf das Glas trifft, desto mehr verknäulen sich besagte Polymere. Sie bilden eine milchige Masse, die die Sonnenstrahlen abweist und – Hokus-Pokus – die Fenster öffnen sich von ganz allein. Wenn es draußen wieder kühler wird, werden die Glasflächen wieder durchsichtig und saugen die Sonnenwärme ins innere des Hauses. Gleichzeitig werden auch Gedächtnismetalle an den Fenstern aktiv: Sicherungsbügel strecken sich und Rückholfedern sorgen dafür, dass die Fenster wieder geschlossen werden.
Auch in den Tapeten sind liebenswerte Heinzelmännchen am Werk: Sie enthalten nämlich unzählige kleine piezoelektrische Kristalle, die das Papier an der Wand sozusagen in Lautsprecher verwandeln: Man könnte also sagen, dass die Bewohner sich beim Musik hören beinahe wie in einem Konzertsaal fühlen. Außerdem werden von außen eindringenden Schallwellen gleichstarke, aber spiegelverkehrte Schallwellen entgegengeschickt, sodass sich beide auslöschen. Wenn mein Zimmer also direkt an der Autobahn liegt, so sorgt meine „Piezo-Tapete“ trotz allem für himmlische Stille.
Auch das Skelett dieser Modellhäuser weist außerordentliche Fähigkeiten auf: Schäden reparieren sich selbst. Unser guter altbewährter Beton stand wegen seiner leichten und mühelosen Verarbeitung bei den Baufachleuten immer schon hoch im Kurs. Leider hat seine Korrosionsanfälligkeit ihn in so ein bisschen in Verruf gebracht. Wie es scheint zeichnen sich aber neue bionische Verbesserungsmöglichkeiten ab: Wenn beim Gießen des Betons feine Schlauchsysteme in das Mauerwerk eingezogen werden, die zwei unterschiedliche Wirkstoffe – Calciumnitrat und eine harzhaltige Lösung – enthalten. Die amerikanische Architektin CAROLINE DRY ist die Erfinderin dieser Maßnahme: Jetzt haben wir eine doppelte Sicherung. Wenn Streusalz in den Beton einsickert, werden die Schläuche aufgelöst, das Calciumnitrat wird freigesetzt, das als Schutzschild gegen das Salz wirkt. Kommt es zu Rissen in der Betonstruktur, brechen die Harzspeicher auf und verschließen mit dem frei werdenden Harz die „Wunde“. Auch Betonbrücken profitieren von dieser Erfindung. Die Betonkonstruktion der Brücke Schießbergstraße in Leverkusen nutzt bereits diese Technik.
Die Japaner sind wohl in der Entwicklung „intelligenter Bauwerke“ am weitesten. Sie haben bereits vor vielen Jahren mit den Bau von Häusern begonnen, deren Skelette sich strecken, biegen oder drehen können, um den häufigen Erdbeben Paroli zu bieten.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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